Paul Ginsborg ist einer der besten Kenner der italienischen Geschichte und aktives
Mitglied der Zivilgesellschaft Italiens, wo er seit 18 Jahren lebt und dessen
Staatsbürger er vor kurzem geworden ist. Sein neues Buch ist geschrieben gegen
die Traurigkeit und Resignation, die sich in seinem Land breitmachen, und
gegen die Enttäuschung über den Zustand der italienischen Demokratie, im und
außerhalb des Landes.
Nach einer kurzen, aber umso treffenderen Skizze der jetzigen Gesellschaft
stellt Ginsborg vier provozierende Fragen:
Lohnt es überhaupt, Italien zu retten? Wenn ja, welchen Platz soll es in der
modernen Welt einnehmen? Von wem und von was soll Italien errettet werden?
Wer kann Italien retten?
Zur Beantwortung der Fragen stellt Ginsborg anlässlich des 150. Jahrestags
der Vereinigung das heutige Italien auf den Prüfstand der Ideen des Risorgimento,
die damals zum Zusammenschluss geführt haben: Patriotismus, Nationalismus,
öffentliche Moral, Gleichheit und Freiheit.
Mitglied der Zivilgesellschaft Italiens, wo er seit 18 Jahren lebt und dessen
Staatsbürger er vor kurzem geworden ist. Sein neues Buch ist geschrieben gegen
die Traurigkeit und Resignation, die sich in seinem Land breitmachen, und
gegen die Enttäuschung über den Zustand der italienischen Demokratie, im und
außerhalb des Landes.
Nach einer kurzen, aber umso treffenderen Skizze der jetzigen Gesellschaft
stellt Ginsborg vier provozierende Fragen:
Lohnt es überhaupt, Italien zu retten? Wenn ja, welchen Platz soll es in der
modernen Welt einnehmen? Von wem und von was soll Italien errettet werden?
Wer kann Italien retten?
Zur Beantwortung der Fragen stellt Ginsborg anlässlich des 150. Jahrestags
der Vereinigung das heutige Italien auf den Prüfstand der Ideen des Risorgimento,
die damals zum Zusammenschluss geführt haben: Patriotismus, Nationalismus,
öffentliche Moral, Gleichheit und Freiheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.2011Der große Verführer
Lässt sich das an Silvio Berlusconi krankende Italien retten?
Der italienische Ministerpräsident ist den Europäern ein Rätsel. Das ruft eine Vielzahl von Deutern auf den Plan, die das "Phänomen Berlusconi" zu erklären versuchen. Dabei lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: Die eine Deutung beschreibt ihn als Quintessenz tiefverwurzelter italienischer Tugenden und Schwächen. In dieser Lesart ist Berlusconi so außerordentlich erfolgreich, weil er die perfekte Antwort auf die Besonderheiten und Widersprüche der italienischen Kultur unter den Vorzeichen der Moderne darstellt. Die andere Deutung sieht in ihm stärker das Produkt historischer, nicht schicksalshafter Konstellationen und mithin einen Politikertypus, der unter den Bedingungen massenmedial gestalteter Politik auch in anderen Demokratien denkbar ist.
Der Journalist Beppe Severgnini vertritt seit langem die erste Richtung. Sein neues Buch wirkt allerdings bitterer als frühere Diagnosen. Es ist der zwischen Fatalismus und Sarkasmus schwankende Versuch, dem Erfolgsrezept eines Mannes auf die Schliche zu kommen, der - wenn die Welt doch nur besser wäre, als sie ist - längst von der öffentlichen Bühne hätte verschwinden müssen. Dass er immer noch da ist, dieser kraftstrotzende Mittsiebziger, bringt einen von bürgerlichen Werten durchdrungenen Intellektuellen wie Severgnini schier zur Verzweiflung.
Zehn Gründe oder "Faktoren" nennt er, die Berlusconi - allen Skandalen und Interessenkonflikten zum Trotz - die Zustimmung vieler Italiener garantieren. Sie reichen vom "Faktor Mensch" (den Italienern gefällt es, sich in Berlusconi wiederzuerkennen, gerade auch in seinen Widersprüchen und menschelnden Ungereimtheiten) über den "Harems-Faktor" (bedarf keiner weiteren Erklärung) bis zum "Palio-Faktor" (emotionale Zuspitzung von Rivalitäten, die zwar inhaltsleer sind, aber das Lagerdenken fördern und Zugehörigkeit verschaffen; diesen "Faktor" setzt Berlusconi überraschend erfolgreich im Dauerfeldzug gegen den längst nicht mehr realexistierenden Kommunismus ein). Die zehn Gründe, die Severgnini auflistet, sind im vorpolitischen Raum der sozialen Gefühle angesiedelt. Und sie funktionierten, sagt er, weil es so etwas wie eine spezifische Wesensart des italienischen Volkes gibt, auf die Berlusconi mit genialem Gespür für das reagiert, was sein Kunde, sprich: der Durchschnittswähler, am liebsten hören und haben will.
