Jacob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) hat seinen Platz in der Literaturgeschichte. Er gilt als ein Hauptvertreter des Sturm und Drang und 'sozialkritischer Komödiendichter', als 'Konkurrent Goethes', der in seinen späteren Jahren 'geistig umnachtet' gewesen sei: alles in allem eine ebensaußergewöhnliche und bedeutende wie exzentrische und pathologische Figur. Entgegen diesen gängigen Etikettierungen der Literaturgeschichtsschreibung liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung auf der gesellschaftlichen Einbettung von Lenz' schriftstellerischer Arbeit und seiner Rolle als Autor, die anhand der sozialen Funktionen seiner Schriften entwickelt werden. Dazu werden ausgewählte Texte auf der Basis von Pierre Bourdieus sozioanalytischem Instrumentarium untersucht und die Elemente von Lenz' sozioliterarischer Laufbahn herausgearbeitet. Im Vordergrund stehen die Frage nach der Entstehung und Etablierung seines literarischen Habitus (Teil 1), Lenz' Position im deutschsprachigen literarischen Feld seiner Zeit (Teil 2) und schließlich Lenz' Stellung als Intellektueller im russischen Feld der Macht zur Zeit der Französischen Revolution. Dieser dritte Teil basiert auf der Auswertung der bislang fast völlig unbekannten Moskauer Lenziana. Die umfangreichen Quellenstudien, die den Autor auf den Spuren von Lenz u.a. auch nach Tallinn, Riga, Kraków, St. Petersburg und Moskau führten, ermöglichen erstmals eine gesicherte Darstellung von Lenz' Rolle als intellektueller Schriftsteller in Moskau in den Jahren 1781-1792, die die Lenz-Forschung einen wesentlichen Schritt voranbringt.
INHALT
Einleitung
1. Lenz' soziale Prägungen; 2. Der Rahmen der literarischen Laufbahn; 2.1. Der Prozeß der Entstehung eines Literatursystems im 18. Jahrhundert; 2.2. Entwicklung der Literaturproduzenten; 2.3. Systemtheoretische Selbstorganisation versus Bourdieus Ansatz; 3. Die Debatten um den "Geschmack" im 18. Jahrhundert; 4. Die literarische Laufbahn von Lenz; 4.1. Abgrenzungen; 4.2. Lenz' Laufbahn als Geschichte der Auseinandersetzungen um (symbolische) Herrschaft
Teil A: Die Genese des literarischen Habitus
1. Erster Auftritt; 1.1. Das Modell der Entstellung: Gemälde eines Erschlagenen; 1.2. Die genealogische Reihung: Die Landplagen; 2. Auseinandersetzung um die 'wahre' Darstellung des Menschen; 2.1. Herders Shakespeare-Rede; 2.2. Lenz' Shakespeare-Übersetzung Amor vincit omnia; 3. Der Anspruch auf die Darstel-lung zeitgenössischer Verhältnisse; 3.1. Die Verteidigung der Verteidigung des Übersetzers der Lustspiele; 3.2. Lenz' Plautus-Übersetzung Das Väterchen; 4. Die Krise des arrivierten Häretikers; 4.1. Rezension des Neuen Menoza; 4.2. Die radikalisierte Situationskomödie: Der neue Menoza; 4.3. Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet
Teil B: Lenz' Position im literarischen Feld und die Auseinandersetzung um die Regelung des literarischen Verdienstes
1. Stigmatisierung und Demonstration: Die Wolken und die Schriften für die "Deutsche Gesellschaft"; 2. Die meritokratische Auflehnung: Die Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken und expositiad hominem (Konflikt des sich professionalisierenden, 'freien' Dichters; Wieland, Der teutsche Merkur; Klopstock, Deutsche Gelehrtenrepublik); 3. Die Entscheidung für Weimar und die Frage des Abstandes zum höfischen Raum
Teil C: Lenz als bürgerlicher Intellektueller im russischen Feld der Macht
