From one of the English language's great writers. Revisiting her beloved characters, Jack joins Gilead, winner of the Pulitzer; Home, winner of the Women's Prize for Fiction and Lila, which won the National Book Critics Circle Award. This is the compassionate and heart-breaking story of the wayward son, Jack Boughton.
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Süddeutsche ZeitungUmgekehrte Vorzeichen
Marilynne Robinsons Roman „Jack“ erzählt von der Beziehung
zwischen einem verlotterten Weißen und einer erfolgreichen, bürgerlichen Schwarzen
VON MAIKE ALBATH
Ein nächtlicher Friedhof – kann man sich einen verlasseneren Ort vorstellen? Ausgerechnet hier laufen sich der Hallodri Jack Boughton, missratener Sohn eines presbyterianischen Pastors aus dem Mittleren Westen, dabei aber charmant und belesen, und die junge schwarze Lehrerin Della Miles über den Weg. Jack kennt sämtliche Schlafplätze von St. Louis und pflegt eine Vorliebe für den Friedhof, weil er dort unauffällig sein Deckenbündel hinter einem Grabstein verbergen kann. Della ist versehentlich spät abends hier, so scheint es zumindest.
Im Schutz der Nacht flaniert das ungleiche Paar zwischen den Gräbern umher, redet über Milton, Shakespeare und die Bibel, ruht sich auf den Stufen eines Mausoleums aus, bis die Wärter am Morgen die Friedhofstore wieder aufschließen. Jack und Della wollen das Gelände nacheinander verlassen, denn in Missouri gelten strikte Rassengesetze, und Beziehungen sind strafbar. Aus der Ferne beobachtet Jack, wie der Friedhofswärter Della am Arm packt. Flugs kommt er hinzu und lenkt den Mann ab, so dass sie entwischen kann.
Die Figur Jack ist kein unbeschriebenes Blatt. Die Schriftstellerin Marilynne Robinson, 1943 in Idaho geboren, inzwischen in Iowa beheimatet, Verfasserin eines umfangreichen Werkes und mit sämtlichen großen amerikanischen Literaturpreisen ausgezeichnet, hat nicht nur ihren Helden, sondern auch sein Umfeld bereits ausgeleuchtet. Der neue Roman „Jack“ ist der vierte Band ihrer Reihe über den Mittleren Westen in den 1950er Jahren und liefert die Vorgeschichte des ersten Teils mit dem Titel „Gilead“ (2016), in dem der Ich-Erzähler John Ames, ein betagter Pastor, auf dem Sterbebett einen Brief an seinen siebenjährigen Sohn verfasst und von der Heimkehr seines erwachsenen Patenkindes Jack erzählt, der ihm das skandalöse Geheimnis seiner Ehe anvertraut. Jack sei ihm und dem alten Reverend Boughton, seinem besten Freund, immer fremd geblieben, was die Sehnsucht nach ihm umso stärker anfachte.
Im zweiten Teil „Zuhause“ (2018), erzählt aus der Perspektive seiner ledigen Schwester Glory, bildet Jack das Zentralgestirn. Der Roman dreht sich um die schwierige Liebe des Vaters Robert Boughton zu Jack, der in seinem Schweigen gefangen bleibt. Mit „Jack“ ergänzt die Autorin ein weiteres Puzzlestück im Kosmos ihrer erfundenen Kleinstadt Gilead.
In der Chronologie springt sie zurück, verlagert die Handlung nach St. Louis, Chicago und Memphis. Zum ersten Mal erleben wir hier die Geschehnisse aus Jacks Blickwinkel. In dem Karussell aus Perspektivwechseln liegt der große Reiz von Marilynne Robinsons Romanreihe. Wie auf einer Drehbühne gerät jedes Mal eine völlig andere Lebenswirklichkeit in den Blick, ändern sich Tonfall, Stimmung und Atmosphäre. Da sich die verschiedenen Teile der Serie aber ohnehin nicht bruchlos aneinanderfügen eignet sich dieser Band ebenso gut wie alle anderen als Einstieg.
