Auf seinen Streifzügen durch Bibliotheken und Archive, auf den Forschungsreisen nach Prag oder Israel stößt der Kafka-Biograph Reiner Stach immer wieder auf unglaubliche Funde: Handschriftliche Ungereimtheiten, unerwartete Fotografien, Briefausschnitte und Zeugnisse von Zeitgenossen, die ein überraschendes Licht auf die Persönlichkeit und das Schreiben Franz Kafkas werfen. Für den Band 'Ist das Kafka?' hat Reiner Stach die 99 aufregendsten Fundstücke zusammengetragen und kenntnisreich kommentiert. Durch die zahlreichen bisher unbekannten Abbildungen ist dieser Band ein einzigartiges literarisches Vergnügen und zweifellos eine Sensation.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2014Genie in Frühpension
2010 Seiten für 40 Jahre und elf Monate Lebenszeit: Mit dem Band „Die frühen Jahre“
schließt Reiner Stach seine große dreibändige Kafka-Biografie ab
VON STEFFEN MARTUS
Achtzehn Jahre Entstehungszeit; drei Bände; 2010 Seiten. Am Ende wäre beinahe das Geld ausgegangen. Die Stiftung, die über Jahre hinweg das Unternehmen gefördert hatte, drehte den Geldhahn zu. Ein Mäzen sprang ein. Und das alles für die Biografie eines Versicherungsbeamten, der es auf vierzig Jahre und elf Monate Lebenszeit und dreihundertfünfzig autorisierte Druckseiten gebracht hat. Das restliche Werk besteht aus Fragmenten, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, die der Autor gern verbrannt wissen wollte: „Lieber Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlaß (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen . . . Dein Franz Kafka“.
Als Reiner Stach 2002 den ersten Band seiner biografischen Trilogie vorlegte, überraschte er, indem er mit Lebensmitte begann. Von dort schritt er im nächsten Band bis zum Tod Kafkas voran und kehrte erst jetzt im Schlussteil an den Anfang zurück. Ebenso erstaunlich fiel die einleitende Bilanz aus: Kafka war kein großer Reisender (nur fünfundvierzig Tage verbrachte er im Ausland); er scheiterte als Liebender vor sich hin und nutzte pragmatisch die Chancen für Affären und die Dienste von Prostituierten; als Autor neigte er zur Selbstquälerei, zu Einfällen und Ansätzen, die ein literarisches „Trümmerfeld“ hinterlassen haben. Eine seltsam banausische Seite kündigte sich schon in den frühen Jahren an. Mit einer gewissen Vorliebe für Trivial- und Unterhaltungskunst sortierte Kafka aus dem breiten Angebot der Moderne und Avantgarde nur einen kleinen Teil für sich aus.
Er war kein Museumsgänger, kein Opern- oder Konzertbesucher. Seine Theaterinteressen wirken wahllos. Mit Lyrik konnte er wenig anfangen. Wirklich erfolgreich war er seltsamerweise im Beruf, den er nicht mochte: Er ging mit neununddreißig Jahren immerhin als stellvertretender Abteilungsleiter in die Frühpension, um dort schnell und qualvoll an Kehlkopftuberkulose zu sterben.
Eine „karge Lebensbilanz“ war das, ein „tiefes Minus“. Aber dann diese unerklärlichen Texte, für die Kafka selbst das treffendste Bild gefunden hat: Sätze, Bilder, Szenen, die den Leser wie ein „Faustschlag auf den Schädel“ treffen – oder besser: sich dem Leser in den Kopf hauen und dort für immer bleiben: die unerklärliche Inhaftierung als Beginn eines langen Prozesses; die Ankunft im tiefen Schnee auf dem Weg zu einem Schloss; die Unterhaltung mit einem Türhüter; die rätselhafte Folter in einer Strafkolonie; und natürlich die Sache mit dem Käfer.
Diese Szenen haben sich weltweit ins kulturelle Gedächtnis gebrannt. Sie sind andeutungsfähig und multimedial aufbereitet. Wie aber löst man als Biograf dieses Missverhältnis von zaudernder Lebensführung und poetischer Einfallsgenialität? Und wie erzählt man überhaupt das Leben eines Menschen, dessen Biografie sich nicht Phase für Phase in „Waben“ auf- und wiederzuschließen lässt, weil hier einer mit nichts fertig wird, mit einer fast schon verrückten Hartnäckigkeit um einige wenige „Brennpunkte“ kreist und ein dichtes Beziehungsnetz knotet?
Stach setzt in diesem Abschlussband direkt am Geburtstag Kafkas, dem 3. Juli 1883 ein. Das Wetter war gut. Im Theater laufen Victorien Sardous Melodram „Fedora“ und Nestroys „Einen Jux will er sich machen“. Die „fesche Wienerin“ Mirzl Lehner präsentiert ihr „amusantes und äußerst anständiges Programm“ in „Wanda’s Singspiel-Halle“. Die Tageszeitungen berichten am nächsten Tag nur von einem Unglück: Ein Junge fällt in die Moldau und wird gerettet.
Die Presse reagierte langsam auf die Zeitenwende, die tatsächlich geschah. Denn an diesem Tag fanden Wahlen zum böhmischen Landtag statt, zu denen per kaiserlichem Dekret mehr Wähler als zuvor zugelassen wurden. Erstmals gab es eine tschechische Mehrheit, und die Neue Freie Presse in Wien fragte sich, ob „auch Prag rettungslos untergeht in der slavischen Fluth“. Wie kann der „slavischen Gegen-Reformation“ ein Ende gemacht und Prag wieder zu einem „Mittelpunkt menschlicher, deutscher Cultur“ gemacht werden? Der Knabe, der an diesem Tag den Kafkas geboren wird, erhält den Namen des Kaisers Franz Joseph I.
