Die scheinbare Ohnmacht westlicher Politik gegenüber den weltweit sich zuspitzenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemen hat das Vertrauen vieler Menschen in die Demokratie erschüttert. Otfried Höffe, einer der namhaftesten politischen Philosophen der Gegenwart, legt die Faktoren offen, die demokratische Systeme dazu befähigen, in wirksamer Weise Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und damit letztlich ihre eigene Legitimationsgrundlage zu sichern. Sein philosophischer Essay ist zugleich ein Plädoyer für die Demokratie, geführt mit großer argumentativer Klarheit und einem scharfen Blick für die Wirklichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.01.2010Zur Hemmung der Begierde
Otfried Höffe hat ein ausgeruhtes Buch über die Demokratie geschrieben, das aber zu schnell und beschönigend über die Schwierigkeiten dieser Regierungsform hinweggeht.
Die Vorzüglichkeit der Demokratie geht nach der Meinung mancher zeitgenössischer Kritiker nicht mit ihrer politischen Leistungsfähigkeit Hand und Hand. Sie befürchten, dass die Demokratie der vielfältigen Probleme der globalisierten Gegenwart nicht mehr Herr werden kann, dass sie keine zukunftsgestaltende Kraft zu entfalten vermag, sondern lediglich von den Eruptionen des Weltfinanzmarkts, den demographischen Verwerfungen und den klimatischen Umwälzungen getrieben wird und mit kurzfristigen Reaktionen und hilflosen Beschwichtigungsgesten über den Tag zu kommen versucht.
Der Verdacht, dass sich die Demokratie überlebt habe, prägt auch das bereits 1993 erschienene und seinerzeit vielbeachtete Buch des französischen Politikwissenschaftlers Jean-Marie Guéhenno vom "Ende der Demokratie". Die Demokratie sei eine Geburt des Aufklärungszeitalters und werde, so vermutet der Autor, mit diesem verschwinden; ihre nationalstaatliche Souveränitätsbasis werde sich auflösen; und ein Viertes Reich werde entstehen, in dem das Rom Hadrians und Mark Aurels, mit asiatischer Effizienz angereichert, wiederauferstehen werde.
Mit solch einem spekulativen Unfug hat Otfried Höffes Untersuchung nichts zu tun. Seine Überprüfung der Zukunftsfähigkeit steht in keinem geschichtsphilosophischen Zusammenhang, sondern gleicht einem Leistungsvergleich, einer Materialprüfung. Wie Schumpeter sieht er in der Demokratie ein Instrument, jedoch nicht eines der Regierungsbildung, sondern eines der politischen Problembewältigung und Zukunftssicherung. Und Instrumente sind vernünftigerweise einem Tauglichkeitstest zu unterwerfen. Sein Buch - das übrigens gleichzeitig in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist - ist daher eine Art TÜV-Bericht.
Höffe lässt sich dabei nicht von einer bestimmten Demokratietheorie leiten. Seiner Untersuchung liegt ein phänomenologisches Demokratieverständnis zugrunde: Demokratie ist das, was wir sehen. Und was wir sehen, ist so schlimm nicht. Denn Otfried Höffe ist ein nüchterner Mann, der trotz seiner Vorlieben fürs Kantische Denken mit der Wirklichkeit auf gutem Hegelschem Fuß steht. Katastrophisches Fuchteln ist ihm genauso fremd wie der normative Überschwang.
Wenn er sich der leitenden Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Demokratie selbst zuwendet, wird aus dem nüchternen Betrachter ein staatsbürgerlicher Serenissimus, der mit mildem Wohlwollen die Zustände betrachtet, hier und da ein wenig die Stirn runzelt und die Augenbrauen hochzieht, ansonsten aber zu schnell und beschönigend über die Schwierigkeiten der demokratischen Gegenwart hinweggeht. It's gonna be all right - das ist Höffes Botschaft. Die Demokratie ist lernfähig und daher auch reformfähig, fördert die Forschung mit Steuergeldern, insbesondere die innovativen, interdisziplinären, interkulturellen Projekte, bietet den Bürgern Partizipationschancen, unterhält Diskurs-Arenen, in denen das öffentliche Bewusstsein seine Selbstverständigungs-Diskurse austragen kann, in denen auch die Zukunft ihre Fürsprecher finden kann.