Den Auftakt des neuen Romans bildet ein harscher Wortwechsel, hier zeigt sich bereits Marilynne Robinsons Qualität als Semiotikerin. Immer wieder geht es um zeichenhafte Prozesse, deren Dechiffrierung zu Missverständnissen führt. Jack hat Della in ihrer Straße aufgelauert, sehr zu deren Ärger, denn allein das ist für eine unverheiratete Schwarze ein Affront. Als er eine Fünfdollarnote zückt, um alte Schulden zu begleichen, wird sie erst recht zornig – eindeutiger könne er sie nicht kompromittieren. Es herrscht ein vertracktes soziales Gefälle. Während Della, die Tochter eines hoch angesehenen Methodisten-Bischofs aus Memphis, als Hoffnung der schwarzen Community gilt, zählt Jack, trotz seiner respektablen Herkunft, zum white trash der Stadt. Die Spannung zwischen den beiden bestimmt bis zum Schluss Rhythmus und Handlung des Romans.
„Jack“ ist eine vielschichtige Liebesgeschichte, in der sich die Verhältnisse umkehren: Eine bürgerliche Schwarze, deren Vater seit jeher für die Emanzipation seiner Community kämpft, verliebt sich in einen depravierten Weißen. Jack hat von Kindheit an sämtliche Privilegien genussvoll in den Wind geschossen. „Mir ist noch nie ein Weißer untergekommen, der so wenig davon hatte, weiß zu sein“, stellt Della lakonisch fest. Die Verführungskraft der Regelverletzung war für Jack stärker als der Wunsch zu reüssieren – wie unter Zwang lügt und stiehlt er, und gerade weil ihm sein Vater, dessen Lieblingssohn er ist, alles verzeiht, kann er nicht davon lassen. Wie in allen ihren Romanen beschäftigt sich Robinson auch mit theologischen Fragen. Ohne es auszusprechen, variiert sie 3. Mose, 19, 18: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Was bedeutet das, zumal unter Bedingungen, in denen wenn nicht nur die weiße Mehrheitsgesellschaft eine Verbindung zwischen einem weißen Mann und einer schwarzen Frau ahndet, sondern auch die schwarze Gemeinde sie für schändlich hält?
Barack Obama, ein großer Verehrer von Robinson, hatte sie 2015 in einem Interview, das er für den New York Review of Books mit ihr führte, als Theologin bezeichnet. Die Schriftstellerin stimmte ihm zu. Davon zeugen auch Robinsons Essaysammlungen wie „The Death of Adam“ (1998) oder „When I Was a Child I Read Books“ (2012), in denen sie sich mit Calvin, Johann Friedrich Oberlin und den amerikanischen Theologen des 18. Jahrhunderts Charles Finney und Jonathan Edwards befasst. Dass die Begegnung mit einem anderen Menschen immer auch eine Begegnung mit Gott sein kann, habe sie von Calvin gelernt, heißt es dort.
Im Zentrum ihrer Gilead-Serie steht menschliche Fehlbarkeit und der Akt der Gnade. Die USA seien schließlich auch mit dem Gedanken gegründet worden, die alten Glaubensspaltungen Europas überwinden zu wollen: Man habe in den amerikanischen Kirchen doch auf Inklusion und nicht auf Ausgrenzung gesetzt, sagt sie in dem Gespräch mit Obama. Dies sei die Grundlage der Demokratie.
Aber in „Jack“ können diese Art unvoreingenommener Zuneigung nicht einmal Geistliche aufbringen: Dellas Vater verweist Jack des Hauses. Die Beziehung zu Della leitet für Jack einen Erkenntnisprozess ein. Der notorische Trinker und Dieb bemerkt, wie überheblich er im Innersten ist und diszipliniert sich. Der Triebverzicht vermittelt ihm ein neues Selbstgefühl.
Mit liebendem Blick erkennt Della etwas in ihm, und dadurch kann Jack es tatsächlich auch leben. Er sorgt zuerst für eine Geranie, dann für eine Katze, verdingt sich als Tanzlehrer, gerät eher zufällig in das Umfeld einer schwarzen Baptistengemeinde. Vergebung mache ihm Angst, vertraut er deren Pastor Hutchinson an, weil sie ihm vorkomme „wie ein Allheilmittel gegen Bedauern und Reue“. Was der Unterschied zwischen Glauben und Anmaßung sei, fragt er weiter. Der Pastor erbittet sich Bedenkzeit. Als Jack ihm beim nächsten Treffen von Della erzählt, warnt ihn Hutchinson. Wenn einem Gnade widerfahre, dürfe man sie genießen, gesteht er immerhin zu.
Marilynne Robinson schildert eindringlich verschiedene Ausprägungen von Rassismus, und am Ende klingt etwas Versöhnliches an, bietet die Liebe einen Halt. Nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse, auch der innere Zustand ihrer Figuren entfalten eine große Intensität. Wie alle ihre Romane zeichnet auch „Jack“ ein tiefer Ernst aus, darin liegt Robinsons Radikalität. Vielleicht erklärt sich so ihr großer Erfolg. Amerika kreise zu sehr um Wettbewerb und verliere die Fragilität des Menschen aus dem Blick, sagte sie zu Barack Obama. Und genau davon erzählt sie.
