Frankfurter Allgemeine ZeitungWas diese Stadt alles unter sich begraben hat
Überreicher Fang in der Strömung der Jahrtausende: Bettany Hughes kennt sich in der Geschichte Istanbuls hervorragend aus. Über die Gegenwart fällt ihr Urteil unversöhnlich aus.
Von Maurus Reinkowski
Es gibt viele Bücher über Byzantium, Konstantinopel, das osmanische Kostantiniyye oder das türkische Istanbul, aber es gab bisher keines, das wie dieses einen allumfassenden Blick auf die Geschichte dieser Stadt wirft. Bettany Hughes greift in ihrem Mitte Oktober erscheinenden Buch sehr viel weiter aus als in ihren früheren Arbeiten über Helena von Troia und das sokratische Athen.
Die geologischen Grundlagen der Stadt wurden geschaffen, als um 5500 vor Christus durch eine globale Hebung des Meeresspiegels aus einem Binnensee das Schwarze Meer wurde. Seitdem nun das Schwarze Meer über Bosporus, Marmarameer und Dardanellen mit dem Mittelmeer verbunden war, konnte es nicht mehr lange dauern, bis Menschen die herausragend günstige Lage des zwischen dem Goldenen Horn und dem Marmarameer gelegenen Landsporns erkannten. Nicht nur die Lage des zukünftigen Konstantinopels war günstig. Wegen der mächtigen osteuropäischen Ströme, die in das Schwarze Meer münden, weist dieses einen Wasserüberschuss gegenüber dem Mittelmeer auf, so dass im Bosporus und Dardanellen eine ständige Nord-Süd-Oberflächenströmung herrscht. Sie führte dazu, dass über Jahrtausende hinweg die Strömung den Bewohnern der Stadt die Fische ins Goldene Horn vor die Füße trieb.
In acht Teilen und achtundsiebzig Kapiteln schreibt Hughes die Geschichte der Stadt in der Zeit des Römischen, Byzantinischen und Osmanischen Reiches. Hughes hebt die bedeutenden Zäsuren (wie die Erhebung Byzantions zur Hauptstadt des Römischen Reiches und die Umbenennung in Konstantinopel im Jahr 330 nach Christus) heraus. Bestimmend aber ist für sie das Phänomen der Kontinuität, auch über die osmanische Eroberung der Stadt im Jahr 1453 hinaus. Das Buch ist weit mehr als eine Biographie dieser Stadt. Hughes hat eine weitgespannte Familiengeschichte geschrieben. Es handelt sich hier um verschiedenste "Familien" mit höchst unterschiedlichen religiösen Zugehörigkeiten, wie Araber, Athener, Awaren, Bulgaren, Goten, Kurden, Mongolen, Normannen, Osmanen, Roma, Römer, Seldschuken, Spartaner, Sassaniden, Türken, Vandalen, Venezianer und Wikinger. Sie alle hatten sich anfangs (manchmal auch, nach gänzlich zerrütteter Ehe: später) meist nichts zu sagen und konnten beziehungsweise wollten sich nur über Krieg und Gewalt miteinander verständigen.
Die Achse des Buches bildet die Herrschaftszeit Justinians (527 bis 565), ohne dass aber Hughes der Versuchung erliegen würde, eine Aufstiegs- und Verfallsgeschichte der Stadt zu schreiben. Ohnehin widersteht Hughes vielen weiteren Anfechtungen, etwa die Geschichte der Stadt im Sinne eines westlich-östlichen, christlich-muslimischen oder europäisch-asiatischen Gegensatzes zu schreiben. Sie bedient sich; ohne zu zögern; dieser Begrifflichkeiten, aber sie bestimmen in keiner Weise ihre Darstellung und Deutung.
Die Lebendigkeit der Erzählung speist sich aus Hughes' umfangreicher Lektüre der zeitgenössischen Quellen. Das gelingt sehr gut für die römische und byzantinische Zeit, in denen Hughes wissenschaftlich eher zu Hause ist. Die Abschnitte über die osmanische Zeit sind fahriger und weniger genau, da sich Hughes hier mehr auf die Sekundärliteratur stützen muss.
Hughes schreibt nicht im Stil einer Historikerin, die sich populärwissenschaftlich verständlich machen will. Ihre Art der Darstellung würden berufsfixierte Historikerinnen und Historiker nicht zu wählen wagen. Der Lohn dieses Befreiungsschlages ist offensichtlich: Sie muss nicht alles theoretisieren und kontextualisieren. Das Buch ist reich an höchst gelungenen Charakterisierungen, wie die von den Vandalen als "Meereskuckucke, die die Schiffe all jener Länder benutzten, in die sie einfielen", oder des Wikingerführers Swjatoslaw als "Steppenpirat". Wenn Hughes auch nicht allen Klischees ausweichen kann (wie dem, dass Ägäisinseln immer "windgepeitscht" sind).