Stach legt am „Beginn der Vorstellung“ die politischen und gesellschaftlichen Spannungen im Kaiserreich offen. Er greift nach der Eröffnungsszene bis zum Prager Fenstersturz des Jahres 1618 zurück und fahndet von dort aus nach den Vorfahren der Kafkas. Die Familiengeschichte erwächst also gleichsam aus den Untiefen und aus der Zukunftsunsicherheit der Habsburgermonarchie, aus den ethnischen Konflikten und der Geschichte der Juden, die darin eingelassen ist.
Mit dieser Dramaturgie meldet Stach einen wohltuenden Vorbehalt an gegen die Zudringlichkeit von Psychologie und Psychoanalyse, mit denen der Weg zu Kafka gern allzu direkt gebahnt wird. Kafka selbst hat sich damit befasst. „Gedanken an Freud natürlich“, notierte er bei der Lektüre seiner eigenen Erzählung „Das Urteil“. Wie alle Zeitgenossen war er der „psychoanalytischen Invasion“ ausgesetzt. Aber müssen die Verhältnisse so einseitig sein? Ein derartig „traumatisches“ Werk bietet mit seiner eigentümlich „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ einen guten Anlass, um die Psychoanalyse als Deutungsschlüssel aufzugeben und sie historisierend dem Gegenstandsbereich der Kafka-Forschung einzusortieren.
Identitätsprobleme und Desorientierungen erscheinen bei Stach zunächst einmal als historisch typische Pathologien, nicht so sehr als individuelle. Die Machtspiele, für die Kafka eine so ungeheure Sensibilität entwickelte und die er gern auch übersteigerte, resultierten weniger aus einer anthropologisch verankerten Vater-Sohn-Konstellation als aus einer Gesellschaft, die ihre Positionen so ostentativ zur Schau stellte, weil ihre Strukturen unterm historischen Ballast einerseits und dem Ansturm der Moderne andererseits zerbröselten.
Und die Familienverhältnisse – die Abwesenheit der Mutter etwa oder die angespannte Härte des Vaters – ergaben sich aus den Arbeitsbedingungen einer Aufsteigerfamilie. Von dort aus schlägt Stach die erste Schneise ins Werk Kafkas: Die „eisigen sozialen Milieus“ der kafkaesken Romanwelten korrelierten der Generationenerfahrung von „Kindern erfolgreicher Geschäftemacher“, die ihr Leben dem „ökonomischen Kriegsrecht“ unterstellten.
Die Stärken seiner Kafka-Biografie liegen in solchen Momenten, in denen Stach – nicht zuletzt auf der Grundlage ausufernder Lektüre zeitgenössischer Zeitungen – in dichten Beschreibungen eine historische Konstellation oder eine geschichtliche Stimmung evoziert und von dort aus die richtigen Fragen aufwirft: Was bedeutet es, wenn Kafkas Generation die erste unter Bedingungen von Medientechniken ist, die ein „nahezu beliebig wiederholbares und damit völlig entkörperlichtes Dabeisein“ ermöglichen? Welche Tiefenwirkung entfaltet ein humanistisches Gymnasium, dessen Prüfer den Schülern den Eindruck vermitteln, dem Bildungsgut nie gerecht werden zu können, wie sehr auch immer man sich bemüht? Oder welcher Gefahrensinn prägt die literarischen Werke eines Versicherungsfachmanns, der sich in seinen amtlichen Stellungnahmen als „Meister der Defensive und der Rechtfertigung“ erweist?
In der Darstellung der „frühen Jahren“ tauchen viele der Motive auf, die – im Rückblick betrachtet – für Kafka zentral sein werden: ein Käfer, ein unsichtbares Gericht, eine übermächtige Vaterfigur. „Nichtsahnend“ geht Kafka an diesen Bildern vorüber. Diesen „Schwebezustand“ hält Stach meisterhaft fest.
An „Emphatie“, Reiner Stachs Antwort auf die Herausforderungen einer Kafka-Biografie, mangelt es nicht. Er setzt sie meist wohl dosiert und in einer feinen Variante ein. Der letzte Band seiner Trilogie, der mit den wenigsten Kafka-Quellen auskommen muss, hält das Niveau der Serie konsequent. Dass ein Werk über Kafka im Verhältnis zu seinem Objekt literarisch nur scheitern kann, weiß keiner besser als Stach selbst. „Kafka schläft niemals“, bemerkte er in der „Einführung“ zu den „Jahren der Entscheidung“, „übersieht nichts, vergisst nichts“.
Diesen Zustand mag ein Biograf, der sich die Tugend des „langen Blicks“ zu eigen macht, vielleicht noch anstreben. Aber Kafka „unterlaufen“ auch keine „Phrasen, keine semantischen Unreinheiten, keine schwachen Metaphern“ – so kafkaesk zu sein, das wäre von einem, der über Kafka schreibt, zu viel verlangt, wenn man nicht auf hohem Niveau enttäuscht werden will. Reiner Stach hat mit diesem Band eine große Biografie zu Ende geschrieben, mit glänzenden Passagen, außerordentlich lesenswert, geschichtsmächtig, klug konzipiert und sorgfältig ausgeführt. Für die Axt, die das „gefrorne Meer in uns“ aufschlägt, bleibt Kafka zuständig.
Der Sohn, der den Kafkas
1883 geboren wurde,
erhielt den Namen des Kaisers
Welcher Gefahrensinn prägt
die literarischen Werke
eines Versicherungsfachmanns?
Der kleine Fisch auf dem Rücken des Zitronenhais ist ein Schiffshalter. Ein Fisch, der sich mit einer Saugplatte an seinen Wirt heftet, an dessen Mahlzeiten teilnimmt, ihn aber auch von Parasiten befreit: eine perfekte Symbiose.