Der Rekurs des Autors auf bestimmte typische kulturelle Verhaltensmuster des Italieners im Kollektivsingular läuft Gefahr, Berlusconis meisterhafte Selbstinszenierung zum Dirigenten und Sprachrohr der Wünsche und Hoffnungen seines Volkes letztlich doch nur - wenngleich unter kritischen Vorzeichen - zu perpetuieren. Severgninis Konzentration auf Berlusconis vermeintlich allgewaltige Verführungskraft riskiert also, dessen populistisches Selbstbild zu bestätigen und die Schar der Anhänger des Ministerpräsidenten fälschlich mit "den Italienern" überhaupt gleichzusetzen.
Das Gegenstück zu allen resignativen Bestandsaufnahmen, ja, gleichsam eine Antwort darauf, bildet das ambitionierte Projekt des britisch-italienischen Historikers Paul Ginsborg. Er will zeigen, dass sich Italien zwar in einem desolaten Zustand befindet, aber "gerettet" werden kann. Sein gelehrter Essay kombiniert den Blick auf die italienische Nationalbewegung, auf das "Risorgimento" im 19. Jahrhundert, mit der Kritik an der eigenen Zeit. Die Betrachtung der Vergangenheit zum Zwecke der Erziehung der Gegenwart gelangt erstens zu einem positiven Gesamturteil über die Gründung des nationalen Staates der Italiener, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird. Sie mündet zweitens in den aus Schelte und Ansporn bestehenden Appell an die italienische Gesellschaft, sich der zivilbürgerlichen Werte von einst zu erinnern, um daraus für die Zukunft Abwehr- und Erneuerungskräfte zu mobilisieren.
Abgewehrt werden müssen laut Ginsborg die alten inneren Feinde: die zu starke katholische Kirche, der Klientelismus, die Neigung zu diktatorialen Regimes, worunter auch Berlusconis Medienherrschaft gerechnet wird, sowie die Ideenarmut der Linken. Die drei zuletzt Genannten zählte auch Severgnini zu Italiens subversiven Faktoren, aber Ginsborg ist optimistischer, was ihre Überwindung angeht. Ihm zufolge kann das Land genesen, wenn es sich auf eine Reihe alternativer Kulturmuster besinnt, die zwar weniger dominant sind als die klassischen nationalen Identitätsstifter Ehre, Opfer, Familie, aber so etwas wie den spezifischen Habitus der Italiener im Guten ausmachen. Es sind, so Ginsborg, die Organisation des Sozialen auf lokaler Ebene, die Hinwendung zu Europa, das Verlangen nach Gleichheit sowie die Bereitschaft und Neigung zum harmonischen Ausgleich. Er findet diese Leitbilder im "Risorgimento" des 19. Jahrhunderts und möchte sie für die "Wiederauferstehung" des 21. Jahrhunderts reaktivieren.
Die Analogie wird jedoch eher assoziativ skizziert als systematisch begründet. Eine systematische Analyse genau dieser als positiv hingestellten Kulturmuster müsste zum Beispiel den religiösen Antrieb bei deren Herausbildung näher untersuchen. Auf diesem Feld kommt Ginsborg über antiklerikale Klischees jedoch nicht hinaus. Sein Grenzgang zwischen historischem Rückblick und normativem Postulat passt gleichwohl zum Chor der Ärzte am Bett von Bella Italia, die sich gefälligst retten lassen möge, denn es lohnt sich ja durchaus - nicht nur auf Italien bezogen - die alte Frage hin und wieder zu stellen, welche Zukunftsvorstellung eine Gesellschaft von sich selbst hat, über welche Werte und Wünsche sie sich definiert und warum es sie überhaupt als Nation geben soll.
CHRISTIANE LIERMANN
Beppe Severgnini: Überleben mit Berlusconi. Karl Blessing Verlag, München 2011. 224 S., 17,99 [Euro].
Paul Ginsborg: Italien retten. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 128 S., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lässt sich das an Silvio Berlusconi krankende Italien retten?