„Mir ist noch nie ein Weißer
untergekommen, der so wenig
davon hatte, weiß zu sein“
Die USA seien auch gegründet
worden, um die alten Spaltungen
Europas zu überwinden
Unter den vielen Auszeichnungen, die Marilynne Robinson bekommen hat, ist auch ein Orden der Vereinigten Staaten, bei dessen Verleihung sie hier 2013 mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama, der sich als ihr größter Fan bezeichnete, zu sehen ist.
Foto: Pete Marovich/PooL/DPA
Marilynne Robinson: Jack. Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022. 384 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Marilynne Robinsons Roman „Jack“ erzählt von der Beziehung
zwischen einem verlotterten Weißen und einer erfolgreichen, bürgerlichen Schwarzen
VON MAIKE ALBATH
Ein nächtlicher Friedhof – kann man sich einen verlasseneren Ort vorstellen? Ausgerechnet hier laufen sich der Hallodri Jack Boughton, missratener Sohn eines presbyterianischen Pastors aus dem Mittleren Westen, dabei aber charmant und belesen, und die junge schwarze Lehrerin Della Miles über den Weg. Jack kennt sämtliche Schlafplätze von St. Louis und pflegt eine Vorliebe für den Friedhof, weil er dort unauffällig sein Deckenbündel hinter einem Grabstein verbergen kann. Della ist versehentlich spät abends hier, so scheint es zumindest.
Im Schutz der Nacht flaniert das ungleiche Paar zwischen den Gräbern umher, redet über Milton, Shakespeare und die Bibel, ruht sich auf den Stufen eines Mausoleums aus, bis die Wärter am Morgen die Friedhofstore wieder aufschließen. Jack und Della wollen das Gelände nacheinander verlassen, denn in Missouri gelten strikte Rassengesetze, und Beziehungen sind strafbar. Aus der Ferne beobachtet Jack, wie der Friedhofswärter Della am Arm packt. Flugs kommt er hinzu und lenkt den Mann ab, so dass sie entwischen kann.
Die Figur Jack ist kein unbeschriebenes Blatt. Die Schriftstellerin Marilynne Robinson, 1943 in Idaho geboren, inzwischen in Iowa beheimatet, Verfasserin eines umfangreichen Werkes und mit sämtlichen großen amerikanischen Literaturpreisen ausgezeichnet, hat nicht nur ihren Helden, sondern auch sein Umfeld bereits ausgeleuchtet. Der neue Roman „Jack“ ist der vierte Band ihrer Reihe über den Mittleren Westen in den 1950er Jahren und liefert die Vorgeschichte des ersten Teils mit dem Titel „Gilead“ (2016), in dem der Ich-Erzähler John Ames, ein betagter Pastor, auf dem Sterbebett einen Brief an seinen siebenjährigen Sohn verfasst und von der Heimkehr seines erwachsenen Patenkindes Jack erzählt, der ihm das skandalöse Geheimnis seiner Ehe anvertraut. Jack sei ihm und dem alten Reverend Boughton, seinem besten Freund, immer fremd geblieben, was die Sehnsucht nach ihm umso stärker anfachte.
Im zweiten Teil „Zuhause“ (2018), erzählt aus der Perspektive seiner ledigen Schwester Glory, bildet Jack das Zentralgestirn. Der Roman dreht sich um die schwierige Liebe des Vaters Robert Boughton zu Jack, der in seinem Schweigen gefangen bleibt. Mit „Jack“ ergänzt die Autorin ein weiteres Puzzlestück im Kosmos ihrer erfundenen Kleinstadt Gilead.
In der Chronologie springt sie zurück, verlagert die Handlung nach St. Louis, Chicago und Memphis. Zum ersten Mal erleben wir hier die Geschehnisse aus Jacks Blickwinkel. In dem Karussell aus Perspektivwechseln liegt der große Reiz von Marilynne Robinsons Romanreihe. Wie auf einer Drehbühne gerät jedes Mal eine völlig andere Lebenswirklichkeit in den Blick, ändern sich Tonfall, Stimmung und Atmosphäre. Da sich die verschiedenen Teile der Serie aber ohnehin nicht bruchlos aneinanderfügen eignet sich dieser Band ebenso gut wie alle anderen als Einstieg.
