Produktdetails
  • Verlag: Schöffling
  • Seitenzahl: 165
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 292g
  • ISBN-13: 9783895612701
  • Artikelnr.: 25323654
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998

Balance der Litfaßsäulen
Hartmut Langes italienische Novellen / Von Ernst Osterkamp

H Hartmut Lange fügt der stattlichen Liste seiner Novellenbücher nun einen Band "Italienische Novellen" hinzu. Wächst uns ein neuer Paul Heyse heran? Das wäre zu begrüßen; man sollte das Lesevergnügen, das Heyses Novellen bereiten, nicht unterschätzen. Und über die Metiersicherheit Heyses verfügt der Novellist Hartmut Lange mittlerweile durchaus.

An den Anfang seines neuen Buchs stellt Hartmut Lange eine Wiener Litfaßsäule, um sie plakativ das Programm seiner Novellistik verkünden zu lassen: "Sie wirkt, als könne sie jederzeit aus der Balance geraten und kippen, ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn man näher herantritt." Auf den Eindruck, den diese Litfaßsäule vermittelt, können sich die Leser von Langes drei neuen Novellen (von denen nur zwei in Italien spielen) verlassen: Sie erzählen Geschichten von Menschen, denen alle Gewißheiten wegrutschen und deren Leben aus der Balance gerät. Hier wird Leuten, die so sicher auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen vermeinten wie diese Litfaßsäule, der Grund unter den Füßen weggezogen, bis es sie hinwirft. Da dies im Prinzip jedem widerfahren kann, sollte man sich das Wie und Warum ansehen: so wie die Plakate der Litfaßsäule, von denen uns der Autor mitteilt, daß ja auch auf ihnen gelegentlich "etwas zu sehen ist, dessen Sinn man nicht sofort begreift". Kaum ist er herangetreten, befindet sich der Leser mitten in den verstörenden Wirklichkeiten von Langes Novellen.

Da ist zum Beispiel der Berliner Bankangestellte Henninger, der im unteren Drittel dieser Litfaßsäule, die in Wahrheit eine voluminöse novellistische Leseanweisung ist, ein Plakat entdeckt, auf dem unter der fettgedruckten Zeile "Sie sind verschwunden" kommentarlos rund fünfhundert Namen stehen. Einer plötzlichen Laune folgend, setzt Henninger seinen eigenen Namen unter diese Liste und verwandelt sich damit aus einem deutschen Bankangestellten in eine deutsche Novellenfigur. Denn mit seiner Unterschrift unter die Liste der Verschwundenen löst er einen Sog der Erzählung aus, an deren Ende für ihn die Furie des Verschwindens lauert.

Von nun an kommt alles anders, als er es geplant hat. Statt nach Berlin zurückzureisen, begibt er sich zunächst auf die Suche nach einer Frau, die er früher gekannt hat, begegnet aber nicht ihr, sondern einem geheimnisvollen Fremden. Dann tauscht er seinen Flugschein nach Berlin gegen einen solchen nach Venedig, wo schon manche deutsche Novellenfigur lebensgeschichtliche Irritationen erfahren hat. In Venedig trifft er den Fremden wieder, einen Ägypter, und läßt sich von ihm in die Stadt Cividale im Friaul locken. Dort, so versichert der Ägypter Henninger, sei er selbst der Sache, die er suche, nähergekommen, eine Mitteilung, die nun auch Henninger sich auf die Suche begeben läßt, obgleich er nicht weiß, was er sucht. Nächtens bricht er in das Museum der Stadt ein, weil ihm der plötzlich abgereiste Ägypter in einem Brief angedeutet hat, dort werde er die Erklärung dafür finden, weshalb der Geheimnisvolle immer wieder nach Cividale zurückkehre. Und dabei ertappen ihn die Carabinieri . . .

Man muß die Geschichte, die Henninger schließlich bis nach Kairo und dann wieder nach Wien führt, hier nicht weitererzählen. Es wird auch so deutlich, daß Lange die Technik der novellistischen Handlungsumschwünge und überraschenden Wendungen und die erzählerischen Mittel beherrscht, das Vertraute unvertraut erscheinen zu lassen. Da fällt einer Schritt für Schritt aus den gewohnten Ordnungen und droht seine Identität zu verlieren, bis zum Schluß nur noch die Kreditkarte die Brücke zur vertrauten Realität bildet.