Reiner Stach:
Kafka. Die frühen Jahre.
S. Fischer Verlag.
Frankfurt am Main 2014. 608 Seiten, 34 Euro.
E-Book 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
2010 Seiten für 40 Jahre und elf Monate Lebenszeit: Mit dem Band „Die frühen Jahre“
schließt Reiner Stach seine große dreibändige Kafka-Biografie ab
VON STEFFEN MARTUS
Achtzehn Jahre Entstehungszeit; drei Bände; 2010 Seiten. Am Ende wäre beinahe das Geld ausgegangen. Die Stiftung, die über Jahre hinweg das Unternehmen gefördert hatte, drehte den Geldhahn zu. Ein Mäzen sprang ein. Und das alles für die Biografie eines Versicherungsbeamten, der es auf vierzig Jahre und elf Monate Lebenszeit und dreihundertfünfzig autorisierte Druckseiten gebracht hat. Das restliche Werk besteht aus Fragmenten, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, die der Autor gern verbrannt wissen wollte: „Lieber Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlaß (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen . . . Dein Franz Kafka“.
Als Reiner Stach 2002 den ersten Band seiner biografischen Trilogie vorlegte, überraschte er, indem er mit Lebensmitte begann. Von dort schritt er im nächsten Band bis zum Tod Kafkas voran und kehrte erst jetzt im Schlussteil an den Anfang zurück. Ebenso erstaunlich fiel die einleitende Bilanz aus: Kafka war kein großer Reisender (nur fünfundvierzig Tage verbrachte er im Ausland); er scheiterte als Liebender vor sich hin und nutzte pragmatisch die Chancen für Affären und die Dienste von Prostituierten; als Autor neigte er zur Selbstquälerei, zu Einfällen und Ansätzen, die ein literarisches „Trümmerfeld“ hinterlassen haben. Eine seltsam banausische Seite kündigte sich schon in den frühen Jahren an. Mit einer gewissen Vorliebe für Trivial- und Unterhaltungskunst sortierte Kafka aus dem breiten Angebot der Moderne und Avantgarde nur einen kleinen Teil für sich aus.
Er war kein Museumsgänger, kein Opern- oder Konzertbesucher. Seine Theaterinteressen wirken wahllos. Mit Lyrik konnte er wenig anfangen. Wirklich erfolgreich war er seltsamerweise im Beruf, den er nicht mochte: Er ging mit neununddreißig Jahren immerhin als stellvertretender Abteilungsleiter in die Frühpension, um dort schnell und qualvoll an Kehlkopftuberkulose zu sterben.
Eine „karge Lebensbilanz“ war das, ein „tiefes Minus“. Aber dann diese unerklärlichen Texte, für die Kafka selbst das treffendste Bild gefunden hat: Sätze, Bilder, Szenen, die den Leser wie ein „Faustschlag auf den Schädel“ treffen – oder besser: sich dem Leser in den Kopf hauen und dort für immer bleiben: die unerklärliche Inhaftierung als Beginn eines langen Prozesses; die Ankunft im tiefen Schnee auf dem Weg zu einem Schloss; die Unterhaltung mit einem Türhüter; die rätselhafte Folter in einer Strafkolonie; und natürlich die Sache mit dem Käfer.
Diese Szenen haben sich weltweit ins kulturelle Gedächtnis gebrannt. Sie sind andeutungsfähig und multimedial aufbereitet. Wie aber löst man als Biograf dieses Missverhältnis von zaudernder Lebensführung und poetischer Einfallsgenialität? Und wie erzählt man überhaupt das Leben eines Menschen, dessen Biografie sich nicht Phase für Phase in „Waben“ auf- und wiederzuschließen lässt, weil hier einer mit nichts fertig wird, mit einer fast schon verrückten Hartnäckigkeit um einige wenige „Brennpunkte“ kreist und ein dichtes Beziehungsnetz knotet?
Stach setzt in diesem Abschlussband direkt am Geburtstag Kafkas, dem 3. Juli 1883 ein. Das Wetter war gut. Im Theater laufen Victorien Sardous Melodram „Fedora“ und Nestroys „Einen Jux will er sich machen“. Die „fesche Wienerin“ Mirzl Lehner präsentiert ihr „amusantes und äußerst anständiges Programm“ in „Wanda’s Singspiel-Halle“. Die Tageszeitungen berichten am nächsten Tag nur von einem Unglück: Ein Junge fällt in die Moldau und wird gerettet.
Die Presse reagierte langsam auf die Zeitenwende, die tatsächlich geschah. Denn an diesem Tag fanden Wahlen zum böhmischen Landtag statt, zu denen per kaiserlichem Dekret mehr Wähler als zuvor zugelassen wurden. Erstmals gab es eine tschechische Mehrheit, und die Neue Freie Presse in Wien fragte sich, ob „auch Prag rettungslos untergeht in der slavischen Fluth“. Wie kann der „slavischen Gegen-Reformation“ ein Ende gemacht und Prag wieder zu einem „Mittelpunkt menschlicher, deutscher Cultur“ gemacht werden? Der Knabe, der an diesem Tag den Kafkas geboren wird, erhält den Namen des Kaisers Franz Joseph I.
Stach legt am „Beginn der Vorstellung“ die politischen und gesellschaftlichen Spannungen im Kaiserreich offen. Er greift nach der Eröffnungsszene bis zum Prager Fenstersturz des Jahres 1618 zurück und fahndet von dort aus nach den Vorfahren der Kafkas. Die Familiengeschichte erwächst also gleichsam aus den Untiefen und aus der Zukunftsunsicherheit der Habsburgermonarchie, aus den ethnischen Konflikten und der Geschichte der Juden, die darin eingelassen ist.