Der italienische Ministerpräsident ist den Europäern ein Rätsel. Das ruft eine Vielzahl von Deutern auf den Plan, die das "Phänomen Berlusconi" zu erklären versuchen. Dabei lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: Die eine Deutung beschreibt ihn als Quintessenz tiefverwurzelter italienischer Tugenden und Schwächen. In dieser Lesart ist Berlusconi so außerordentlich erfolgreich, weil er die perfekte Antwort auf die Besonderheiten und Widersprüche der italienischen Kultur unter den Vorzeichen der Moderne darstellt. Die andere Deutung sieht in ihm stärker das Produkt historischer, nicht schicksalshafter Konstellationen und mithin einen Politikertypus, der unter den Bedingungen massenmedial gestalteter Politik auch in anderen Demokratien denkbar ist.
Der Journalist Beppe Severgnini vertritt seit langem die erste Richtung. Sein neues Buch wirkt allerdings bitterer als frühere Diagnosen. Es ist der zwischen Fatalismus und Sarkasmus schwankende Versuch, dem Erfolgsrezept eines Mannes auf die Schliche zu kommen, der - wenn die Welt doch nur besser wäre, als sie ist - längst von der öffentlichen Bühne hätte verschwinden müssen. Dass er immer noch da ist, dieser kraftstrotzende Mittsiebziger, bringt einen von bürgerlichen Werten durchdrungenen Intellektuellen wie Severgnini schier zur Verzweiflung.
Zehn Gründe oder "Faktoren" nennt er, die Berlusconi - allen Skandalen und Interessenkonflikten zum Trotz - die Zustimmung vieler Italiener garantieren. Sie reichen vom "Faktor Mensch" (den Italienern gefällt es, sich in Berlusconi wiederzuerkennen, gerade auch in seinen Widersprüchen und menschelnden Ungereimtheiten) über den "Harems-Faktor" (bedarf keiner weiteren Erklärung) bis zum "Palio-Faktor" (emotionale Zuspitzung von Rivalitäten, die zwar inhaltsleer sind, aber das Lagerdenken fördern und Zugehörigkeit verschaffen; diesen "Faktor" setzt Berlusconi überraschend erfolgreich im Dauerfeldzug gegen den längst nicht mehr realexistierenden Kommunismus ein). Die zehn Gründe, die Severgnini auflistet, sind im vorpolitischen Raum der sozialen Gefühle angesiedelt. Und sie funktionierten, sagt er, weil es so etwas wie eine spezifische Wesensart des italienischen Volkes gibt, auf die Berlusconi mit genialem Gespür für das reagiert, was sein Kunde, sprich: der Durchschnittswähler, am liebsten hören und haben will.
Der Rekurs des Autors auf bestimmte typische kulturelle Verhaltensmuster des Italieners im Kollektivsingular läuft Gefahr, Berlusconis meisterhafte Selbstinszenierung zum Dirigenten und Sprachrohr der Wünsche und Hoffnungen seines Volkes letztlich doch nur - wenngleich unter kritischen Vorzeichen - zu perpetuieren. Severgninis Konzentration auf Berlusconis vermeintlich allgewaltige Verführungskraft riskiert also, dessen populistisches Selbstbild zu bestätigen und die Schar der Anhänger des Ministerpräsidenten fälschlich mit "den Italienern" überhaupt gleichzusetzen.
Das Gegenstück zu allen resignativen Bestandsaufnahmen, ja, gleichsam eine Antwort darauf, bildet das ambitionierte Projekt des britisch-italienischen Historikers Paul Ginsborg. Er will zeigen, dass sich Italien zwar in einem desolaten Zustand befindet, aber "gerettet" werden kann. Sein gelehrter Essay kombiniert den Blick auf die italienische Nationalbewegung, auf das "Risorgimento" im 19. Jahrhundert, mit der Kritik an der eigenen Zeit. Die Betrachtung der Vergangenheit zum Zwecke der Erziehung der Gegenwart gelangt erstens zu einem positiven Gesamturteil über die Gründung des nationalen Staates der Italiener, dessen 150. Geburtstag in diesem Jahr begangen wird. Sie mündet zweitens in den aus Schelte und Ansporn bestehenden Appell an die italienische Gesellschaft, sich der zivilbürgerlichen Werte von einst zu erinnern, um daraus für die Zukunft Abwehr- und Erneuerungskräfte zu mobilisieren.
