Deutschland ist zum kranken Mann Europas geworden. Das Bildungssystem ist miserabel, die Wettbewerbsfähigkeit katastrophal. Die demografische Entwicklung lässt uns einknicken, die sozialen Sicherungssysteme sind marode und produzieren noch mehr Arbeitslosigkeit. Politiker, Wirtschaft und Gewerkschaften schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Wie konnte es so weit kommen? Hans-Werner Sinn gibt aufrüttelnde Antworten und zeigt in einem wegweisenden "Zehn-Punkte-Programm für die Erneuerung der Wirtschaft", was sofort getan werden muss, um Deutschland zu retten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2003Ein Retter für Deutschland
Deutschland ist am Ende. Frankreich, Holland und Österreich haben uns überrundet. Selbst in England ist der Wohlstand der Menschen unterdessen größer als hierzulande. "Ist Deutschland noch zu retten?" fragt der Münchner Ökonom und Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn in seinem neuen Buch. Die Antwort heißt: Ja. Doch die Rettungsaktion soll weh tun: (1) Die Löhne müssen runter. Wahlweise vier Stunden länger arbeiten. (2) Das Tarifkartell der Gewerkschaften gehört entmachtet. (3) Fürs Nichtstun gibt es künftig weniger Geld; für Jobs gibt es mehr Geld ("aktivierende Sozialhilfe"). (4) Zuwanderer sollen nicht in den Genuß aller Wohltaten des Sozialstaats kommen. (5) Eine radikale Steuerreform muß den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt eindampfen. (6) Ein neues Rentensystem belohnt Eltern. Denn jede arbeitende Generation müsse zwei Lasten tragen, sagt Sinn: die eigenen Eltern ernähren (Rentenversicherung) und für das eigene Alter sorgen (Kinder kriegen oder sparen).
Sinns Sechspunktereformprogramm ist radikal. Gänzlich originell oder unumstritten ist es nicht. Sein Therapievorschlag sei erstellt auf der Basis "ökonomischer Schulmedizin", schreibt er. Doch auch Schulmediziner streiten zuweilen: Sinns Kinderrente, zum Beispiel, wird von vielen seiner Schulkameraden abgelehnt; sie plädieren lieber für eine radikale Umstellung der Vorsorge auf Kapitaldeckung. Gleichwohl: Das Buch ist beste Medizin, verfaßt im populären Ton. Jedes Kapitel ziert eine freche Widmung: Geht es um zu hohe Steuern, gilt die Widmung den Obi-Märkten, denn sie sind die Profiteure der Schwarzarbeit. Geht es um Demographie, verneigt Sinn sich vor Konrad Adenauer, bei dem die Kinder noch "von alleine" kamen. Angela Merkel, übrigens, sollte einen Sonderposten mit Rabatt an die Freunde der CSU schicken.
ank.
Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten? Econ Verlag 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutschland ist am Ende. Frankreich, Holland und Österreich haben uns überrundet. Selbst in England ist der Wohlstand der Menschen unterdessen größer als hierzulande. "Ist Deutschland noch zu retten?" fragt der Münchner Ökonom und Chef des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn in seinem neuen Buch. Die Antwort heißt: Ja. Doch die Rettungsaktion soll weh tun: (1) Die Löhne müssen runter. Wahlweise vier Stunden länger arbeiten. (2) Das Tarifkartell der Gewerkschaften gehört entmachtet. (3) Fürs Nichtstun gibt es künftig weniger Geld; für Jobs gibt es mehr Geld ("aktivierende Sozialhilfe"). (4) Zuwanderer sollen nicht in den Genuß aller Wohltaten des Sozialstaats kommen. (5) Eine radikale Steuerreform muß den Staatsanteil am Bruttosozialprodukt eindampfen. (6) Ein neues Rentensystem belohnt Eltern. Denn jede arbeitende Generation müsse zwei Lasten tragen, sagt Sinn: die eigenen Eltern ernähren (Rentenversicherung) und für das eigene Alter sorgen (Kinder kriegen oder sparen).