Warum das alles? Leider gibt Lange seiner Neigung nach, den "Sinn" seiner Novelle in Reflexionen seiner Hauptfigur so offen auszusprechen, daß man ihn "sofort begreift". ",Für mich', dachte Henninger, ,gab es immer nur Börsenberichte.' . . . Und er erinnerte sich daran, daß er früher, ,es ist lange her', dachte Henninger, ,auch einmal fähig gewesen war, aus Lust und Laune einfach nur unterwegs zu sein'." Hier gerät die Novelle ins Ächzen und gibt ihr Geheimnis preis: Es sind die üblichen Mittelschicht-Frustrationen, die ihren Mechanismus in Gang setzten.

Es würde Hartmut Langes Novellen gut bekommen, wenn er noch diskreter gegenüber seinen Figuren wäre. Auch kommt sich der Leser unterschätzt vor, wenn er Deutungshinweise wie denjenigen erhält, daß Henninger "mit seiner Unterschrift auf dem Plakat so etwas wie einen Zwang über sich verhängt hatte". Zur von Lange angestrebten Altmeisterlichkeit gehört auch eine Kunst des Verschweigens. Sie verbietet Sätze wie diesen: "Die Dinge um sie her, das war unverkennbar, hatten ihre Vertrautheit verloren." Wenn eine Geschichte gut erzählt ist, braucht so etwas nicht mehr ausgesprochen zu werden.

Der zuletzt zitierte Satz steht im Mittelstück des Bandes, der Novelle "Die Verteidigung des Nichts". Die unerhörte Begebenheit dieser atmosphärisch dichten Erzählung ist die tödliche Erkrankung eines Achtzehnjährigen, die sein Vater den anderen Familienmitgliedern so lange wie möglich zu verheimlichen sucht. Alle Symptome und Untersuchungsergebnisse kommentiert er mit der Floskel "Es ist nichts", so daß sich eine Atmosphäre beklemmender Ungewißheit und Verunsicherung immer dichter über die Familie legt. Am Ende steht dann das unausweichliche Nichts des Todes; es erwartet nicht allein den kranken Jungen, sondern auch den Vater, der aus der Krankheit seines Sohnes ein Nichts, aus Schonung für die anderen, zu machen versucht hat. Nach diesem eindrucksvollen ernsten Text fällt die letzte (nichtitalienische) Novelle ein wenig ab; sie erzählt von dem Seelendrama, das der Einzug eines ungewöhnlichen Mieters bei einer alternden Concierge auslöst.

Langes Novellistik hat ihre Wurzeln in vormodernen Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts; von allen Strömungen der Gegenwartsliteratur hält sie sich intransigent abgekehrt. Es liegt eine hauchdünne Staubschicht auf dieser Prosa. Lange läßt selbst heutiges Berliner Bankpersonal in patinierten Sätzen denken: "Man wird an den Daten erkennen, daß ich nicht in Wien bin, wo man mich billigerweise vermutet." Da werden erlesene Vokabeln für triviale Sachverhalte gewählt: Herr Korzak "bedeutete dem Hund, indem er an der Leine zog, das Winseln zu unterlassen". In solchen Sätzen weicht der strenge Anspruch der Novelle einer selbstgefälligen Inszenierung der Kunstanstrengung. Befremdlich auch sind die Perspektivwechsel. Immer wieder nimmt der Erzähler, der die geheimen Gedanken seiner Figuren kennt, einen anonymen Beobachterstandpunkt ein und tritt in Distanz zu seinen Gestalten: "Es war schwierig, durch das Fenster und mit der gebotenen Zurückhaltung Näheres über die plötzliche Unruhe in der Familie zu erfahren . . ." Das hindert den Erzähler nicht daran, wenige Absätze weiter dem Leser die verborgenen Gefühle einer der Personen hinter dem Fenster mitzuteilen. Solche Perspektivwechsel sind ein bequemes Mittel, die Spannung zu steigern. Das sind die Gefahrenpunkte der Langeschen Novellistik, wo an die Stelle der erstrebten Altmeisterlichkeit das erreichte Kunstgewerbe tritt. Der Erzähler Hartmut Lange kann zu viel, als daß er sich solche Nachlässigkeiten und Tricks durchgehen lassen sollte.

Hartmut Lange: "Italienische Novellen". Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 1998. 166 S., geb., 34,- DM.

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