Einleitung: "Ansprüche auf ein Art von Bürgerrecht"; Sozialraum Rußlands; Handlungsräume für Gelehrte und Schriftsteller: der 'kleine Hof' und die Panin-'Partei'; die Veränderungen der Außenpolitik und ihre Auswirkungen; der oppositionelle Rand im Feld der Macht: die Freimaurer und die publizistischen Aktivitäten rund um Novikov; "Typographische Gesellschaft"; Zeittabelle zu den Gelehrten- und Freimaurerkreisen in Moskau und zur Kulturpolitik
1. Der Anspruch auf die Erziehung von selbständigen Staatsbürgern: Der Rechenschaft-Bericht für das adlige Pensionsinstitut; 1.1. Reform des Erziehungswesens; 1.2. Das adlige Pensionsinstitut der Mme Exter; 1.3. Historischer Kontext; 1.4. Der Rechenschaftsbericht; 1.5. Erziehungssystem; 1.6. Lenz' wütende Reaktionen; 2. Der Anspruch, den Handel in Stadt und Land zu verbessern; 2.1. Bemühungen zur Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; 2.2. Der wirtschaftliche Aufschwung; 2.3. Lenz' wirtschaftliches Engagement (Lenz' Adressaten; Zirkulationsbanken; Wasserwege; Versorgung der Stadt Moskau; Hygiene); 2.4. Die Orientierung an England; 2.5. Katharinas Außenhandelspolitik; 2.6. Wirtschaftliche und soziale Krisen; 2.7. Lenz' ambivalente Position; 3. Der Anspruch auf die Formulierung und Legitimierung der russischen Geschichte; 3.1. Der Beginn der russischen Historiographie; 3.2. Lenz' mythologische Ursprungskonstruktion; 3.3. Cheraskovs Rossijade; 3.4. Boris Godunov; 3.5. Brennpunkt Novgorod; 4. Der Dichter im Feld der Macht; 4.1. Lenz' Rückzug in den Raum der Dichtung; 4.2. Anfänge eines relativ autonomen literarischen Feldes in Rußland (Zensur; Fall Novikov; Fall Radis&Mac255;ev; Karamzin); 4.3. Lenz' Verteidigung des Dichters: Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeister; 4.4. Die Waffe des Dichters: Was ist Satyre?
Text-Anhang: Rechenschaft von dem gegenwärtigen Zustande des Fortschritts in den Wissenschaften [...]; Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeister!; editorische Notiz und Stellenkommentar
Literaturverzeichnis; Personenregister
INHALT
Einleitung
1. Lenz' soziale Prägungen; 2. Der Rahmen der literarischen Laufbahn; 2.1. Der Prozeß der Entstehung eines Literatursystems im 18. Jahrhundert; 2.2. Entwicklung der Literaturproduzenten; 2.3. Systemtheoretische Selbstorganisation versus Bourdieus Ansatz; 3. Die Debatten um den "Geschmack" im 18. Jahrhundert; 4. Die literarische Laufbahn von Lenz; 4.1. Abgrenzungen; 4.2. Lenz' Laufbahn als Geschichte der Auseinandersetzungen um (symbolische) Herrschaft
Teil A: Die Genese des literarischen Habitus
1. Erster Auftritt; 1.1. Das Modell der Entstellung: Gemälde eines Erschlagenen; 1.2. Die genealogische Reihung: Die Landplagen; 2. Auseinandersetzung um die 'wahre' Darstellung des Menschen; 2.1. Herders Shakespeare-Rede; 2.2. Lenz' Shakespeare-Übersetzung Amor vincit omnia; 3. Der Anspruch auf die Darstel-lung zeitgenössischer Verhältnisse; 3.1. Die Verteidigung der Verteidigung des Übersetzers der Lustspiele; 3.2. Lenz' Plautus-Übersetzung Das Väterchen; 4. Die Krise des arrivierten Häretikers; 4.1. Rezension des Neuen Menoza; 4.2. Die radikalisierte Situationskomödie: Der neue Menoza; 4.3. Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet
Teil B: Lenz' Position im literarischen Feld und die Auseinandersetzung um die Regelung des literarischen Verdienstes
1. Stigmatisierung und Demonstration: Die Wolken und die Schriften für die "Deutsche Gesellschaft"; 2. Die meritokratische Auflehnung: Die Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken und expositiad hominem (Konflikt des sich professionalisierenden, 'freien' Dichters; Wieland, Der teutsche Merkur; Klopstock, Deutsche Gelehrtenrepublik); 3. Die Entscheidung für Weimar und die Frage des Abstandes zum höfischen Raum