Abgewehrt werden müssen laut Ginsborg die alten inneren Feinde: die zu starke katholische Kirche, der Klientelismus, die Neigung zu diktatorialen Regimes, worunter auch Berlusconis Medienherrschaft gerechnet wird, sowie die Ideenarmut der Linken. Die drei zuletzt Genannten zählte auch Severgnini zu Italiens subversiven Faktoren, aber Ginsborg ist optimistischer, was ihre Überwindung angeht. Ihm zufolge kann das Land genesen, wenn es sich auf eine Reihe alternativer Kulturmuster besinnt, die zwar weniger dominant sind als die klassischen nationalen Identitätsstifter Ehre, Opfer, Familie, aber so etwas wie den spezifischen Habitus der Italiener im Guten ausmachen. Es sind, so Ginsborg, die Organisation des Sozialen auf lokaler Ebene, die Hinwendung zu Europa, das Verlangen nach Gleichheit sowie die Bereitschaft und Neigung zum harmonischen Ausgleich. Er findet diese Leitbilder im "Risorgimento" des 19. Jahrhunderts und möchte sie für die "Wiederauferstehung" des 21. Jahrhunderts reaktivieren.
Die Analogie wird jedoch eher assoziativ skizziert als systematisch begründet. Eine systematische Analyse genau dieser als positiv hingestellten Kulturmuster müsste zum Beispiel den religiösen Antrieb bei deren Herausbildung näher untersuchen. Auf diesem Feld kommt Ginsborg über antiklerikale Klischees jedoch nicht hinaus. Sein Grenzgang zwischen historischem Rückblick und normativem Postulat passt gleichwohl zum Chor der Ärzte am Bett von Bella Italia, die sich gefälligst retten lassen möge, denn es lohnt sich ja durchaus - nicht nur auf Italien bezogen - die alte Frage hin und wieder zu stellen, welche Zukunftsvorstellung eine Gesellschaft von sich selbst hat, über welche Werte und Wünsche sie sich definiert und warum es sie überhaupt als Nation geben soll.
CHRISTIANE LIERMANN
Beppe Severgnini: Überleben mit Berlusconi. Karl Blessing Verlag, München 2011. 224 S., 17,99 [Euro].
Paul Ginsborg: Italien retten. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 128 S., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.05.2011Die sanftmütige Nation
Paul Ginsborg sucht nach Auswegen aus der
politisch desolaten Lage seiner Wahlheimat Italien
Lohnt es sich, Italien zu retten? In einer kleinen Streitschrift provoziert Paul Ginsborg mit diesem Titel des Eingangskapitels die Antwort: klar doch, dumme Frage. Aber obgleich die Antwort eindeutig ausfällt, ist die Frage keineswegs dumm. Man muss sie nur präzisieren. Es die Frage nach dem Selbstverständnis des Nationalstaates Italien in einem die Vereinigung suchenden Europa und in einer globalisierten Welt.
Der Nationalstaat entstand vor 150 Jahren im Risorgimento mit dem Ziel, das Land zu einigen und in die Moderne zu führen. Das war ein durchaus widersprüchlicher Prozess in der Dialektik von Patriotismus und Nationalismus, dessen negative Seiten schließlich in Faschismus und Diktatur mündeten. Aber Ginsborg erinnert auch an den großen Republikaner und Föderalisten Carlo Cattaneo, der bereits im Risorgimento die Maxime prägte, dass die Freiheit der anderen Nation die Bedingung der eigenen Freiheit sei.
Jedenfalls waren sich die Eliten des Landes Mitte des 19. Jahrhunderts relativ einig, dass Italien als geographische und sprachliche Einheit eine nationale Identität besitze, es aber an der politischen Einheit mangele. Ein Staat müsse her. Auch damit Italien im Ausland wieder respektiert werden könne.
Heute scheint es genau umgekehrt zu sein. Der Einheitsstaat ist da, aber es fehlt irgendwie trotz der mit großem Aufwand betriebenen Feierlichkeiten zur Gründung vor 150 Jahren an nationaler Identität. Geblieben ist die Sorge um das schlechte Bild im Ausland. In der ganzen westlichen Welt wird die Gegenwart als eine Zeit des Niedergangs der Ideen empfunden, und nach dem Zusammenbrechen der Finanzmärkte machen sich auch wirtschaftliche Ängste breit. In Italien zeigen sich diese Phänomene jedoch zugespitzter als anderswo.
