Sie lernen sich kennen, als Pauline Viardot 1843 im Alter von zweiundzwanzig Jahren zum ersten Mal in Russland auf der Bühne steht. Da ist sie in Westeuropa bereits eine gefeierte Sängerin und seit drei Jahren mit dem wesentlich älteren einstigen Operndirektor Louis Viardot verheiratet. Iwan Turgenjew ist fünfundzwanzig und steht am Beginn seiner Karriere als Schriftsteller. Er ist sofort hingerissen von ihr: "Seit jenem Augenblick, seit jener schicksalhaften Minute, gehörte ich nur noch ihr." Er folgt dem Ehepaar nach Paris und Deutschland, einige Jahre leben sie in Baden-Baden. Sie ist erste Leserin seiner Manuskripte, er fördert ihre Arbeit als Komponistin und übersetzt zusammen mit Ehemann Louis die Werke russischer Schriftsteller. Zu den Gästen den Salons, den Pauline Viardot führt, gehören die wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen Kunst und Kultur.
An der unkonventionellen Beziehung entzündete sich viel Klatsch und Tratsch, und die meisten vermuteten, daß Turgenjew unter der Liebe zu einer verheirateten Frau litt. Sie hat alle ihre Briefe an ihn vernichtet. Aber um die fünfhundert Briefe Turgenjews an sie und ihre Familie, die Erinnerungen der Zeitgenossen und biographische Forschungen der letzten Zeit lassen diese außergewöhnliche Beziehung heute in einem ganz neuen Licht erscheinen.
An der unkonventionellen Beziehung entzündete sich viel Klatsch und Tratsch, und die meisten vermuteten, daß Turgenjew unter der Liebe zu einer verheirateten Frau litt. Sie hat alle ihre Briefe an ihn vernichtet. Aber um die fünfhundert Briefe Turgenjews an sie und ihre Familie, die Erinnerungen der Zeitgenossen und biographische Forschungen der letzten Zeit lassen diese außergewöhnliche Beziehung heute in einem ganz neuen Licht erscheinen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2018Liebe in fünf Sprachen
Doppelporträt: Iwan Turgenjew und die Sängerin Pauline Viardot waren sich lebenslang nah
Auf ihrer Beerdigung 1910 in Paris wurde ein Stück aus dem Requiem von Gabriel Fauré gegeben, der fast einmal ihr Schwiegersohn geworden wäre. Die Trauerreden hielten Jules Massenet, für dessen Durchbruch als Komponist sie einst gesorgt, und Camille Saint-Saëns, den sie ebenfalls lange gefördert hatte; sein "Karneval der Tiere" war fünfundzwanzig Jahre zuvor bei einem Hauskonzert in ihrem Salon in der Rue de Douai erstmals gespielt worden. Im Park ihrer Villa in Baden-Baden, wo sie sich nach ihrem Abschied von der Bühne um 1860 niederließ, ließ sie eine "Ton- und Kunsthalle" für Privataufführungen errichten, die alles von Rang und Namen anzog, Musiker wie Johannes Brahms ebenso wie das preußische Königspaar oder Otto von Bismarck. Vorher hatte sie fast drei Jahrzehnte auf europäischen Podien reüssiert und das Opernpublikum in Paris, London, Mailand, Berlin oder St. Petersburg zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Lebenslang pflegte sie enge Freundschaften mit Clara Schumann und George Sand.
Die Sängerin, Komponistin, Gesangspädagogin, Salongastgeberin und Kunstförderin Pauline Viardot-García (1821 bis 1910) ist ein Zentralgestirn der großen Ära bürgerlicher Hochkultur, als die Opernbühne zugleich Götterhimmel und Mittelpunkt des Universums war. Einer spanischen Musikerfamilie entstammend und in jungen Jahren zunächst ganz im Schatten ihrer gefeierten Schwester - der frühverstorbenen Operndiva María Malibran -, wird sie nach deren frühem Tod zu ihrer Wiedergängerin und schlägt bald als Desdemona, Fidès oder Norma alle, die sie je erleben, in den Bann. Iwan Turgenjew, damals ein aufstrebender junger Schriftsteller aus bestem Hause, trifft ihr Zauber mit besonders nachhaltiger Wucht. Seit er sie fünfundzwanzigjährig in St. Petersburg 1843 erstmals hört, widmet er sein weiteres Dasein dieser idealen Liebe und folgt der Angebeteten durch ganz Europa, buchstäblich bis ans Ende seines Lebens.