Teil C: Lenz als bürgerlicher Intellektueller im russischen Feld der Macht
Einleitung: "Ansprüche auf ein Art von Bürgerrecht"; Sozialraum Rußlands; Handlungsräume für Gelehrte und Schriftsteller: der 'kleine Hof' und die Panin-'Partei'; die Veränderungen der Außenpolitik und ihre Auswirkungen; der oppositionelle Rand im Feld der Macht: die Freimaurer und die publizistischen Aktivitäten rund um Novikov; "Typographische Gesellschaft"; Zeittabelle zu den Gelehrten- und Freimaurerkreisen in Moskau und zur Kulturpolitik
1. Der Anspruch auf die Erziehung von selbständigen Staatsbürgern: Der Rechenschaft-Bericht für das adlige Pensionsinstitut; 1.1. Reform des Erziehungswesens; 1.2. Das adlige Pensionsinstitut der Mme Exter; 1.3. Historischer Kontext; 1.4. Der Rechenschaftsbericht; 1.5. Erziehungssystem; 1.6. Lenz' wütende Reaktionen; 2. Der Anspruch, den Handel in Stadt und Land zu verbessern; 2.1. Bemühungen zur Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; 2.2. Der wirtschaftliche Aufschwung; 2.3. Lenz' wirtschaftliches Engagement (Lenz' Adressaten; Zirkulationsbanken; Wasserwege; Versorgung der Stadt Moskau; Hygiene); 2.4. Die Orientierung an England; 2.5. Katharinas Außenhandelspolitik; 2.6. Wirtschaftliche und soziale Krisen; 2.7. Lenz' ambivalente Position; 3. Der Anspruch auf die Formulierung und Legitimierung der russischen Geschichte; 3.1. Der Beginn der russischen Historiographie; 3.2. Lenz' mythologische Ursprungskonstruktion; 3.3. Cheraskovs Rossijade; 3.4. Boris Godunov; 3.5. Brennpunkt Novgorod; 4. Der Dichter im Feld der Macht; 4.1. Lenz' Rückzug in den Raum der Dichtung; 4.2. Anfänge eines relativ autonomen literarischen Feldes in Rußland (Zensur; Fall Novikov; Fall Radis&Mac255;ev; Karamzin); 4.3. Lenz' Verteidigung des Dichters: Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeister; 4.4. Die Waffe des Dichters: Was ist Satyre?
Text-Anhang: Rechenschaft von dem gegenwärtigen Zustande des Fortschritts in den Wissenschaften [...]; Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeister!; editorische Notiz und Stellenkommentar
Literaturverzeichnis; Personenregister
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2007Der Hofmeister im Osten
Ein Ereignis: Die Moskauer Schriften des Jakob Lenz
„Aber Werther ist ein Bild meine Herren, ein gekreuzigter Prometheus an dessen Exempel ihr euch bespiegeln könnt”, schrieb Jakob Michael Reinhold Lenz 1775 in seinen „Briefen über die Moralität der Leiden des jungen Werthers”. Mit dieser Verschränkung von Werther, Christus und Prometheus traf Lenz nicht nur ein entscheidendes Element in Goethes Roman, der die Krankheit zum Tode seines Helden im Rückgriff auf das Vokabular der biblischen Passionsgeschichte schilderte. Er charakterisierte zugleich sich selbst als Autor, der aus der Bibel schöpfte, ihre Sprache und ihre Figuren mit denjenigen der heidnischen Mythologie kreuzte und collagierte. Denn dieser Autor war ein Kind des protestantischen Pfarrhauses, 1751 in Livland geboren, der Vater stieg auf, wurde 1759 Oberpastor in Dorpat. Als Beispiel für die Strenge des Pfarrhauses, für die tiefe Prägung seiner Söhne durch die Überlagerung der Begriffe „Gott” und „Vater” ist Jakob Lenz in die Literaturgeschichte eingegangen, und zugleich als Beispiel für die sprachbildende Kraft, die im 18. Jahrhundert das Pfarrhaus jenen Söhnen mitgab, die es um der Literatur, der Poesie willen, verließen.