Das Land ist zwischen dem Norden, dem Zentrum, und dem Süden zerrissen, Vertrauen zu den Staatseinrichtungen hat kaum einer mehr. Die Korruption nimmt wieder zu, trotz Erfolge der Ermittlungsbehörden weiten sich die mafiösen Strukturen aus, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer und die allgegenwärtige TV-Kultur predigt das Credo der Konsumgesellschaft: Arbeite und gib dein Geld aus.
Traurigkeit über den gegenwärtigen Zustand des Landes hat breite Schichten des Landes erfasst. Resignation macht sich breit. In zwanzig Jahren populistischer Politik ist Italien weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich auf dem Stand der Zeit.
Der britische Historiker Paul Ginsborg, in London geboren, lebt seit 1992 in Florenz. An der Universität der Stadt unterrichtet er zeitgenössische europäische Geschichte. Inzwischen hat er die italienische Staatsbürgerschaft angenommen. Deshalb fühlt er sich berufen, mit seinem Text, halb ist es ein Essay, halb eine politische Programmschrift, ein „Gegengift“ gegen die Passivität der kritischen Schichten zu entwickeln.
Also präzisiert er die Ausgangsfrage: Wovor muss sich Italien retten? Seine Antwort: Vor einer zu starken Kirche in einem zu schwachen Staat, vor der Allgegenwart des Klientelismus, vor der Wiederkehr der Diktaturen und schließlich vor der Ideenarmut der Linken. Heute wachse die späte Einsicht, „dass die Jahre unter Silvio Berlusconi nicht nur ein flüchtiges Spektakel“ waren: ein neuer Typ von Regierung sei entstanden, ein „Regime“, das zwar formal demokratisch ist, „in Wirklichkeit aber stark von oben kontrolliert wird“.
Wer kann Italien retten? So streckenweise brillant die Analyse ist, so schwammig bleibt der praktische, also auf eine politische Renovation gerichtete Teil der Streitschrift. Immerhin entwirft Ginsborg mit Rückgriff auf die Geschichte, die Stadtrepubliken und die langen demokratischen Traditionen das schöne Bild von der Sanftmut als einer „sozialen Tugend“ Italiens. Es gelte, schreibt der Autor, das kritische Potential der Mittelschichten zu wecken. Aus einem „breiten sozialen und politischen Bündnis“ dieser Schichten mit Teilen der unteren Bevölkerungsschichten könnte eine Bewegung entstehen „gegen Berlusconi, gegen den neoliberalen Konsens“. Mit Beharrlichkeit, Kreativität und mobilen Reformen, so die Schlüsselbegriffe, könne man das Hauptziel dieser Bewegung angehen: „die Schaffung einer sanftmütigen Nation“. HENNING KLÜVER
PAUL GINSBORG: Italien retten. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 128 S., 10,90 Euro.
Die TV-Kultur predigt das
Credo der Konsumgesellschaft:
Arbeite und gib dein Geld aus.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Paul Ginsborg sucht nach Auswegen aus der
politisch desolaten Lage seiner Wahlheimat Italien
Lohnt es sich, Italien zu retten? In einer kleinen Streitschrift provoziert Paul Ginsborg mit diesem Titel des Eingangskapitels die Antwort: klar doch, dumme Frage. Aber obgleich die Antwort eindeutig ausfällt, ist die Frage keineswegs dumm. Man muss sie nur präzisieren. Es die Frage nach dem Selbstverständnis des Nationalstaates Italien in einem die Vereinigung suchenden Europa und in einer globalisierten Welt.
Der Nationalstaat entstand vor 150 Jahren im Risorgimento mit dem Ziel, das Land zu einigen und in die Moderne zu führen. Das war ein durchaus widersprüchlicher Prozess in der Dialektik von Patriotismus und Nationalismus, dessen negative Seiten schließlich in Faschismus und Diktatur mündeten. Aber Ginsborg erinnert auch an den großen Republikaner und Föderalisten Carlo Cattaneo, der bereits im Risorgimento die Maxime prägte, dass die Freiheit der anderen Nation die Bedingung der eigenen Freiheit sei.
Jedenfalls waren sich die Eliten des Landes Mitte des 19. Jahrhunderts relativ einig, dass Italien als geographische und sprachliche Einheit eine nationale Identität besitze, es aber an der politischen Einheit mangele. Ein Staat müsse her. Auch damit Italien im Ausland wieder respektiert werden könne.