Sinns Sechspunktereformprogramm ist radikal. Gänzlich originell oder unumstritten ist es nicht. Sein Therapievorschlag sei erstellt auf der Basis "ökonomischer Schulmedizin", schreibt er. Doch auch Schulmediziner streiten zuweilen: Sinns Kinderrente, zum Beispiel, wird von vielen seiner Schulkameraden abgelehnt; sie plädieren lieber für eine radikale Umstellung der Vorsorge auf Kapitaldeckung. Gleichwohl: Das Buch ist beste Medizin, verfaßt im populären Ton. Jedes Kapitel ziert eine freche Widmung: Geht es um zu hohe Steuern, gilt die Widmung den Obi-Märkten, denn sie sind die Profiteure der Schwarzarbeit. Geht es um Demographie, verneigt Sinn sich vor Konrad Adenauer, bei dem die Kinder noch "von alleine" kamen. Angela Merkel, übrigens, sollte einen Sonderposten mit Rabatt an die Freunde der CSU schicken.
ank.
Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten? Econ Verlag 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
literaturtest.de
Patientenblatt
Das Buch ist ein Patientenblatt. Der Patient heißt Deutschland. Nach Überzeugung des Ökonomen Prof. Dr. Hans-Werner Sinn sind seine Krankheiten heilbar. Voraussetzung für die Genesung ist allerdings der richtige Einsatz des Medikaments "Reform". Das haben auch die verantwortlichen Mediziner, die Politiker nämlich, erkannt. Über Dosierung und Anwendung des Heilmittels gibt es allerdings heftigen Streit.
Mehr Mut und mehr Kinder
Sinn ist Chef des Münchner ifo (Institut für Wirtschaftsforschung), des wohl bekanntesten Forschungsinstituts in Europa. Was er fordert, ist vor allem mehr Mut: von der Politik, den Gewerkschaften, von Interessenverbänden und vom einzelnen Bürger. Der Autor bilanziert die ernüchternde Lage des Landes, die Negativ-Fakten fallen wie das Herbstlaub von den Bäumen. Er fordert einen echten Neuanfang. Voraussetzung dafür ist jedoch eine umfassende Änderung des Sozialstaates und der Wirtschaftsordnung. So muss nach Sinns Einschätzung in Deutschland wieder mehr gearbeitet werden (42 statt 38 Wochenstunden), um den Standort wettbewerbsfähig zu erhalten. Er fordert: Weg von den starren Flächentarifen hin zu mehr Tarifautonomie für die Betriebe; weniger Geld fürs Nichtstun, dafür mehr zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Auch eine Reduktion der Steuerlast hält er für geboten, und zwar auf der Grundlage einer effektiven Steuerreform. Zum Thema Altersvorsorge konstatiert Sinn: Deutschland braucht mehr Kinder, eine grundlegende Umgestaltung des Rentensystems und eine vernünftige Steuerung der Zuwanderung.
Rufer in der Wüste
West- und Ostdeutschland wachsen nicht zusammen, so belegt der Autor weiter, sie driften auseinander. Die ökonomische Wirklichkeit des Vereinigungsprozesses liegt so weit von dem entfernt, was die verantwortlichen Politiker dem Volk in Aussicht gestellt hatten, "dass man die wirtschaftliche Vereinigung der beiden Landesteile als gescheitert ansehen kann". Aber auch hier bieten Prof. Sinn und sein Institut Lösungswege an. Doch ein grundlegendes Problem konnten er und seine Kollegen bisher nicht lösen: dass die Politik ihre Vorschläge nur bedingt wahrnimmt und in der Regel erst gar nicht versucht, sie zu verwirklichen. Die fortgesetzte Ignoranz der Verantwortlichen gegenüber echter Expertise könnte sich als die gefährlichste Krankheit des Patienten Deutschland erweisen.