Die Stärken von Hughes liegen in unmittelbarer Anschauung (offensichtlich hat sie alle von ihr beschriebenen Orte aufgesucht) und im sprechenden Detail. Archäologische Funde und Erkenntnisse webt sie anschaulich in ihre Darstellung ein. Ein fast drei Meter hoher Steinblock, aufgestellt etwa 780 in Xi'an (China), mit einem eingravierten Bericht zur Geschichte des nestorianischen Christentums in China, hat in diesem Buch zu Recht seinen Platz. Die Lehre des Patriarchen Nestorius über die irdische Natur Christi wurde nämlich im Jahre 451 auf dem Konzil von Chalkedon (heute der Istanbuler Stadtteil Kadiköy) als häretisch verdammt. Die Nestorianer sollten in den folgenden Jahrhunderten eine kurze Blüte als eine asiatische Weltreligion, die sich vom Nahen Osten bis China ausbreitete, erleben.
Wirtschaft ist bei Hughes eher ein Transportmittel für die Darstellung der Sozialgeschichte; diese wiederum nimmt sie gerne als Folie für die Geschichte des weiblichen Geschlechts. Die bedeutende Rolle von Frauen in Konstantinopel, nicht nur von so berühmten wie Helena (die Mutter Konstantins) und Theodora (die Gattin Justinians), verdankt sich nach Hughes der Verbindung zwischen heidnischer Umgebung, die weiblichen Gottheiten Bedeutung zumaß, römischen juristischen Grundhaltungen zu den Rechten von Frauen und einem überhöhten Rollenmodell der Jungfrau Maria als Gottesgebärerin in der orthodoxen christlichen Theologie. Auch hier steht bei Hughes Kontinuität im Vordergrund: Für die osmanische Gesellschaft Kostantiniyyes sieht sie eine vergleichbar starke Rolle der Frau.
Hughes lässt alle zu ihrem Recht kommen, selbst mordende Männerhorden wie die Wikinger. Unversöhnlich bleibt sie allein gegenüber der Gegenwart. Zwar schlägt sie gerne einen Bogen von den Nika-Aufständen im Jahr 532 zu den Gezi-Park-Protesten 2013 oder von den Migrationswellen, die die Stadt in ihrer Geschichte erlebte, zu den syrischen Flüchtlingen heute. Aber die Gegenwart, wie sie hier erscheint, ist mehr als trist, sie ist geradezu entweiht: Allgegenwärtig ist in der Beschreibung der Denkmäler, dass man sich diese mit Kebab-Buden, Schlüsselringverkäufern, rotgesichtigen Touristen, abhängenden Hipstern und Zigeunern, die fluoreszierende Unterwäsche verkaufen, teilen muss. Archäologische Fundstätten haben es noch schwerer: Die wenigen, die sich dafür interessieren, finden den Ort hinter einem Abgasrohrhändler oder einem chinesischen Supermarkt, müssen über Katzenkot und Plastikmüll steigen, vorbei an Hunden im Staub, geisterhaften Tauben, um dann Ziegel- und Trümmerhaufen hinter Aluminiumzäunen vorzufinden.
Nur ein Kapitel ist dem Istanbul nach dem Ersten Weltkrieg gewidmet; selbst dieses ist aber mehr ein historischer Rückblick. Hughes lässt sich damit die Chance entgehen, zu erörtern, was es für Istanbul bedeutet, seit nahezu einem Jahrhundert nicht mehr die Hauptstadt eines Reiches, ja nicht einmal der Republik Türkei zu sein. Und was hat das Wachstum der Stadt, die in den fünfziger Jahren deutlich weniger als eine Million Einwohner zählte, zu einer Megalopolis von derzeit mehr als fünfzehn Millionen Menschen für eine Bedeutung für ihren - nach Hughes - immer noch bestehenden Geist und Gestus?
Es ist schwer zu sagen, ob Hughes' Unbehagen gegenüber der Gegenwart eine Marotte ist oder doch eher ihre grundsätzliche Einschätzung widerspiegelt, dass die Auswüchse der modernen Massenzivilisation die Fortschreibung von Geschichte unmöglich machen. Ihr Buch gibt jedenfalls einen anregenden Bericht darüber, was das moderne Istanbul unter sich begraben und hinter sich gelassen hat.
Bettany Hughes: "Istanbul". Die Biographie einer Weltstadt.
Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
928 S., Abb., geb., 35,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Überreicher Fang in der Strömung der Jahrtausende: Bettany Hughes kennt sich in der Geschichte Istanbuls hervorragend aus. Über die Gegenwart fällt ihr Urteil unversöhnlich aus.
Von Maurus Reinkowski
Es gibt viele Bücher über Byzantium, Konstantinopel, das osmanische Kostantiniyye oder das türkische Istanbul, aber es gab bisher keines, das wie dieses einen allumfassenden Blick auf die Geschichte dieser Stadt wirft. Bettany Hughes greift in ihrem Mitte Oktober erscheinenden Buch sehr viel weiter aus als in ihren früheren Arbeiten über Helena von Troia und das sokratische Athen.
Die geologischen Grundlagen der Stadt wurden geschaffen, als um 5500 vor Christus durch eine globale Hebung des Meeresspiegels aus einem Binnensee das Schwarze Meer wurde. Seitdem nun das Schwarze Meer über Bosporus, Marmarameer und Dardanellen mit dem Mittelmeer verbunden war, konnte es nicht mehr lange dauern, bis Menschen die herausragend günstige Lage des zwischen dem Goldenen Horn und dem Marmarameer gelegenen Landsporns erkannten. Nicht nur die Lage des zukünftigen Konstantinopels war günstig. Wegen der mächtigen osteuropäischen Ströme, die in das Schwarze Meer münden, weist dieses einen Wasserüberschuss gegenüber dem Mittelmeer auf, so dass im Bosporus und Dardanellen eine ständige Nord-Süd-Oberflächenströmung herrscht. Sie führte dazu, dass über Jahrtausende hinweg die Strömung den Bewohnern der Stadt die Fische ins Goldene Horn vor die Füße trieb.
In acht Teilen und achtundsiebzig Kapiteln schreibt Hughes die Geschichte der Stadt in der Zeit des Römischen, Byzantinischen und Osmanischen Reiches. Hughes hebt die bedeutenden Zäsuren (wie die Erhebung Byzantions zur Hauptstadt des Römischen Reiches und die Umbenennung in Konstantinopel im Jahr 330 nach Christus) heraus. Bestimmend aber ist für sie das Phänomen der Kontinuität, auch über die osmanische Eroberung der Stadt im Jahr 1453 hinaus. Das Buch ist weit mehr als eine Biographie dieser Stadt. Hughes hat eine weitgespannte Familiengeschichte geschrieben. Es handelt sich hier um verschiedenste "Familien" mit höchst unterschiedlichen religiösen Zugehörigkeiten, wie Araber, Athener, Awaren, Bulgaren, Goten, Kurden, Mongolen, Normannen, Osmanen, Roma, Römer, Seldschuken, Spartaner, Sassaniden, Türken, Vandalen, Venezianer und Wikinger. Sie alle hatten sich anfangs (manchmal auch, nach gänzlich zerrütteter Ehe: später) meist nichts zu sagen und konnten beziehungsweise wollten sich nur über Krieg und Gewalt miteinander verständigen.
Die Achse des Buches bildet die Herrschaftszeit Justinians (527 bis 565), ohne dass aber Hughes der Versuchung erliegen würde, eine Aufstiegs- und Verfallsgeschichte der Stadt zu schreiben. Ohnehin widersteht Hughes vielen weiteren Anfechtungen, etwa die Geschichte der Stadt im Sinne eines westlich-östlichen, christlich-muslimischen oder europäisch-asiatischen Gegensatzes zu schreiben. Sie bedient sich; ohne zu zögern; dieser Begrifflichkeiten, aber sie bestimmen in keiner Weise ihre Darstellung und Deutung.
Die Lebendigkeit der Erzählung speist sich aus Hughes' umfangreicher Lektüre der zeitgenössischen Quellen. Das gelingt sehr gut für die römische und byzantinische Zeit, in denen Hughes wissenschaftlich eher zu Hause ist. Die Abschnitte über die osmanische Zeit sind fahriger und weniger genau, da sich Hughes hier mehr auf die Sekundärliteratur stützen muss.
Hughes schreibt nicht im Stil einer Historikerin, die sich populärwissenschaftlich verständlich machen will. Ihre Art der Darstellung würden berufsfixierte Historikerinnen und Historiker nicht zu wählen wagen. Der Lohn dieses Befreiungsschlages ist offensichtlich: Sie muss nicht alles theoretisieren und kontextualisieren. Das Buch ist reich an höchst gelungenen Charakterisierungen, wie die von den Vandalen als "Meereskuckucke, die die Schiffe all jener Länder benutzten, in die sie einfielen", oder des Wikingerführers Swjatoslaw als "Steppenpirat". Wenn Hughes auch nicht allen Klischees ausweichen kann (wie dem, dass Ägäisinseln immer "windgepeitscht" sind).