Heute scheint es genau umgekehrt zu sein. Der Einheitsstaat ist da, aber es fehlt irgendwie trotz der mit großem Aufwand betriebenen Feierlichkeiten zur Gründung vor 150 Jahren an nationaler Identität. Geblieben ist die Sorge um das schlechte Bild im Ausland. In der ganzen westlichen Welt wird die Gegenwart als eine Zeit des Niedergangs der Ideen empfunden, und nach dem Zusammenbrechen der Finanzmärkte machen sich auch wirtschaftliche Ängste breit. In Italien zeigen sich diese Phänomene jedoch zugespitzter als anderswo.
Das Land ist zwischen dem Norden, dem Zentrum, und dem Süden zerrissen, Vertrauen zu den Staatseinrichtungen hat kaum einer mehr. Die Korruption nimmt wieder zu, trotz Erfolge der Ermittlungsbehörden weiten sich die mafiösen Strukturen aus, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer und die allgegenwärtige TV-Kultur predigt das Credo der Konsumgesellschaft: Arbeite und gib dein Geld aus.
Traurigkeit über den gegenwärtigen Zustand des Landes hat breite Schichten des Landes erfasst. Resignation macht sich breit. In zwanzig Jahren populistischer Politik ist Italien weder gesellschaftlich noch wirtschaftlich auf dem Stand der Zeit.
Der britische Historiker Paul Ginsborg, in London geboren, lebt seit 1992 in Florenz. An der Universität der Stadt unterrichtet er zeitgenössische europäische Geschichte. Inzwischen hat er die italienische Staatsbürgerschaft angenommen. Deshalb fühlt er sich berufen, mit seinem Text, halb ist es ein Essay, halb eine politische Programmschrift, ein „Gegengift“ gegen die Passivität der kritischen Schichten zu entwickeln.
Also präzisiert er die Ausgangsfrage: Wovor muss sich Italien retten? Seine Antwort: Vor einer zu starken Kirche in einem zu schwachen Staat, vor der Allgegenwart des Klientelismus, vor der Wiederkehr der Diktaturen und schließlich vor der Ideenarmut der Linken. Heute wachse die späte Einsicht, „dass die Jahre unter Silvio Berlusconi nicht nur ein flüchtiges Spektakel“ waren: ein neuer Typ von Regierung sei entstanden, ein „Regime“, das zwar formal demokratisch ist, „in Wirklichkeit aber stark von oben kontrolliert wird“.
Wer kann Italien retten? So streckenweise brillant die Analyse ist, so schwammig bleibt der praktische, also auf eine politische Renovation gerichtete Teil der Streitschrift. Immerhin entwirft Ginsborg mit Rückgriff auf die Geschichte, die Stadtrepubliken und die langen demokratischen Traditionen das schöne Bild von der Sanftmut als einer „sozialen Tugend“ Italiens. Es gelte, schreibt der Autor, das kritische Potential der Mittelschichten zu wecken. Aus einem „breiten sozialen und politischen Bündnis“ dieser Schichten mit Teilen der unteren Bevölkerungsschichten könnte eine Bewegung entstehen „gegen Berlusconi, gegen den neoliberalen Konsens“. Mit Beharrlichkeit, Kreativität und mobilen Reformen, so die Schlüsselbegriffe, könne man das Hauptziel dieser Bewegung angehen: „die Schaffung einer sanftmütigen Nation“. HENNING KLÜVER
PAUL GINSBORG: Italien retten. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011. 128 S., 10,90 Euro.
Die TV-Kultur predigt das
Credo der Konsumgesellschaft:
Arbeite und gib dein Geld aus.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die politische Lage Italiens ist trostlos, das Land zerrissen, breite Schichten sind demoralisiert und resigniert. Dieser Einschätzung des britischen Historikers Paul Ginsborg, der seit 1992 in Italien lebt, kann Henning Klüver nur zustimmen. Die Analyse der aktuellen Situation in "Italien retten" scheint ihm glänzend. Aber Ginsborg will mehr: nämlich die kritischen Schichten aus ihrer Lethargie reißen und plädiert für eine Renaissance einer "sanftmütigen Nation" mit sozialen Tugenden. Allerdings bleibt der Autor im praktischen Teil seiner Streitschrift für den Geschmack Rezensenten zu "schwammig".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Nicht aus der bequemen Warte des Historikers, der das Ende schon im Voraus kennt, sondern als aufmerksamer Beobachter der aktuellen politischen Entwicklungen geht Ginsborg an das Wagnis heran, einen noch nicht abgeschlossenen Prozess zu beschreiben." Neue Zürcher Zeitung über Ginsborgs Berlusconi- Buch