Lenz zog 1771 nach Westen. Als Begleiter zweier kurländischer junger Barone, der Brüder Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist, reiste er über Berlin und Leipzig nach Straßburg, lernte hier Goethe kennen, und wurde hier in wenigen Jahren, was er bis heute ist, auch wenn er der deutschen Literatur gelegentlich abhanden kommt: eines ihrer großen Sprachereignisse. Man lese seinen „Hofmeister”, seine „Soldaten”, seine Übersetzungen aus dem Plautus, seine zwischen unbändigen Witz und schmucklose Innigkeit gespannten Gedichte, seine „Anmerkungen übers Theater”, seine Schriften zur deutschen Sprache oder sein Memorandum über Soldatenehen. Und man wird finden: eine Phiole der unerschöpflichen Sprachmischungen, in der die Gischt der gesprochenen Sprache in Satzzeichen-Kaskaden aufschäumt, in der die dramatischen Figuren die Beiläufigkeit wie das Pathos ins Extrem treiben, in der das kalkuliert „Abgerissene” des Satzbaus wie eine Guerilla-Armee in die Theoriebildung und Begriffe der Regelpoetik einfällt. Es blieb nicht unbemerkt, dass dies ein Sprach-Ereignis war, weder bei Goethe und Herder, noch bei Wieland, mit dem Lenz sich polemisch anlegte.
Am Ende aber stand das Scheitern, das Verschwinden: unglückliche Liebschaften, der Bruch mit Goethe beim Aufenthalt in Weimar 1776, der zur Ausweisung aus Weimar führt, die Lebenskrise und schwere Seelenkrankheit in den folgenden Jahren, die Wochen der Obhut im elsässischen Steintal bei Johann Friedrich Oberlin, die Heimkehr des Hilflosen und Mittellosen nach Livland in Begleitung des Bruders im Sommer 1779. Zu einem Amt brachte es der Heimkehrer nicht mehr, über Riga, wo der Vater gerade zum Generalsuperintendenten geworden war, und über St. Petersburg gelangte Lenz im Sommer 1781 nach Moskau. Das blieb, bis zum Tod im Juni 1792, die letzte Station, für elf Jahre. Länger hatte Jakob Lenz an keinem Ort gelebt. Am 18. August 1792 erschien in Deutschland, im Intelligenzblatt der Allgemeinen Litteratur-Zeitung, ein knapper Nekrolog. Lenz sei gestorben, „von wenigen betrauret und von keinem vermisst”.
Lange blieben die Moskauer Jahre im Schatten. Wenn Lenz einen Nachruhm hatte, dann als Autor des Straßburger Sturm und Drang, als unglückseliger Gast in Weimar und als Pflegefall seiner Freunde im Allgäu. Es war, bei seinen Kritikern wie bei seinen postumen Fürsprechern, der Nachruhm einer pathologischen Existenz. In Goethes „Dichtung und Wahrheit” avancierte Lenz zur Schlüsselfigur aller Gefährdungen, die in der Jugendepoche zu überwinden waren. Er wurde „ein vorübergehendes Meteor”, das keine Spuren hinterließ. Georg Büchner holte 1835 in seiner Novelle „Lenz” nicht nur den verwirrten Gast Oberlins, sondern auch den Autor des „Hofmeister” und der „Soldaten” in die Literatur zurück. Und entließ ihn in dem wohl berühmtesten Schlusssatz des 19. Jahrhunderts in eine leere, ereignislose Zukunft: „So lebte er hin.”