Mit dieser Dramaturgie meldet Stach einen wohltuenden Vorbehalt an gegen die Zudringlichkeit von Psychologie und Psychoanalyse, mit denen der Weg zu Kafka gern allzu direkt gebahnt wird. Kafka selbst hat sich damit befasst. „Gedanken an Freud natürlich“, notierte er bei der Lektüre seiner eigenen Erzählung „Das Urteil“. Wie alle Zeitgenossen war er der „psychoanalytischen Invasion“ ausgesetzt. Aber müssen die Verhältnisse so einseitig sein? Ein derartig „traumatisches“ Werk bietet mit seiner eigentümlich „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ einen guten Anlass, um die Psychoanalyse als Deutungsschlüssel aufzugeben und sie historisierend dem Gegenstandsbereich der Kafka-Forschung einzusortieren.
Identitätsprobleme und Desorientierungen erscheinen bei Stach zunächst einmal als historisch typische Pathologien, nicht so sehr als individuelle. Die Machtspiele, für die Kafka eine so ungeheure Sensibilität entwickelte und die er gern auch übersteigerte, resultierten weniger aus einer anthropologisch verankerten Vater-Sohn-Konstellation als aus einer Gesellschaft, die ihre Positionen so ostentativ zur Schau stellte, weil ihre Strukturen unterm historischen Ballast einerseits und dem Ansturm der Moderne andererseits zerbröselten.
Und die Familienverhältnisse – die Abwesenheit der Mutter etwa oder die angespannte Härte des Vaters – ergaben sich aus den Arbeitsbedingungen einer Aufsteigerfamilie. Von dort aus schlägt Stach die erste Schneise ins Werk Kafkas: Die „eisigen sozialen Milieus“ der kafkaesken Romanwelten korrelierten der Generationenerfahrung von „Kindern erfolgreicher Geschäftemacher“, die ihr Leben dem „ökonomischen Kriegsrecht“ unterstellten.
Die Stärken seiner Kafka-Biografie liegen in solchen Momenten, in denen Stach – nicht zuletzt auf der Grundlage ausufernder Lektüre zeitgenössischer Zeitungen – in dichten Beschreibungen eine historische Konstellation oder eine geschichtliche Stimmung evoziert und von dort aus die richtigen Fragen aufwirft: Was bedeutet es, wenn Kafkas Generation die erste unter Bedingungen von Medientechniken ist, die ein „nahezu beliebig wiederholbares und damit völlig entkörperlichtes Dabeisein“ ermöglichen? Welche Tiefenwirkung entfaltet ein humanistisches Gymnasium, dessen Prüfer den Schülern den Eindruck vermitteln, dem Bildungsgut nie gerecht werden zu können, wie sehr auch immer man sich bemüht? Oder welcher Gefahrensinn prägt die literarischen Werke eines Versicherungsfachmanns, der sich in seinen amtlichen Stellungnahmen als „Meister der Defensive und der Rechtfertigung“ erweist?
In der Darstellung der „frühen Jahren“ tauchen viele der Motive auf, die – im Rückblick betrachtet – für Kafka zentral sein werden: ein Käfer, ein unsichtbares Gericht, eine übermächtige Vaterfigur. „Nichtsahnend“ geht Kafka an diesen Bildern vorüber. Diesen „Schwebezustand“ hält Stach meisterhaft fest.
An „Emphatie“, Reiner Stachs Antwort auf die Herausforderungen einer Kafka-Biografie, mangelt es nicht. Er setzt sie meist wohl dosiert und in einer feinen Variante ein. Der letzte Band seiner Trilogie, der mit den wenigsten Kafka-Quellen auskommen muss, hält das Niveau der Serie konsequent. Dass ein Werk über Kafka im Verhältnis zu seinem Objekt literarisch nur scheitern kann, weiß keiner besser als Stach selbst. „Kafka schläft niemals“, bemerkte er in der „Einführung“ zu den „Jahren der Entscheidung“, „übersieht nichts, vergisst nichts“.
Diesen Zustand mag ein Biograf, der sich die Tugend des „langen Blicks“ zu eigen macht, vielleicht noch anstreben. Aber Kafka „unterlaufen“ auch keine „Phrasen, keine semantischen Unreinheiten, keine schwachen Metaphern“ – so kafkaesk zu sein, das wäre von einem, der über Kafka schreibt, zu viel verlangt, wenn man nicht auf hohem Niveau enttäuscht werden will. Reiner Stach hat mit diesem Band eine große Biografie zu Ende geschrieben, mit glänzenden Passagen, außerordentlich lesenswert, geschichtsmächtig, klug konzipiert und sorgfältig ausgeführt. Für die Axt, die das „gefrorne Meer in uns“ aufschlägt, bleibt Kafka zuständig.
Der Sohn, der den Kafkas
1883 geboren wurde,
erhielt den Namen des Kaisers
Welcher Gefahrensinn prägt
die literarischen Werke
eines Versicherungsfachmanns?
Der kleine Fisch auf dem Rücken des Zitronenhais ist ein Schiffshalter. Ein Fisch, der sich mit einer Saugplatte an seinen Wirt heftet, an dessen Mahlzeiten teilnimmt, ihn aber auch von Parasiten befreit: eine perfekte Symbiose.
Reiner Stach:
Kafka. Die frühen Jahre.
S. Fischer Verlag.
Frankfurt am Main 2014. 608 Seiten, 34 Euro.
E-Book 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.2014Das Leben des Buchs beginnt mit dem Tod des Autors
Dieses ist der dritte Streich: Reiner Stach schließt nach achtzehnjähriger Arbeit seine große Kafka-Biographie ab. Entstanden ist ein Werk, das auf ein seltenes Prinzip setzt: die zärtliche Langsamkeit.