Fürsprecher freilich, die angesichts der beiden grundlegenden Hindernisse zukunftsfähigen politischen Handelns eine Sisyphus-Aufgabe zu bewältigen haben. Diese zukunftsfeindlichen Kräfte sind die Mechanismen demokratischer Machterringung und der sozialstaatliche Charakter der demokratischen Gegenwart. Beides wird von Höffe vernachlässigt, an den Rand geschoben, zu einer diffusen Allzeitirritation verkleinert, der gesonderte Aufmerksamkeit nicht entgegengebracht werden muss.
Dabei hätte sich gerade der Welfarismus als Lackmustest demokratischer Zukunftsfähigkeit angeboten. Denn Welfarismus ist das kollektive Gegenstück zum Hedonismus. Beide sind Gefangene der Gegenwart, gebunden an den "Pflock des Augenblicks" (Nietzsche), zur klugen Berücksichtigung kommender Bedürfnisse ebenso wenig in der Lage wie zum Respekt der Rechte der Kommenden bereit. Beide, Welfarismus wie Hedonismus, begünstigen Unverantwortlichkeit, denn Verantwortlichkeit kann nur auf der Grundlage einer Balance der Forderungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gedeihen. Das gilt für individuelles Leben ebenso wie für kollektives Handeln. Gerät privates wie öffentliches Leben unter den Bann des Präsentismus, gerät das Genießen, Bekommen und Versorgen unter das Diktat eines hic-et-nunc-Maximalismus, dann entsteht ein alles überwuchernder Monismus des Konsumierens, der Lebensuntüchtigkeit und Politikunfähigkeit zugleich erzeugt. Auch das allgemeine Leben kann nur dann gedeihen, wenn es zur zukunftssichernden, Handlungsmächtigkeit erhaltenden Hemmung der Begierde bereit ist.
Und auch das problematische Verhältnis der Bedingungen demokratischer Machterringung und Machtausübung zu den Erfordernissen zukunftsfähiger und folglich langfristiger Politik hätte eine ausführlichere Betrachtung verdient. Wie können Politiker, die Politik als Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance betrachten, allgemeinheitsdienlich handeln, das Gemeinwohl im Blick behalten, ihrem legitimationsstiftenden Souverän gegenüber verantwortlich sein? Wie können unsere Repräsentanten den demokratiemythologischen Verheißungen der Selbstregierung gerecht werden, wenn sie nichts anderes sind als politische Unternehmer, die im Interessenbetrieb der Politik ihre Anteile sichern wollen, sich der Maschinerie demokratischer Entscheidungsprozeduren bedienen, um ihr Angebot gewinnbringend zu verkaufen und die den Sozialstaat als Kriegskasse zur Finanzierung ihrer Wiederwahlkampagnen verwenden?
Aber auch wenn die demokratische Wirklichkeit weniger gelassen betrachtet worden wäre, den zukunftssabotierenden Kräften entschiedener Ausdruck verliehen worden wäre, auf das Ergebnis der Höffeschen Untersuchung hätte das keinerlei Auswirkungen. Die Zukunftsfähigkeitsbescheinigung müsste nicht kassiert werden. Höffe ist uneingeschränkt recht zu geben. Im globalen Wettbewerb der Systeme hat die Demokratie einen Wettbewerbsvorsprung. Viele der Schwierigkeiten, die sie hat, haben autoritäre Regimes auch, oft sogar in höherem Maße. Und an ihre Stärken kann der Autokratismus nicht heranreichen: "eine engagierte Bürgerschaft, ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau, soziale und kulturelle Fundamente und nicht zuletzt eine politische Ordnung, die auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren vermag".
Schaut man genauer hin, dann zeigt sich, dass genau die Elemente, die die legitimationstheoretische Vorzüglichkeit der Demokratie begründen, sich in ihrer empirischen Gestalt auch als Ursachen größerer Problemlösungseffizienz erweisen. Die demokratische Staatsform hat wirklich Hegels Segen: In ihr ist die Wirklichkeit vernünftiger als anderswo.
WOLFGANG KERSTING
Otfried Höffe: "Ist die Demokratie zukunftsfähig?" Über moderne Politik. C. H. Beck Verlag, München 2009. 334 S., br., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Otfried Höffe hat ein ausgeruhtes Buch über die Demokratie geschrieben, das aber zu schnell und beschönigend über die Schwierigkeiten dieser Regierungsform hinweggeht.
