Ungerechtigkeiten gibt es viele - reale und gefühlte. Deshalb wird nach immer neuen Gerechtigkeiten geschrien. "Bildungsgerechtigkeit" heißt eine der führenden Parolen. Was gut gemeint ist, verkehrt sich aber oft ins Zwanghafte. Ansprüche werden nivelliert, Inhalte normiert, Ziele standardisiert, Eliten diskreditiert, Universitäten "Bologna"-konform konfektioniert. Der Bildungsexperte Josef Kraus schlägt Alarm: Der Ruf nach Gerechtigkeit verkommt zur Zivilreligion der Gleichmacherei. Statt pauschal zu vereinheitlichen, gilt es, Bildung vom reinen Nutzdenken zu befreien und dafür zu werben, dass Bildungschancen Chancen, aber keine Garantien sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2009Streitbar und politisch überhaupt nicht korrekt
Wer Josef Kraus kennt, wird wissen, dass alles, was er schreibt, eine Streitschrift ist, und zwar eine bajuwarisch deftige. So auch sein neuestes Buch "Ist die Bildung noch zu retten?". Welche Bildung? Das ergründet Kraus in einem Wissenskanon des gebildeten Europäers, der bei den Ursprüngen des Politischen und der Demokratie in der Antike beginnt und bis zur Überwindung der Ost-West-Blockbildung und der Wiederbelebung Mittel- und Osteuropas reicht. Kraus wehrt sich zu Recht dagegen, dass der schulische Geschichtsunterricht hauptsächlich um eine curriculare Behandlung des Holocaust kreist und die Schüler damit erst recht zum Wegschauen bringen könnte. Die Geschichte Mittelost- und Osteuropas dagegen komme fast nicht vor. Wenn er dann allerdings fortfährt mit der Klage, dass "linke" Greueltaten verschwiegen würden, macht er es seinen Gegnern allzu leicht, die ihn als rechtskonservativen Katholiken einordnen. Das Buch bietet viele Beobachtungen aus dem gegenwärtigen bildungspolitischen Geschehen, stellt mit den Erkenntnissen aus Studien gängige Vorurteile richtig und fasst vor allem die neun Thesen der Erziehungsoffensive ("Mut zur Erziehung" - Bonn 1978) in sechs zeitgemäßen Thesen zusammen: Die erste Feststellung lautet bei Kraus folgendermaßen: "Mut zur Erziehung heißt, intuitiv und gegebenenfalls spontan die jeweils richtige Mischung aus Führen und Wachsenlassen zu finden." Er warnt die Eltern davor, Erziehung mit einem Hochsicherheitstrakt zu verwechseln, in dem das (Überwachungs-)Handy zur Ersatz-Nabelschnur werde, und er fordert Erziehende und Lehrer auf, ihrer Intuition und Spontaneität mehr zu vertrauen. Angesichts einer Elterngeneration, die durch Erziehungsratgeber geprägt ist, wäre das dringend nötig.
Josef Kraus: "Ist die Bildung noch zu retten?". Eine Streitschrift, München, F. A. Herbig Verlag 2009, 223 Seiten, 16,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer Josef Kraus kennt, wird wissen, dass alles, was er schreibt, eine Streitschrift ist, und zwar eine bajuwarisch deftige. So auch sein neuestes Buch "Ist die Bildung noch zu retten?". Welche Bildung? Das ergründet Kraus in einem Wissenskanon des gebildeten Europäers, der bei den Ursprüngen des Politischen und der Demokratie in der Antike beginnt und bis zur Überwindung der Ost-West-Blockbildung und der Wiederbelebung Mittel- und Osteuropas reicht. Kraus wehrt sich zu Recht dagegen, dass der schulische Geschichtsunterricht hauptsächlich um eine curriculare Behandlung des Holocaust kreist und die Schüler damit erst recht zum Wegschauen bringen könnte. Die Geschichte Mittelost- und Osteuropas dagegen komme fast nicht vor. Wenn er dann allerdings fortfährt mit der Klage, dass "linke" Greueltaten verschwiegen würden, macht er es seinen Gegnern allzu leicht, die ihn als rechtskonservativen Katholiken einordnen. Das Buch bietet viele Beobachtungen aus dem gegenwärtigen bildungspolitischen Geschehen, stellt mit den Erkenntnissen aus Studien gängige Vorurteile richtig und fasst vor allem die neun Thesen der Erziehungsoffensive ("Mut zur Erziehung" - Bonn 1978) in sechs zeitgemäßen Thesen zusammen: Die erste Feststellung lautet bei Kraus folgendermaßen: "Mut zur Erziehung heißt, intuitiv und gegebenenfalls spontan die jeweils richtige Mischung aus Führen und Wachsenlassen zu finden." Er warnt die Eltern davor, Erziehung mit einem Hochsicherheitstrakt zu verwechseln, in dem das (Überwachungs-)Handy zur Ersatz-Nabelschnur werde, und er fordert Erziehende und Lehrer auf, ihrer Intuition und Spontaneität mehr zu vertrauen. Angesichts einer Elterngeneration, die durch Erziehungsratgeber geprägt ist, wäre das dringend nötig.
Josef Kraus: "Ist die Bildung noch zu retten?". Eine Streitschrift, München, F. A. Herbig Verlag 2009, 223 Seiten, 16,95 Euro.
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