Forschungsprozesse verlaufen in der Regel unabhängig von Darstellungszusammenhängen. Sie gehen ihnen voraus, und die sprachliche Ausbreitung des Stoffes erfolgt in größerer konstruktiver Freiheit, nachdem man sich mit den Phänomenen, Zeugnissen, Dokumenten vertraut gemacht hat. Aber es gibt Ausnahmen. Der dritte Band von Reiner Stachs Kafka-Biographie ist eine.
Warum der chronologisch erste Band der Biographie - er beschreibt die Jahre von 1883 bis 1911 - zuletzt erscheint, hat verständliche forschungslogische Gründe. Stach hoffte lange Zeit, er könnte für die Frühzeit Gebrauch von Max Brods Tagebüchern und Notizen machen, die ihm zu Beginn seiner Arbeit noch nicht zugänglich waren. Der bis heute anhaltende Streit um das Brodsche Erbe machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Dokumente liegen nach wie vor mehr oder weniger unzugänglich in einem Zürcher Banksafe, und obschon Stach bei einigen Details auf Fotokopien zurückgreifen konnte, ist der abschließende Band jetzt - man muss sagen: endlich - publiziert worden. Ihn noch weiter hinauszuschieben wäre bei der Unsicherheit, die das Schicksal des Brodschen Nachlasses überschattet, nicht mehr begründbar gewesen.
Man kann zudem Zweifel haben, ob die in Zürich verwahrten Materialien für die Biographie Kafkas wirklich so eine große Bedeutung haben wie vermutet. Die wenigen Belege in den Fußnoten, wo Stach auf Brods Notate zurückgreifen konnte, lassen einen da skeptisch werden. Dennoch war es im Sinne der Forschungslogik richtig, so lange wie möglich mit der Publikation zu warten, um sich nicht die Chance entgehen zu lassen, neue Dokumente einzuarbeiten.
Den chronologisch ersten Band einer biographischen Trilogie zuletzt erscheinen zu lassen bringt Konstruktionsprobleme mit sich. Das größte besteht darin, dass durch den immanenten Gang der Forschung sich die Prämissen, unter denen eine Darstellung antritt, ändern können. Bedenkt man, dass der erste Teil der Trilogie 2002, der zweite 2008 herauskam und Stach im Fortgang seines Schreibens mehr und mehr über Kafka lernte, hätte es sein können, dass auch die Sicht auf die Anfänge (etwa aufs Verhältnis Kafkas zu Vater und Mutter) dem erworbenen Kenntnisstand hätte angepasst werden müssen. Es ist das Kunststück, den ersten und zweiten Stock eines Hauses bereits gebaut zu haben und nun erst das Fundament zu legen. Stach ist es gelungen. Das heißt aber auch: Die Grundeinsichten, die er zu Beginn seiner Arbeit auf den jungen Kafka hatte, haben sich für ihn als so erstaunlich konstant erwiesen, dass der neue Band seiner Biographie nicht zugleich eine Revision der früheren Bände erforderlich machte.
Dem zweiten spezifischen Konstruktionsproblem war schwerer zu begegnen. Bei der Einteilung des Gesamtwerks war eine gleichmäßige Anordnung der Teile anzustreben. Da bei der Anlage des Ganzen damit gerechnet wurde, die Brodschen Nachlassmaterialien einbeziehen zu können, fehlt in dem neuen Band virtuell Stoff. Stach hat auf dieses Problem dadurch reagiert, dass er teilweise über den zu behandelnden Zeitraum hinausgreift und zugleich den historischen Kontexten mehr Platz einräumt, als es bei einem möglichen Rückgriff auf die Brodschen Dokumente der Fall gewesen wäre. Das erklärt etwa, warum sich in diesem Band auch ein Abschnitt zu Freud findet, der sachlich und zeitlich nicht recht hineinpasst. Der häufige Rückgriff auf die Selbstinterpretation Kafkas, die dieser im "Brief an den Vater" gab, deckt an vielen Stellen unser Unwissen über die frühe Zeit gnädig zu. Gleichwohl hat Stach seine Aufgabe geschickt gelöst und aus der Not das Beste gemacht. Es wirkt in diesem Buch durchaus eine "zärtliche Langsamkeit".
Das Werk ist eine imponierende Synthese des Forschungsstands auf dem Gebiet der Kafka-Biographik. Gerade zu Kafkas Anfängen lagen beeindruckende Studien vor, auf die Stach zurückgreifen konnte. Klaus Wagenbachs lange Zeit maßgebliche Biographie von Kafkas Frühzeit etwa, die materialreichen Studien Hartmut Binders, die Arbeiten von Hanns Zischler und Peter-André Alt zum Kino, das Buch von Peter Demetz zur Flugschau von Brescia, Benno Wagners Darstellung von Kafkas beruflicher Tätigkeit, all das ist hier in eine kohärente Zusammenfassung eingegangen, die genaues Quellenstudium und Kenntnis der Forschungsansätze verrät - mit ein paar Ausnahmen. Die Forschungen Ritchie Robertsons, John Zilcoskys und Stanley Corngolds werden nicht erwähnt.
Stachs Meisterschaft als Biograph zeigt sich vor allem an seiner Sprache. Es ist kein Leichtes, in einer Darstellung längere Zitate aus Kafkas schlackenloser Prosa der eigenen Schreibart begegnen zu lassen. In vielen Arbeiten klafft an solchen Nähten ein sprachlicher Abgrund. Nicht so bei Stach. Seine umsichtige Diktion, die nie aufdringlich pädagogisch oder besserwisserisch daherkommt, ist dem Gegenstand durchwegs angemessen. Akkomodationen an gängige Phrasen ("Fokus", "verorten", "vernetzt", "andocken", "wissen um") kommen nur äußerst selten vor, und die Gewandtheit, mit der Stach die Feder führt, erschließt dem Leser auch komplizierte Zusammenhänge scheinbar mühelos.