Den Auftakt des neuen Romans bildet ein harscher Wortwechsel, hier zeigt sich bereits Marilynne Robinsons Qualität als Semiotikerin. Immer wieder geht es um zeichenhafte Prozesse, deren Dechiffrierung zu Missverständnissen führt. Jack hat Della in ihrer Straße aufgelauert, sehr zu deren Ärger, denn allein das ist für eine unverheiratete Schwarze ein Affront. Als er eine Fünfdollarnote zückt, um alte Schulden zu begleichen, wird sie erst recht zornig – eindeutiger könne er sie nicht kompromittieren. Es herrscht ein vertracktes soziales Gefälle. Während Della, die Tochter eines hoch angesehenen Methodisten-Bischofs aus Memphis, als Hoffnung der schwarzen Community gilt, zählt Jack, trotz seiner respektablen Herkunft, zum white trash der Stadt. Die Spannung zwischen den beiden bestimmt bis zum Schluss Rhythmus und Handlung des Romans.
„Jack“ ist eine vielschichtige Liebesgeschichte, in der sich die Verhältnisse umkehren: Eine bürgerliche Schwarze, deren Vater seit jeher für die Emanzipation seiner Community kämpft, verliebt sich in einen depravierten Weißen. Jack hat von Kindheit an sämtliche Privilegien genussvoll in den Wind geschossen. „Mir ist noch nie ein Weißer untergekommen, der so wenig davon hatte, weiß zu sein“, stellt Della lakonisch fest. Die Verführungskraft der Regelverletzung war für Jack stärker als der Wunsch zu reüssieren – wie unter Zwang lügt und stiehlt er, und gerade weil ihm sein Vater, dessen Lieblingssohn er ist, alles verzeiht, kann er nicht davon lassen. Wie in allen ihren Romanen beschäftigt sich Robinson auch mit theologischen Fragen. Ohne es auszusprechen, variiert sie 3. Mose, 19, 18: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Was bedeutet das, zumal unter Bedingungen, in denen wenn nicht nur die weiße Mehrheitsgesellschaft eine Verbindung zwischen einem weißen Mann und einer schwarzen Frau ahndet, sondern auch die schwarze Gemeinde sie für schändlich hält?
Barack Obama, ein großer Verehrer von Robinson, hatte sie 2015 in einem Interview, das er für den New York Review of Books mit ihr führte, als Theologin bezeichnet. Die Schriftstellerin stimmte ihm zu. Davon zeugen auch Robinsons Essaysammlungen wie „The Death of Adam“ (1998) oder „When I Was a Child I Read Books“ (2012), in denen sie sich mit Calvin, Johann Friedrich Oberlin und den amerikanischen Theologen des 18. Jahrhunderts Charles Finney und Jonathan Edwards befasst. Dass die Begegnung mit einem anderen Menschen immer auch eine Begegnung mit Gott sein kann, habe sie von Calvin gelernt, heißt es dort.
Im Zentrum ihrer Gilead-Serie steht menschliche Fehlbarkeit und der Akt der Gnade. Die USA seien schließlich auch mit dem Gedanken gegründet worden, die alten Glaubensspaltungen Europas überwinden zu wollen: Man habe in den amerikanischen Kirchen doch auf Inklusion und nicht auf Ausgrenzung gesetzt, sagt sie in dem Gespräch mit Obama. Dies sei die Grundlage der Demokratie.
Aber in „Jack“ können diese Art unvoreingenommener Zuneigung nicht einmal Geistliche aufbringen: Dellas Vater verweist Jack des Hauses. Die Beziehung zu Della leitet für Jack einen Erkenntnisprozess ein. Der notorische Trinker und Dieb bemerkt, wie überheblich er im Innersten ist und diszipliniert sich. Der Triebverzicht vermittelt ihm ein neues Selbstgefühl.
Mit liebendem Blick erkennt Della etwas in ihm, und dadurch kann Jack es tatsächlich auch leben. Er sorgt zuerst für eine Geranie, dann für eine Katze, verdingt sich als Tanzlehrer, gerät eher zufällig in das Umfeld einer schwarzen Baptistengemeinde. Vergebung mache ihm Angst, vertraut er deren Pastor Hutchinson an, weil sie ihm vorkomme „wie ein Allheilmittel gegen Bedauern und Reue“. Was der Unterschied zwischen Glauben und Anmaßung sei, fragt er weiter. Der Pastor erbittet sich Bedenkzeit. Als Jack ihm beim nächsten Treffen von Della erzählt, warnt ihn Hutchinson. Wenn einem Gnade widerfahre, dürfe man sie genießen, gesteht er immerhin zu.