Zunächst als ausdauernder Gast und reger Briefeschreiber, dann bald als Nachbar, ja Familienmitglied in Paris wie später auch in Baden-Baden lebt Turgenjew eine Leidenschaft mit ihr, die sich von Paulines bürgerlichem Ehe- und Familienleben weder trennen noch beirren lässt. Dem älteren Gatten, wie er ein passionierter Jäger, ist und bleibt der Liebesfreund stets freundschaftlich verbunden. Im Übrigen unterhält Iwan Turgenjew selbst gelegentlich noch andere Liebschaften, aus denen sogar Nachwuchs folgt; eine Tochter wird später von Pauline in die Familie aufgenommen. So richtet man sich ein.
Dieser bemerkenswerten Beziehung widmet sich jetzt ein ansprechender kleiner Band. Erschienen aus Anlass von Turgenjews 200. Geburtstag, der dieses Jahr zu einigen schönen Neuausgaben dieses großen Autors führt, zeichnet er ein anschauliches Doppelporträt der beiden Künstlerperpsönlichkeiten, skizziert ihre bewegten Lebenswege vor dem Hintergrund des revolutionären Zeitgeschehens und wahrt dabei wohltuende Diskretion gegenüber dem Intimleben.
Der Fokus liegt hauptsächlich auf Turgenjew, aus dessen Briefen ausführlich zitiert wird (der andere Teil der Korrespondenz ist leider nicht erhalten) und dessen Erzählwerke, oft im Austausch mit Viardot-García entstanden, vorgestellt und nacherzählt werden. Von ihrem Lebenswerk erfährt man deutlich weniger, was gewiss auch daran liegt, dass ihre Gesangskunst flüchtig ist, während ihre zahlreichen Kompositionen bis heute Randerscheinungen des Konzertrepertoires geblieben sind.
Die Darstellung ist durchweg zugänglich und sehr routiniert (die Zusammenarbeit des Autorinnenduos hat sich schon bei etlichen anderen Büchern, beispielsweise über Sofja Tolstaja oder Madame Blavatsky, bewährt). Allerdings wäre man an manchen Stellen für mehr Information und insgesamt mehr Genauigkeit dankbar, zumal beim Quellennachweis, der in vielen Fällen unvollständig oder unklar bleibt. Allein die Frage, in welcher Sprache die zitierten Passagen ursprünglich abgefasst sind - Viardot-García und Iwan Turgenjew sprachen und schrieben in vier bis fünf europäischen Sprachen -, wäre doch von Interesse.
So bleibt als stärkster Eindruck dieser anregenden Lektüre vor allem der Wunsch, endlich eine umfassend recherchierte, wissenschaftlich fundierte und doch ausführlich-lebendig erzählte Biographie über Pauline Viardot-García lesen zu können, die diese ungewöhnliche Frau und Künstlerin nicht vorrangig über ihre Beziehungen zu bedeutenden Männern begreift. Die Gelegenheit dazu scheint günstig: ihr zweihundertster Geburtstag steht in drei Jahren an.
TOBIAS DÖRING
Ursula Keller, Natalja Sharandak: "Iwan Turgenjew und Pauline Viardot. Eine außergewöhnliche Liebe".
Insel Verlag, Berlin 2018. 278 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doppelporträt: Iwan Turgenjew und die Sängerin Pauline Viardot waren sich lebenslang nah
Auf ihrer Beerdigung 1910 in Paris wurde ein Stück aus dem Requiem von Gabriel Fauré gegeben, der fast einmal ihr Schwiegersohn geworden wäre. Die Trauerreden hielten Jules Massenet, für dessen Durchbruch als Komponist sie einst gesorgt, und Camille Saint-Saëns, den sie ebenfalls lange gefördert hatte; sein "Karneval der Tiere" war fünfundzwanzig Jahre zuvor bei einem Hauskonzert in ihrem Salon in der Rue de Douai erstmals gespielt worden. Im Park ihrer Villa in Baden-Baden, wo sie sich nach ihrem Abschied von der Bühne um 1860 niederließ, ließ sie eine "Ton- und Kunsthalle" für Privataufführungen errichten, die alles von Rang und Namen anzog, Musiker wie Johannes Brahms ebenso wie das preußische Königspaar oder Otto von Bismarck. Vorher hatte sie fast drei Jahrzehnte auf europäischen Podien reüssiert und das Opernpublikum in Paris, London, Mailand, Berlin oder St. Petersburg zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Lebenslang pflegte sie enge Freundschaften mit Clara Schumann und George Sand.