Die Vorzüglichkeit der Demokratie geht nach der Meinung mancher zeitgenössischer Kritiker nicht mit ihrer politischen Leistungsfähigkeit Hand und Hand. Sie befürchten, dass die Demokratie der vielfältigen Probleme der globalisierten Gegenwart nicht mehr Herr werden kann, dass sie keine zukunftsgestaltende Kraft zu entfalten vermag, sondern lediglich von den Eruptionen des Weltfinanzmarkts, den demographischen Verwerfungen und den klimatischen Umwälzungen getrieben wird und mit kurzfristigen Reaktionen und hilflosen Beschwichtigungsgesten über den Tag zu kommen versucht.
Der Verdacht, dass sich die Demokratie überlebt habe, prägt auch das bereits 1993 erschienene und seinerzeit vielbeachtete Buch des französischen Politikwissenschaftlers Jean-Marie Guéhenno vom "Ende der Demokratie". Die Demokratie sei eine Geburt des Aufklärungszeitalters und werde, so vermutet der Autor, mit diesem verschwinden; ihre nationalstaatliche Souveränitätsbasis werde sich auflösen; und ein Viertes Reich werde entstehen, in dem das Rom Hadrians und Mark Aurels, mit asiatischer Effizienz angereichert, wiederauferstehen werde.
Mit solch einem spekulativen Unfug hat Otfried Höffes Untersuchung nichts zu tun. Seine Überprüfung der Zukunftsfähigkeit steht in keinem geschichtsphilosophischen Zusammenhang, sondern gleicht einem Leistungsvergleich, einer Materialprüfung. Wie Schumpeter sieht er in der Demokratie ein Instrument, jedoch nicht eines der Regierungsbildung, sondern eines der politischen Problembewältigung und Zukunftssicherung. Und Instrumente sind vernünftigerweise einem Tauglichkeitstest zu unterwerfen. Sein Buch - das übrigens gleichzeitig in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist - ist daher eine Art TÜV-Bericht.
Höffe lässt sich dabei nicht von einer bestimmten Demokratietheorie leiten. Seiner Untersuchung liegt ein phänomenologisches Demokratieverständnis zugrunde: Demokratie ist das, was wir sehen. Und was wir sehen, ist so schlimm nicht. Denn Otfried Höffe ist ein nüchterner Mann, der trotz seiner Vorlieben fürs Kantische Denken mit der Wirklichkeit auf gutem Hegelschem Fuß steht. Katastrophisches Fuchteln ist ihm genauso fremd wie der normative Überschwang.
Wenn er sich der leitenden Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Demokratie selbst zuwendet, wird aus dem nüchternen Betrachter ein staatsbürgerlicher Serenissimus, der mit mildem Wohlwollen die Zustände betrachtet, hier und da ein wenig die Stirn runzelt und die Augenbrauen hochzieht, ansonsten aber zu schnell und beschönigend über die Schwierigkeiten der demokratischen Gegenwart hinweggeht. It's gonna be all right - das ist Höffes Botschaft. Die Demokratie ist lernfähig und daher auch reformfähig, fördert die Forschung mit Steuergeldern, insbesondere die innovativen, interdisziplinären, interkulturellen Projekte, bietet den Bürgern Partizipationschancen, unterhält Diskurs-Arenen, in denen das öffentliche Bewusstsein seine Selbstverständigungs-Diskurse austragen kann, in denen auch die Zukunft ihre Fürsprecher finden kann.
Fürsprecher freilich, die angesichts der beiden grundlegenden Hindernisse zukunftsfähigen politischen Handelns eine Sisyphus-Aufgabe zu bewältigen haben. Diese zukunftsfeindlichen Kräfte sind die Mechanismen demokratischer Machterringung und der sozialstaatliche Charakter der demokratischen Gegenwart. Beides wird von Höffe vernachlässigt, an den Rand geschoben, zu einer diffusen Allzeitirritation verkleinert, der gesonderte Aufmerksamkeit nicht entgegengebracht werden muss.