Bei der Menge der en detail behandelten Themen bleibt es nicht aus, dass man in manchem anderer Meinung sein kann als der Biograph. Der "Brief an den Vater" enthält gleich eingangs jenen berühmten Bericht "aus den ersten Jahren" (Kafka), der Vater habe seinen in der Nacht quengelnden Sohn aus dem Bett getragen, auf die Pawlatsche (so nennt man den Innenhofbalkon, der sich an vielen Prager Häusern findet) gestellt und ihn "allein ein Weilchen im Hemd ... vor der geschlossenen Tür" stehen gelassen. Das von vielen (bis hin zu Paul Celan) als Schlüsselerlebnis erkannte Ereignis deutet Stach als Ursprung eines lebenslangen Verlassenheitssyndroms. Kafkas eigene Deutung legt aber vielmehr nahe, dass neben der Erfahrung des Ausgesetztseins im Draußen (es ist freilich ein Innenhof!) vor allem anderen die der eigenen Nichtigkeit im Kontrast zur übermächtigen Gestalt des Vaters ("die letzte Instanz") das Entscheidende an jener Nacht gewesen ist. Der Vater war in ihr nur zu präsent, Verlassenwerden ist etwas ganz anderes.
Auch das Porträt Max Brods ist in Stachs Darstellung etwas verzerrt. Das Kapitel, das sich Kafkas Verhältnis zu seinem späteren Impresario widmet, leidet darunter, dass es unglücklich aufgebaut ist. Nachdem Stach eingangs die eher problematischen Züge des Freundes herausarbeitet (und den Leser damit unterschwellig gegen Brod einnimmt), kommt er gegen Ende auf die frühe Leidensgeschichte Brods zu sprechen (Brod litt an Kyphose, einer Rückgratverkrümmung), die viele Züge an Brods Verhalten in einem anderen Lichte erscheinen lässt. Mit Blick hierauf wäre von Anfang an ein etwas ausbalancierteres Urteil am Platz gewesen. Nicht nur verdanken wir Brods Nachlassrettung das schlechthin zentrale Geschenk, überhaupt sinnvoll vom Kafkaschen Werk sprechen zu können. Die biographischen Aufzeichnungen Brods füllen außerdem sehr viele Lücken in Kafkas Biographie, die durch Kafkas eigene Notizen und andere Dokumente nicht geschlossen werden könnten. Wäre das nicht von Stach selbst stillschweigend zugestanden, der vorliegende Band hätte nicht zuletzt erscheinen müssen.
Eigentliche Fehler weist Stachs stupende Biographie wenig auf. Der Halleysche Komet (der Termin seiner Wiederkehr ist im ersten Oxforder Quartheft als "Kometennacht" vermerkt) zog nicht in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1911 am Prager Himmel vorüber, sondern in der darauf. Kafka hatte das Datum erst später bei einer Durchsicht seiner Aufzeichnungen notiert und sich dabei um einen Tag vertan.
Stachs Ansicht, die "Beschreibung eines Kampfes" sei ein Missgriff gewesen und Kafkas eigentliche schriftstellerische Leistung setze erst danach ein, ist idiosynkratisch. Der Entwurf zu diesem Langtext ist zwar ebenso Fragment geblieben wie die späteren Romanentwürfe von "Der Verschollene", "Der Process" und "Das Schloss", das heißt aber hier wie dort nicht, dass man von Misslingen sprechen muss. Wie bei den späteren Texten hat Kafka auch hier - und zwar in bedeutendem Ausmaß - kleinere Erzähleinheiten aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst und noch Jahre später unter dem Titel "Betrachtung" als Buch publiziert, darunter "Kinder auf der Landstrasse", "Der Ausflug ins Gebirge", "Kleider" und "Die Bäume". Das sind nicht die schlechtesten Texte Kafkas, und in vielem entwickeln sie bereits jene Poetik instabiler Erzählperspektive, die sich dann in den Texten der mittleren und späten Zeit voll entfalten wird.
Positiv ist vor allem anderen Stachs widerständiges Insistieren darauf hervorzuheben, dass man aus der historischen Person Franz Kafka nichts für die Deutung einzelner Werke ableiten kann. Das ist wohltuend gegenüber Studien, die an dieser Stelle den Kurzschluss üben. Gerade für einen biographisch arbeitenden Wissenschaftler liegt hier die dauerhafteste Verlockung. Stach ist ihr nicht erlegen, und in dieser Haltung ist er Kafkas eigenen Gedanken am nächsten gekommen.
"Die Teorie, dass lebende Schriftsteller mit ihren Büchern einen lebendigen Zusammenhang haben", hielt Kafka, wie er in einem späten Brief an Milena Jesenská bekennt, für irreführend. "Das wirkliche selbstständige Leben des Buches beginnt erst mit dem Tod des Mannes oder richtiger eine Zeitlang nach dem Tode, denn diese eifrigen Männer kämpfen noch ein Weilchen über ihren Tod hinaus für ihr Buch."
Leben und Werk so diskret zu trennen, wie Reiner Stach das gelungen ist, ist das Gegenteil einer Biographik als Verzweiflung vor der Schrift. Die weise Beschränkung lässt der Schrift ihre Eigenständigkeit - und wird Kafkas Werk darin wahrhaft gerecht.
ROLAND REUSS
Reiner Stach: "Kafka". Die frühen Jahre.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 608 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses ist der dritte Streich: Reiner Stach schließt nach achtzehnjähriger Arbeit seine große Kafka-Biographie ab. Entstanden ist ein Werk, das auf ein seltenes Prinzip setzt: die zärtliche Langsamkeit.