Seit Ludwig Tieck, zögernd, um Goethe nicht zu verärgern, 1828 die erste Lenz–Ausgabe herausbrachte, gibt es die Umrisse des Moskauer Lenz. Aber es ist ihnen immer etwas Ungefähres, in den Textgrundlagen wenig Verlässliches geblieben, auch als Lenz in der Bundesrepublik wie in der DDR seit den sechziger und siebziger Jahren als Kronzeuge der deutschen Misere, der erstickten Rebellion wiederentdeckt wurde.
Der größte Teil der Moskauer Handschriften liegt in Krakau und Riga, einiges auch in Moskau und Berlin. Erst nach 1990, als die Archive im Osten zugänglicher wurden, begann der Moskauer Lenz mehr und mehr aus der Legende des im Wahn Verschollenen herauszutreten. Einzelne Manuskripte erschienen, Textlücken wurden geschlossen, Irrtümer korrigiert. Nun hat Heribert Tommeck in einer philologischen und historiographischen Kraftanstrengung, für die sonst ganze Herausgeberkollektive aufgeboten werden, sämtlich Moskauer Schriften von Lenz, die gedruckten wie die ungedruckten, kritisch ediert und umfassend kommentiert. Man muss das ein Ereignis nennen: Dies ist das erste Gesamtporträt des Moskauer Lenz und der Welt, in der er lebte.
Tommeck hat 2003 eine Dissertation über Lenz veröffentlicht, die der Literatursoziologie Pierre Bourdieus verpflichtet war. Von der Aufmerksamkeit auf Institutionen, auf die „literarischen Felder” und Publikationsstrategien, auf die Kontexte und Adressaten profitiert nun die Gesamtedition der Moskauer Schriften: Sie ist zugleich eine Monographie über die Verbindungslinien zwischen der westeuropäischen Aufklärung und den Intellektuellenzirkeln im Russland der Zarin Katharina. Lenz, der Livländer, bringt es auch in Moskau nicht zu einem Amt, aber er hat eine Laufbahn, die sich im Fortleben des gescheiterten Sturm-und-Drang-Genies nicht erschöpft.
Ja, eine Konstante in diesen Briefen, poetischen Entwürfen, gesellschaftspolitischen Skizzen und Übersetzungen aus dem Russischen, das sich Lenz seit der Rückkehr in den Osten aneignete, ist der kategorische Imperativ: Nie wieder Schwärmerei! Er klingt nicht nur in den Briefen an den Vater und die Brüder an, wo man ihn als Mittel innerfamiliärer Entspannungspolitik deuten könnte. Er ist vielmehr die Maxime des Literaten Lenz, der mit der Emphase eines deutschen Philanthropen und Spätaufklärers – und meist ebenso illusionär – auf den aufgeklärten Absolutismus als Partner von Bildungs- und Sozialreformen setzt.
Eine Art Hofmeister ist Lenz in Moskau geworden, von 1781 bis Ende 1785 hat er im adligen Erziehungspensionat der Madame Exner gearbeitet, sein „Rechenschaftsbericht” am Ende dieser Zeit, der wieder einmal eine missglückte Liebesgeschichte zu rekapitulieren hat, ist zugleich ein Beitrag zu den Debatten über die Einführung der „Normalschule” im Russischen Reich. So wie die Erziehung kehren auch die anderen Themen seiner Straßburger Zeit wieder. Zu seinen Projekten gehört eine Neuübersetzung der Bibel ins Russische. Wenn er den Landsitz eines Adligen mit dem Steintal in den Vogesen vergleicht, wird ihm dies nicht zur autobiographischen Reminiszenz an die größte Lebenskrise. Es geht ihm um die Vergleichbarkeit der Bewirtschaftung karger Gegenden. Für die im Sommer prekäre Wasserversorgung Moskaus entwirft er einen originellen Plan, er übersetzt eine Geschichte des Russischen Reiches und entwirft selbst ein historisches Porträt des Zaren Peter I. Sein Straßburger Patriotismus ist russisch geworden.