(Roland Große Holtforth)
Patientenblatt
Das Buch ist ein Patientenblatt. Der Patient heißt Deutschland. Nach Überzeugung des Ökonomen Prof. Dr. Hans-Werner Sinn sind seine Krankheiten heilbar. Voraussetzung für die Genesung ist allerdings der richtige Einsatz des Medikaments "Reform". Das haben auch die verantwortlichen Mediziner, die Politiker nämlich, erkannt. Über Dosierung und Anwendung des Heilmittels gibt es allerdings heftigen Streit.
Mehr Mut und mehr Kinder
Sinn ist Chef des Münchner ifo (Institut für Wirtschaftsforschung), des wohl bekanntesten Forschungsinstituts in Europa. Was er fordert, ist vor allem mehr Mut: von der Politik, den Gewerkschaften, von Interessenverbänden und vom einzelnen Bürger. Der Autor bilanziert die ernüchternde Lage des Landes, die Negativ-Fakten fallen wie das Herbstlaub von den Bäumen. Er fordert einen echten Neuanfang. Voraussetzung dafür ist jedoch eine umfassende Änderung des Sozialstaates und der Wirtschaftsordnung. So muss nach Sinns Einschätzung in Deutschland wieder mehr gearbeitet werden (42 statt 38 Wochenstunden), um den Standort wettbewerbsfähig zu erhalten. Er fordert: Weg von den starren Flächentarifen hin zu mehr Tarifautonomie für die Betriebe; weniger Geld fürs Nichtstun, dafür mehr zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Auch eine Reduktion der Steuerlast hält er für geboten, und zwar auf der Grundlage einer effektiven Steuerreform. Zum Thema Altersvorsorge konstatiert Sinn: Deutschland braucht mehr Kinder, eine grundlegende Umgestaltung des Rentensystems und eine vernünftige Steuerung der Zuwanderung.
Rufer in der Wüste
West- und Ostdeutschland wachsen nicht zusammen, so belegt der Autor weiter, sie driften auseinander. Die ökonomische Wirklichkeit des Vereinigungsprozesses liegt so weit von dem entfernt, was die verantwortlichen Politiker dem Volk in Aussicht gestellt hatten, "dass man die wirtschaftliche Vereinigung der beiden Landesteile als gescheitert ansehen kann". Aber auch hier bieten Prof. Sinn und sein Institut Lösungswege an. Doch ein grundlegendes Problem konnten er und seine Kollegen bisher nicht lösen: dass die Politik ihre Vorschläge nur bedingt wahrnimmt und in der Regel erst gar nicht versucht, sie zu verwirklichen. Die fortgesetzte Ignoranz der Verantwortlichen gegenüber echter Expertise könnte sich als die gefährlichste Krankheit des Patienten Deutschland erweisen.
(Roland Große Holtforth)
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit seinen "Vorschlägen aus der ökonomischen Schulmedizin" hat der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn den Rezensenten Frank Lübberding nicht überzeugen können. Kurz benenne der Autor die allseits bekannten Übel, an denen Deutschland krankt, und liefere dann einen Lösungsvorschlag, den er aus der Mottenkiste des 19. Jahrhunderts ausgegraben habe und der den Kollegen unter dem Begriff "Saysches Theorem" durchaus bekannt sei. Das "Alter der Therapie" aber habe er dem "Patienten lieber verschwiegen". Das entscheidende "Stichwort" laute wenig überraschend Wettbewerbsfähigkeit, lässt uns Lübberding wissen. Einen Arbeitsplatz finde, wer bereit sei, seine "Arbeitskraft zum jeweiligen Marktpreis zu verkaufen", doch stehe diesem Ansatz die fehlende "Flexibilität der Löhne" wie auch das Festhalten an "Mindestlöhnen" entgegen. Wen mag da noch die "Skepsis des Patienten" wundern, fragt sich der Rezensent zum Schluss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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