Forschungsprozesse verlaufen in der Regel unabhängig von Darstellungszusammenhängen. Sie gehen ihnen voraus, und die sprachliche Ausbreitung des Stoffes erfolgt in größerer konstruktiver Freiheit, nachdem man sich mit den Phänomenen, Zeugnissen, Dokumenten vertraut gemacht hat. Aber es gibt Ausnahmen. Der dritte Band von Reiner Stachs Kafka-Biographie ist eine.
Warum der chronologisch erste Band der Biographie - er beschreibt die Jahre von 1883 bis 1911 - zuletzt erscheint, hat verständliche forschungslogische Gründe. Stach hoffte lange Zeit, er könnte für die Frühzeit Gebrauch von Max Brods Tagebüchern und Notizen machen, die ihm zu Beginn seiner Arbeit noch nicht zugänglich waren. Der bis heute anhaltende Streit um das Brodsche Erbe machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Die Dokumente liegen nach wie vor mehr oder weniger unzugänglich in einem Zürcher Banksafe, und obschon Stach bei einigen Details auf Fotokopien zurückgreifen konnte, ist der abschließende Band jetzt - man muss sagen: endlich - publiziert worden. Ihn noch weiter hinauszuschieben wäre bei der Unsicherheit, die das Schicksal des Brodschen Nachlasses überschattet, nicht mehr begründbar gewesen.
Man kann zudem Zweifel haben, ob die in Zürich verwahrten Materialien für die Biographie Kafkas wirklich so eine große Bedeutung haben wie vermutet. Die wenigen Belege in den Fußnoten, wo Stach auf Brods Notate zurückgreifen konnte, lassen einen da skeptisch werden. Dennoch war es im Sinne der Forschungslogik richtig, so lange wie möglich mit der Publikation zu warten, um sich nicht die Chance entgehen zu lassen, neue Dokumente einzuarbeiten.
Den chronologisch ersten Band einer biographischen Trilogie zuletzt erscheinen zu lassen bringt Konstruktionsprobleme mit sich. Das größte besteht darin, dass durch den immanenten Gang der Forschung sich die Prämissen, unter denen eine Darstellung antritt, ändern können. Bedenkt man, dass der erste Teil der Trilogie 2002, der zweite 2008 herauskam und Stach im Fortgang seines Schreibens mehr und mehr über Kafka lernte, hätte es sein können, dass auch die Sicht auf die Anfänge (etwa aufs Verhältnis Kafkas zu Vater und Mutter) dem erworbenen Kenntnisstand hätte angepasst werden müssen. Es ist das Kunststück, den ersten und zweiten Stock eines Hauses bereits gebaut zu haben und nun erst das Fundament zu legen. Stach ist es gelungen. Das heißt aber auch: Die Grundeinsichten, die er zu Beginn seiner Arbeit auf den jungen Kafka hatte, haben sich für ihn als so erstaunlich konstant erwiesen, dass der neue Band seiner Biographie nicht zugleich eine Revision der früheren Bände erforderlich machte.
Dem zweiten spezifischen Konstruktionsproblem war schwerer zu begegnen. Bei der Einteilung des Gesamtwerks war eine gleichmäßige Anordnung der Teile anzustreben. Da bei der Anlage des Ganzen damit gerechnet wurde, die Brodschen Nachlassmaterialien einbeziehen zu können, fehlt in dem neuen Band virtuell Stoff. Stach hat auf dieses Problem dadurch reagiert, dass er teilweise über den zu behandelnden Zeitraum hinausgreift und zugleich den historischen Kontexten mehr Platz einräumt, als es bei einem möglichen Rückgriff auf die Brodschen Dokumente der Fall gewesen wäre. Das erklärt etwa, warum sich in diesem Band auch ein Abschnitt zu Freud findet, der sachlich und zeitlich nicht recht hineinpasst. Der häufige Rückgriff auf die Selbstinterpretation Kafkas, die dieser im "Brief an den Vater" gab, deckt an vielen Stellen unser Unwissen über die frühe Zeit gnädig zu. Gleichwohl hat Stach seine Aufgabe geschickt gelöst und aus der Not das Beste gemacht. Es wirkt in diesem Buch durchaus eine "zärtliche Langsamkeit".
Das Werk ist eine imponierende Synthese des Forschungsstands auf dem Gebiet der Kafka-Biographik. Gerade zu Kafkas Anfängen lagen beeindruckende Studien vor, auf die Stach zurückgreifen konnte. Klaus Wagenbachs lange Zeit maßgebliche Biographie von Kafkas Frühzeit etwa, die materialreichen Studien Hartmut Binders, die Arbeiten von Hanns Zischler und Peter-André Alt zum Kino, das Buch von Peter Demetz zur Flugschau von Brescia, Benno Wagners Darstellung von Kafkas beruflicher Tätigkeit, all das ist hier in eine kohärente Zusammenfassung eingegangen, die genaues Quellenstudium und Kenntnis der Forschungsansätze verrät - mit ein paar Ausnahmen. Die Forschungen Ritchie Robertsons, John Zilcoskys und Stanley Corngolds werden nicht erwähnt.
Stachs Meisterschaft als Biograph zeigt sich vor allem an seiner Sprache. Es ist kein Leichtes, in einer Darstellung längere Zitate aus Kafkas schlackenloser Prosa der eigenen Schreibart begegnen zu lassen. In vielen Arbeiten klafft an solchen Nähten ein sprachlicher Abgrund. Nicht so bei Stach. Seine umsichtige Diktion, die nie aufdringlich pädagogisch oder besserwisserisch daherkommt, ist dem Gegenstand durchwegs angemessen. Akkomodationen an gängige Phrasen ("Fokus", "verorten", "vernetzt", "andocken", "wissen um") kommen nur äußerst selten vor, und die Gewandtheit, mit der Stach die Feder führt, erschließt dem Leser auch komplizierte Zusammenhänge scheinbar mühelos.