Aber in dem Maß, in dem um 1787/88 seine Reformillusionen zu verfliegen beginnen, kehrt der Poet und Sprachmischer wie entfesselt zurück, reimt, was das Zeug hält, singt Loblieder auf die Satire, verfolgt in abgerissen virtuoser Prosa die Verderbnis der „polierten” Sprache bis an ihre Ursprünge. Und in seinem „Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeister!” (nach 1789), verteidigte er, noch einmal, den „Werther”, der 1781 auch in Russland erschienen war. Der Moskauer Lenz ist in die Literatur zurückgekehrt. LOTHAR MÜLLER
JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ: Moskauer Schriften und Briefe. Herausgegeben und kommentiert von Heribert Tommeck. Weidler Buchverlag, Berlin 2007. Zwei Bände. Textband: 526 S., Kommentarband: 814 S., zus. 246 Euro.
Der Nachruhm war der einer pathologischen Existenz
Der kategorische Imperativ: Nie wieder Schwärmerei!
Jakob Michael Reinhold Lenz (links), und eines seiner Moskauer Projekte, von ihm selbst illustriert: das chemische Theater, in dem die Tischgesellschaft speist – und experimentiert. Fotos: oh, Weidler Buchverlag
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Ein Ereignis: Die Moskauer Schriften des Jakob Lenz
„Aber Werther ist ein Bild meine Herren, ein gekreuzigter Prometheus an dessen Exempel ihr euch bespiegeln könnt”, schrieb Jakob Michael Reinhold Lenz 1775 in seinen „Briefen über die Moralität der Leiden des jungen Werthers”. Mit dieser Verschränkung von Werther, Christus und Prometheus traf Lenz nicht nur ein entscheidendes Element in Goethes Roman, der die Krankheit zum Tode seines Helden im Rückgriff auf das Vokabular der biblischen Passionsgeschichte schilderte. Er charakterisierte zugleich sich selbst als Autor, der aus der Bibel schöpfte, ihre Sprache und ihre Figuren mit denjenigen der heidnischen Mythologie kreuzte und collagierte. Denn dieser Autor war ein Kind des protestantischen Pfarrhauses, 1751 in Livland geboren, der Vater stieg auf, wurde 1759 Oberpastor in Dorpat. Als Beispiel für die Strenge des Pfarrhauses, für die tiefe Prägung seiner Söhne durch die Überlagerung der Begriffe „Gott” und „Vater” ist Jakob Lenz in die Literaturgeschichte eingegangen, und zugleich als Beispiel für die sprachbildende Kraft, die im 18. Jahrhundert das Pfarrhaus jenen Söhnen mitgab, die es um der Literatur, der Poesie willen, verließen.
Lenz zog 1771 nach Westen. Als Begleiter zweier kurländischer junger Barone, der Brüder Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist, reiste er über Berlin und Leipzig nach Straßburg, lernte hier Goethe kennen, und wurde hier in wenigen Jahren, was er bis heute ist, auch wenn er der deutschen Literatur gelegentlich abhanden kommt: eines ihrer großen Sprachereignisse. Man lese seinen „Hofmeister”, seine „Soldaten”, seine Übersetzungen aus dem Plautus, seine zwischen unbändigen Witz und schmucklose Innigkeit gespannten Gedichte, seine „Anmerkungen übers Theater”, seine Schriften zur deutschen Sprache oder sein Memorandum über Soldatenehen. Und man wird finden: eine Phiole der unerschöpflichen Sprachmischungen, in der die Gischt der gesprochenen Sprache in Satzzeichen-Kaskaden aufschäumt, in der die dramatischen Figuren die Beiläufigkeit wie das Pathos ins Extrem treiben, in der das kalkuliert „Abgerissene” des Satzbaus wie eine Guerilla-Armee in die Theoriebildung und Begriffe der Regelpoetik einfällt. Es blieb nicht unbemerkt, dass dies ein Sprach-Ereignis war, weder bei Goethe und Herder, noch bei Wieland, mit dem Lenz sich polemisch anlegte.