Dabei hätte sich gerade der Welfarismus als Lackmustest demokratischer Zukunftsfähigkeit angeboten. Denn Welfarismus ist das kollektive Gegenstück zum Hedonismus. Beide sind Gefangene der Gegenwart, gebunden an den "Pflock des Augenblicks" (Nietzsche), zur klugen Berücksichtigung kommender Bedürfnisse ebenso wenig in der Lage wie zum Respekt der Rechte der Kommenden bereit. Beide, Welfarismus wie Hedonismus, begünstigen Unverantwortlichkeit, denn Verantwortlichkeit kann nur auf der Grundlage einer Balance der Forderungen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gedeihen. Das gilt für individuelles Leben ebenso wie für kollektives Handeln. Gerät privates wie öffentliches Leben unter den Bann des Präsentismus, gerät das Genießen, Bekommen und Versorgen unter das Diktat eines hic-et-nunc-Maximalismus, dann entsteht ein alles überwuchernder Monismus des Konsumierens, der Lebensuntüchtigkeit und Politikunfähigkeit zugleich erzeugt. Auch das allgemeine Leben kann nur dann gedeihen, wenn es zur zukunftssichernden, Handlungsmächtigkeit erhaltenden Hemmung der Begierde bereit ist.
Und auch das problematische Verhältnis der Bedingungen demokratischer Machterringung und Machtausübung zu den Erfordernissen zukunftsfähiger und folglich langfristiger Politik hätte eine ausführlichere Betrachtung verdient. Wie können Politiker, die Politik als Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance betrachten, allgemeinheitsdienlich handeln, das Gemeinwohl im Blick behalten, ihrem legitimationsstiftenden Souverän gegenüber verantwortlich sein? Wie können unsere Repräsentanten den demokratiemythologischen Verheißungen der Selbstregierung gerecht werden, wenn sie nichts anderes sind als politische Unternehmer, die im Interessenbetrieb der Politik ihre Anteile sichern wollen, sich der Maschinerie demokratischer Entscheidungsprozeduren bedienen, um ihr Angebot gewinnbringend zu verkaufen und die den Sozialstaat als Kriegskasse zur Finanzierung ihrer Wiederwahlkampagnen verwenden?
Aber auch wenn die demokratische Wirklichkeit weniger gelassen betrachtet worden wäre, den zukunftssabotierenden Kräften entschiedener Ausdruck verliehen worden wäre, auf das Ergebnis der Höffeschen Untersuchung hätte das keinerlei Auswirkungen. Die Zukunftsfähigkeitsbescheinigung müsste nicht kassiert werden. Höffe ist uneingeschränkt recht zu geben. Im globalen Wettbewerb der Systeme hat die Demokratie einen Wettbewerbsvorsprung. Viele der Schwierigkeiten, die sie hat, haben autoritäre Regimes auch, oft sogar in höherem Maße. Und an ihre Stärken kann der Autokratismus nicht heranreichen: "eine engagierte Bürgerschaft, ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau, soziale und kulturelle Fundamente und nicht zuletzt eine politische Ordnung, die auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren vermag".
Schaut man genauer hin, dann zeigt sich, dass genau die Elemente, die die legitimationstheoretische Vorzüglichkeit der Demokratie begründen, sich in ihrer empirischen Gestalt auch als Ursachen größerer Problemlösungseffizienz erweisen. Die demokratische Staatsform hat wirklich Hegels Segen: In ihr ist die Wirklichkeit vernünftiger als anderswo.
WOLFGANG KERSTING
Otfried Höffe: "Ist die Demokratie zukunftsfähig?" Über moderne Politik. C. H. Beck Verlag, München 2009. 334 S., br., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Interessant und lesenswert findet Rezensentin Elisabeth von Thadden diesen Zukunftstest, dem Otfried Höffe, Professor für politische Philosophie, die Demokratie unterzogen hat. Denn Höffe sichte sowohl ökonomische wie ökologische Bestände, mit denen sich die Demokratie für "prekäre Zünfte" gewappnet habe. Auch den Aspekt der Generationengerechtigkeit findet die Rezensentin höchst überzeugend herausgearbeitet, zumal Höffe dabei die "philosophischen Wege" von John Rawls und Hans Jonas zusammenführe. Was Thadden an diesen Überlegungen darüber hinaus außerordentlich schätzt, ist das Abwägende, Bewegliche und Lernfähige, mit dem hier Handlungsmodelle und politische Ordnung durchdacht werden, und in deren Verlauf weder der Autor jemals den Triumphator hervorkehre, noch die Demokratie stets strahlende Siegerin bleibe. Im Übrigen werde das Modell der "klugen Selbstfesseleung" empfohlen: siehe Odysseus und die Sirenen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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