Bei der Menge der en detail behandelten Themen bleibt es nicht aus, dass man in manchem anderer Meinung sein kann als der Biograph. Der "Brief an den Vater" enthält gleich eingangs jenen berühmten Bericht "aus den ersten Jahren" (Kafka), der Vater habe seinen in der Nacht quengelnden Sohn aus dem Bett getragen, auf die Pawlatsche (so nennt man den Innenhofbalkon, der sich an vielen Prager Häusern findet) gestellt und ihn "allein ein Weilchen im Hemd ... vor der geschlossenen Tür" stehen gelassen. Das von vielen (bis hin zu Paul Celan) als Schlüsselerlebnis erkannte Ereignis deutet Stach als Ursprung eines lebenslangen Verlassenheitssyndroms. Kafkas eigene Deutung legt aber vielmehr nahe, dass neben der Erfahrung des Ausgesetztseins im Draußen (es ist freilich ein Innenhof!) vor allem anderen die der eigenen Nichtigkeit im Kontrast zur übermächtigen Gestalt des Vaters ("die letzte Instanz") das Entscheidende an jener Nacht gewesen ist. Der Vater war in ihr nur zu präsent, Verlassenwerden ist etwas ganz anderes.
Auch das Porträt Max Brods ist in Stachs Darstellung etwas verzerrt. Das Kapitel, das sich Kafkas Verhältnis zu seinem späteren Impresario widmet, leidet darunter, dass es unglücklich aufgebaut ist. Nachdem Stach eingangs die eher problematischen Züge des Freundes herausarbeitet (und den Leser damit unterschwellig gegen Brod einnimmt), kommt er gegen Ende auf die frühe Leidensgeschichte Brods zu sprechen (Brod litt an Kyphose, einer Rückgratverkrümmung), die viele Züge an Brods Verhalten in einem anderen Lichte erscheinen lässt. Mit Blick hierauf wäre von Anfang an ein etwas ausbalancierteres Urteil am Platz gewesen. Nicht nur verdanken wir Brods Nachlassrettung das schlechthin zentrale Geschenk, überhaupt sinnvoll vom Kafkaschen Werk sprechen zu können. Die biographischen Aufzeichnungen Brods füllen außerdem sehr viele Lücken in Kafkas Biographie, die durch Kafkas eigene Notizen und andere Dokumente nicht geschlossen werden könnten. Wäre das nicht von Stach selbst stillschweigend zugestanden, der vorliegende Band hätte nicht zuletzt erscheinen müssen.
Eigentliche Fehler weist Stachs stupende Biographie wenig auf. Der Halleysche Komet (der Termin seiner Wiederkehr ist im ersten Oxforder Quartheft als "Kometennacht" vermerkt) zog nicht in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1911 am Prager Himmel vorüber, sondern in der darauf. Kafka hatte das Datum erst später bei einer Durchsicht seiner Aufzeichnungen notiert und sich dabei um einen Tag vertan.
Stachs Ansicht, die "Beschreibung eines Kampfes" sei ein Missgriff gewesen und Kafkas eigentliche schriftstellerische Leistung setze erst danach ein, ist idiosynkratisch. Der Entwurf zu diesem Langtext ist zwar ebenso Fragment geblieben wie die späteren Romanentwürfe von "Der Verschollene", "Der Process" und "Das Schloss", das heißt aber hier wie dort nicht, dass man von Misslingen sprechen muss. Wie bei den späteren Texten hat Kafka auch hier - und zwar in bedeutendem Ausmaß - kleinere Erzähleinheiten aus dem ursprünglichen Kontext herausgelöst und noch Jahre später unter dem Titel "Betrachtung" als Buch publiziert, darunter "Kinder auf der Landstrasse", "Der Ausflug ins Gebirge", "Kleider" und "Die Bäume". Das sind nicht die schlechtesten Texte Kafkas, und in vielem entwickeln sie bereits jene Poetik instabiler Erzählperspektive, die sich dann in den Texten der mittleren und späten Zeit voll entfalten wird.
Positiv ist vor allem anderen Stachs widerständiges Insistieren darauf hervorzuheben, dass man aus der historischen Person Franz Kafka nichts für die Deutung einzelner Werke ableiten kann. Das ist wohltuend gegenüber Studien, die an dieser Stelle den Kurzschluss üben. Gerade für einen biographisch arbeitenden Wissenschaftler liegt hier die dauerhafteste Verlockung. Stach ist ihr nicht erlegen, und in dieser Haltung ist er Kafkas eigenen Gedanken am nächsten gekommen.
"Die Teorie, dass lebende Schriftsteller mit ihren Büchern einen lebendigen Zusammenhang haben", hielt Kafka, wie er in einem späten Brief an Milena Jesenská bekennt, für irreführend. "Das wirkliche selbstständige Leben des Buches beginnt erst mit dem Tod des Mannes oder richtiger eine Zeitlang nach dem Tode, denn diese eifrigen Männer kämpfen noch ein Weilchen über ihren Tod hinaus für ihr Buch."
Leben und Werk so diskret zu trennen, wie Reiner Stach das gelungen ist, ist das Gegenteil einer Biographik als Verzweiflung vor der Schrift. Die weise Beschränkung lässt der Schrift ihre Eigenständigkeit - und wird Kafkas Werk darin wahrhaft gerecht.
ROLAND REUSS
Reiner Stach: "Kafka". Die frühen Jahre.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2014. 608 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
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Diese Sammlung, originell und kurzweilig, ist eine souveräne, lustvolle Mischung aus akribischer Recherche und gehobenem Literaturklatsch Neues Deutschland 201207