Die Stärken von Hughes liegen in unmittelbarer Anschauung (offensichtlich hat sie alle von ihr beschriebenen Orte aufgesucht) und im sprechenden Detail. Archäologische Funde und Erkenntnisse webt sie anschaulich in ihre Darstellung ein. Ein fast drei Meter hoher Steinblock, aufgestellt etwa 780 in Xi'an (China), mit einem eingravierten Bericht zur Geschichte des nestorianischen Christentums in China, hat in diesem Buch zu Recht seinen Platz. Die Lehre des Patriarchen Nestorius über die irdische Natur Christi wurde nämlich im Jahre 451 auf dem Konzil von Chalkedon (heute der Istanbuler Stadtteil Kadiköy) als häretisch verdammt. Die Nestorianer sollten in den folgenden Jahrhunderten eine kurze Blüte als eine asiatische Weltreligion, die sich vom Nahen Osten bis China ausbreitete, erleben.
Wirtschaft ist bei Hughes eher ein Transportmittel für die Darstellung der Sozialgeschichte; diese wiederum nimmt sie gerne als Folie für die Geschichte des weiblichen Geschlechts. Die bedeutende Rolle von Frauen in Konstantinopel, nicht nur von so berühmten wie Helena (die Mutter Konstantins) und Theodora (die Gattin Justinians), verdankt sich nach Hughes der Verbindung zwischen heidnischer Umgebung, die weiblichen Gottheiten Bedeutung zumaß, römischen juristischen Grundhaltungen zu den Rechten von Frauen und einem überhöhten Rollenmodell der Jungfrau Maria als Gottesgebärerin in der orthodoxen christlichen Theologie. Auch hier steht bei Hughes Kontinuität im Vordergrund: Für die osmanische Gesellschaft Kostantiniyyes sieht sie eine vergleichbar starke Rolle der Frau.
Hughes lässt alle zu ihrem Recht kommen, selbst mordende Männerhorden wie die Wikinger. Unversöhnlich bleibt sie allein gegenüber der Gegenwart. Zwar schlägt sie gerne einen Bogen von den Nika-Aufständen im Jahr 532 zu den Gezi-Park-Protesten 2013 oder von den Migrationswellen, die die Stadt in ihrer Geschichte erlebte, zu den syrischen Flüchtlingen heute. Aber die Gegenwart, wie sie hier erscheint, ist mehr als trist, sie ist geradezu entweiht: Allgegenwärtig ist in der Beschreibung der Denkmäler, dass man sich diese mit Kebab-Buden, Schlüsselringverkäufern, rotgesichtigen Touristen, abhängenden Hipstern und Zigeunern, die fluoreszierende Unterwäsche verkaufen, teilen muss. Archäologische Fundstätten haben es noch schwerer: Die wenigen, die sich dafür interessieren, finden den Ort hinter einem Abgasrohrhändler oder einem chinesischen Supermarkt, müssen über Katzenkot und Plastikmüll steigen, vorbei an Hunden im Staub, geisterhaften Tauben, um dann Ziegel- und Trümmerhaufen hinter Aluminiumzäunen vorzufinden.
Nur ein Kapitel ist dem Istanbul nach dem Ersten Weltkrieg gewidmet; selbst dieses ist aber mehr ein historischer Rückblick. Hughes lässt sich damit die Chance entgehen, zu erörtern, was es für Istanbul bedeutet, seit nahezu einem Jahrhundert nicht mehr die Hauptstadt eines Reiches, ja nicht einmal der Republik Türkei zu sein. Und was hat das Wachstum der Stadt, die in den fünfziger Jahren deutlich weniger als eine Million Einwohner zählte, zu einer Megalopolis von derzeit mehr als fünfzehn Millionen Menschen für eine Bedeutung für ihren - nach Hughes - immer noch bestehenden Geist und Gestus?
Es ist schwer zu sagen, ob Hughes' Unbehagen gegenüber der Gegenwart eine Marotte ist oder doch eher ihre grundsätzliche Einschätzung widerspiegelt, dass die Auswüchse der modernen Massenzivilisation die Fortschreibung von Geschichte unmöglich machen. Ihr Buch gibt jedenfalls einen anregenden Bericht darüber, was das moderne Istanbul unter sich begraben und hinter sich gelassen hat.
Bettany Hughes: "Istanbul". Die Biographie einer Weltstadt.
Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
928 S., Abb., geb., 35,- [Euro].
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