Die Sängerin, Komponistin, Gesangspädagogin, Salongastgeberin und Kunstförderin Pauline Viardot-García (1821 bis 1910) ist ein Zentralgestirn der großen Ära bürgerlicher Hochkultur, als die Opernbühne zugleich Götterhimmel und Mittelpunkt des Universums war. Einer spanischen Musikerfamilie entstammend und in jungen Jahren zunächst ganz im Schatten ihrer gefeierten Schwester - der frühverstorbenen Operndiva María Malibran -, wird sie nach deren frühem Tod zu ihrer Wiedergängerin und schlägt bald als Desdemona, Fidès oder Norma alle, die sie je erleben, in den Bann. Iwan Turgenjew, damals ein aufstrebender junger Schriftsteller aus bestem Hause, trifft ihr Zauber mit besonders nachhaltiger Wucht. Seit er sie fünfundzwanzigjährig in St. Petersburg 1843 erstmals hört, widmet er sein weiteres Dasein dieser idealen Liebe und folgt der Angebeteten durch ganz Europa, buchstäblich bis ans Ende seines Lebens.
Zunächst als ausdauernder Gast und reger Briefeschreiber, dann bald als Nachbar, ja Familienmitglied in Paris wie später auch in Baden-Baden lebt Turgenjew eine Leidenschaft mit ihr, die sich von Paulines bürgerlichem Ehe- und Familienleben weder trennen noch beirren lässt. Dem älteren Gatten, wie er ein passionierter Jäger, ist und bleibt der Liebesfreund stets freundschaftlich verbunden. Im Übrigen unterhält Iwan Turgenjew selbst gelegentlich noch andere Liebschaften, aus denen sogar Nachwuchs folgt; eine Tochter wird später von Pauline in die Familie aufgenommen. So richtet man sich ein.
Dieser bemerkenswerten Beziehung widmet sich jetzt ein ansprechender kleiner Band. Erschienen aus Anlass von Turgenjews 200. Geburtstag, der dieses Jahr zu einigen schönen Neuausgaben dieses großen Autors führt, zeichnet er ein anschauliches Doppelporträt der beiden Künstlerperpsönlichkeiten, skizziert ihre bewegten Lebenswege vor dem Hintergrund des revolutionären Zeitgeschehens und wahrt dabei wohltuende Diskretion gegenüber dem Intimleben.
Der Fokus liegt hauptsächlich auf Turgenjew, aus dessen Briefen ausführlich zitiert wird (der andere Teil der Korrespondenz ist leider nicht erhalten) und dessen Erzählwerke, oft im Austausch mit Viardot-García entstanden, vorgestellt und nacherzählt werden. Von ihrem Lebenswerk erfährt man deutlich weniger, was gewiss auch daran liegt, dass ihre Gesangskunst flüchtig ist, während ihre zahlreichen Kompositionen bis heute Randerscheinungen des Konzertrepertoires geblieben sind.
Die Darstellung ist durchweg zugänglich und sehr routiniert (die Zusammenarbeit des Autorinnenduos hat sich schon bei etlichen anderen Büchern, beispielsweise über Sofja Tolstaja oder Madame Blavatsky, bewährt). Allerdings wäre man an manchen Stellen für mehr Information und insgesamt mehr Genauigkeit dankbar, zumal beim Quellennachweis, der in vielen Fällen unvollständig oder unklar bleibt. Allein die Frage, in welcher Sprache die zitierten Passagen ursprünglich abgefasst sind - Viardot-García und Iwan Turgenjew sprachen und schrieben in vier bis fünf europäischen Sprachen -, wäre doch von Interesse.
So bleibt als stärkster Eindruck dieser anregenden Lektüre vor allem der Wunsch, endlich eine umfassend recherchierte, wissenschaftlich fundierte und doch ausführlich-lebendig erzählte Biographie über Pauline Viardot-García lesen zu können, die diese ungewöhnliche Frau und Künstlerin nicht vorrangig über ihre Beziehungen zu bedeutenden Männern begreift. Die Gelegenheit dazu scheint günstig: ihr zweihundertster Geburtstag steht in drei Jahren an.
TOBIAS DÖRING
Ursula Keller, Natalja Sharandak: "Iwan Turgenjew und Pauline Viardot. Eine außergewöhnliche Liebe".
Insel Verlag, Berlin 2018. 278 S., geb., 25,- [Euro].
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»Eine unterhaltsame Doppelbiographie.« Adam Soboczynski DIE ZEIT 20181219