Am Ende aber stand das Scheitern, das Verschwinden: unglückliche Liebschaften, der Bruch mit Goethe beim Aufenthalt in Weimar 1776, der zur Ausweisung aus Weimar führt, die Lebenskrise und schwere Seelenkrankheit in den folgenden Jahren, die Wochen der Obhut im elsässischen Steintal bei Johann Friedrich Oberlin, die Heimkehr des Hilflosen und Mittellosen nach Livland in Begleitung des Bruders im Sommer 1779. Zu einem Amt brachte es der Heimkehrer nicht mehr, über Riga, wo der Vater gerade zum Generalsuperintendenten geworden war, und über St. Petersburg gelangte Lenz im Sommer 1781 nach Moskau. Das blieb, bis zum Tod im Juni 1792, die letzte Station, für elf Jahre. Länger hatte Jakob Lenz an keinem Ort gelebt. Am 18. August 1792 erschien in Deutschland, im Intelligenzblatt der Allgemeinen Litteratur-Zeitung, ein knapper Nekrolog. Lenz sei gestorben, „von wenigen betrauret und von keinem vermisst”.
Lange blieben die Moskauer Jahre im Schatten. Wenn Lenz einen Nachruhm hatte, dann als Autor des Straßburger Sturm und Drang, als unglückseliger Gast in Weimar und als Pflegefall seiner Freunde im Allgäu. Es war, bei seinen Kritikern wie bei seinen postumen Fürsprechern, der Nachruhm einer pathologischen Existenz. In Goethes „Dichtung und Wahrheit” avancierte Lenz zur Schlüsselfigur aller Gefährdungen, die in der Jugendepoche zu überwinden waren. Er wurde „ein vorübergehendes Meteor”, das keine Spuren hinterließ. Georg Büchner holte 1835 in seiner Novelle „Lenz” nicht nur den verwirrten Gast Oberlins, sondern auch den Autor des „Hofmeister” und der „Soldaten” in die Literatur zurück. Und entließ ihn in dem wohl berühmtesten Schlusssatz des 19. Jahrhunderts in eine leere, ereignislose Zukunft: „So lebte er hin.”
Seit Ludwig Tieck, zögernd, um Goethe nicht zu verärgern, 1828 die erste Lenz–Ausgabe herausbrachte, gibt es die Umrisse des Moskauer Lenz. Aber es ist ihnen immer etwas Ungefähres, in den Textgrundlagen wenig Verlässliches geblieben, auch als Lenz in der Bundesrepublik wie in der DDR seit den sechziger und siebziger Jahren als Kronzeuge der deutschen Misere, der erstickten Rebellion wiederentdeckt wurde.
Der größte Teil der Moskauer Handschriften liegt in Krakau und Riga, einiges auch in Moskau und Berlin. Erst nach 1990, als die Archive im Osten zugänglicher wurden, begann der Moskauer Lenz mehr und mehr aus der Legende des im Wahn Verschollenen herauszutreten. Einzelne Manuskripte erschienen, Textlücken wurden geschlossen, Irrtümer korrigiert. Nun hat Heribert Tommeck in einer philologischen und historiographischen Kraftanstrengung, für die sonst ganze Herausgeberkollektive aufgeboten werden, sämtlich Moskauer Schriften von Lenz, die gedruckten wie die ungedruckten, kritisch ediert und umfassend kommentiert. Man muss das ein Ereignis nennen: Dies ist das erste Gesamtporträt des Moskauer Lenz und der Welt, in der er lebte.
Tommeck hat 2003 eine Dissertation über Lenz veröffentlicht, die der Literatursoziologie Pierre Bourdieus verpflichtet war. Von der Aufmerksamkeit auf Institutionen, auf die „literarischen Felder” und Publikationsstrategien, auf die Kontexte und Adressaten profitiert nun die Gesamtedition der Moskauer Schriften: Sie ist zugleich eine Monographie über die Verbindungslinien zwischen der westeuropäischen Aufklärung und den Intellektuellenzirkeln im Russland der Zarin Katharina. Lenz, der Livländer, bringt es auch in Moskau nicht zu einem Amt, aber er hat eine Laufbahn, die sich im Fortleben des gescheiterten Sturm-und-Drang-Genies nicht erschöpft.
Ja, eine Konstante in diesen Briefen, poetischen Entwürfen, gesellschaftspolitischen Skizzen und Übersetzungen aus dem Russischen, das sich Lenz seit der Rückkehr in den Osten aneignete, ist der kategorische Imperativ: Nie wieder Schwärmerei! Er klingt nicht nur in den Briefen an den Vater und die Brüder an, wo man ihn als Mittel innerfamiliärer Entspannungspolitik deuten könnte. Er ist vielmehr die Maxime des Literaten Lenz, der mit der Emphase eines deutschen Philanthropen und Spätaufklärers – und meist ebenso illusionär – auf den aufgeklärten Absolutismus als Partner von Bildungs- und Sozialreformen setzt.
Eine Art Hofmeister ist Lenz in Moskau geworden, von 1781 bis Ende 1785 hat er im adligen Erziehungspensionat der Madame Exner gearbeitet, sein „Rechenschaftsbericht” am Ende dieser Zeit, der wieder einmal eine missglückte Liebesgeschichte zu rekapitulieren hat, ist zugleich ein Beitrag zu den Debatten über die Einführung der „Normalschule” im Russischen Reich. So wie die Erziehung kehren auch die anderen Themen seiner Straßburger Zeit wieder. Zu seinen Projekten gehört eine Neuübersetzung der Bibel ins Russische. Wenn er den Landsitz eines Adligen mit dem Steintal in den Vogesen vergleicht, wird ihm dies nicht zur autobiographischen Reminiszenz an die größte Lebenskrise. Es geht ihm um die Vergleichbarkeit der Bewirtschaftung karger Gegenden. Für die im Sommer prekäre Wasserversorgung Moskaus entwirft er einen originellen Plan, er übersetzt eine Geschichte des Russischen Reiches und entwirft selbst ein historisches Porträt des Zaren Peter I. Sein Straßburger Patriotismus ist russisch geworden.
Aber in dem Maß, in dem um 1787/88 seine Reformillusionen zu verfliegen beginnen, kehrt der Poet und Sprachmischer wie entfesselt zurück, reimt, was das Zeug hält, singt Loblieder auf die Satire, verfolgt in abgerissen virtuoser Prosa die Verderbnis der „polierten” Sprache bis an ihre Ursprünge. Und in seinem „Brief vom Erziehungswesen an einen Hofmeister!” (nach 1789), verteidigte er, noch einmal, den „Werther”, der 1781 auch in Russland erschienen war. Der Moskauer Lenz ist in die Literatur zurückgekehrt. LOTHAR MÜLLER
JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ: Moskauer Schriften und Briefe. Herausgegeben und kommentiert von Heribert Tommeck. Weidler Buchverlag, Berlin 2007. Zwei Bände. Textband: 526 S., Kommentarband: 814 S., zus. 246 Euro.
Der Nachruhm war der einer pathologischen Existenz
Der kategorische Imperativ: Nie wieder Schwärmerei!
Jakob Michael Reinhold Lenz (links), und eines seiner Moskauer Projekte, von ihm selbst illustriert: das chemische Theater, in dem die Tischgesellschaft speist – und experimentiert. Fotos: oh, Weidler Buchverlag
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