Marilynne Robinson schildert eindringlich verschiedene Ausprägungen von Rassismus, und am Ende klingt etwas Versöhnliches an, bietet die Liebe einen Halt. Nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse, auch der innere Zustand ihrer Figuren entfalten eine große Intensität. Wie alle ihre Romane zeichnet auch „Jack“ ein tiefer Ernst aus, darin liegt Robinsons Radikalität. Vielleicht erklärt sich so ihr großer Erfolg. Amerika kreise zu sehr um Wettbewerb und verliere die Fragilität des Menschen aus dem Blick, sagte sie zu Barack Obama. Und genau davon erzählt sie.
„Mir ist noch nie ein Weißer
untergekommen, der so wenig
davon hatte, weiß zu sein“
Die USA seien auch gegründet
worden, um die alten Spaltungen
Europas zu überwinden
Unter den vielen Auszeichnungen, die Marilynne Robinson bekommen hat, ist auch ein Orden der Vereinigten Staaten, bei dessen Verleihung sie hier 2013 mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama, der sich als ihr größter Fan bezeichnete, zu sehen ist.
Foto: Pete Marovich/PooL/DPA
Marilynne Robinson: Jack. Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2022. 384 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine ZeitungUnter dem allsehenden Blick Gottes
Warum es das Schöne gibt: Marilynne Robinson führt mit dem Roman "Jack" ihren Gilead-Erzählzyklus weiter und findet eine große Liebe.
Öffne ein Buch, und eine Stimme spricht", hat Marilynne Robinson gesagt. Und ein Germanist hat die glückliche Wendung gefunden, dass Lesen "zu sich selbst sprechen in fremdem Namen" heißt. Was aber, wenn diese Stimme von dem größten Sünder in Gilead kommt, dem Sohn eines presbyterianischen und Patenkind eines kongregationalistischen Pastors? Wir kennen sein Elend in Umrissen schon aus Robinsons früheren Romanen. Als Jugendlicher hat er eine Fünfzehnjährige geschwängert und sie mit dem Kind, das nur wenige Jahre alt wird, sitzen gelassen. Es folgen Diebstähle, Examensbetrug im Studium, Trunksucht, unstetes Umherziehen, Gefängnis. Er heißt Jack. Wie das neue Buch von Marilynne Robinson.
Während die heute Neunundsiebzigjährige in den USA mit Preisen überhäuft wurde, blieb sie bei uns eher unbekannt. Dabei ist Robinson eine beeindruckende Selbstdenkerin. Sanft, aber unbeirrbar erhebt sie ihre Stimme in der amerikanischen Öffentlichkeit und erinnert an Fragen, von denen wir vergessen haben, dass man sie stellen könnte. Ihr Sachbuch "Mother Country: Britain, the Welfare State, and Nuclear Pollution" von 1989, eine Kritik an der skandalösen Politik um die Atommülldeponie Sellafield in England, hält sie selbst für ihre wichtigste Arbeit.
Robinsons literarisches OEuvre ist schmal, obwohl sie an der Universität von Iowa ein Vierteljahrhundert Kreatives Schreiben unterrichtet hat. Den ersten, "Housekeeping" von 1980, hatte sie noch während ihrer Doktorarbeit über Shakespeare begonnen. Mit großem Abstand folgte "Gilead" (2004). Seither ist die fiktive Kleinstadt dieses Namens im Mittleren Westen der Fünfzigerjahre Robinsons Spielfeld und Bühne für ihre Figuren. Ein Kaleidoskop aus Perspektiven: John Ames und James Boughton mit ihren Familien sind zwei alte angesehene Pastorenfreunde im ständigen Gespräch über ihren protestantischen Glauben ("Gilead"). Eine junge obdachlose Streunerin, die den alten Ames heiratet ("Lila"). Und schließlich Jack, das schwarze Schaf der Familie Boughton. In "Zuhause" ist der verlorene Sohn dann zurückgekehrt. Aber nicht etwa, um sich mit dem sterbenden Vater zu versöhnen, sondern um einen Ort zum Leben zu finden, "ein Leben ohne Harm", jetzt, da er selbst Vater ist. Ganz am Ende von "Zuhause", als Jack, nach einem Selbstmordversuch, schon wieder auf und davon ist, erfährt seine Schwester, dass er eine Frau und einen Sohn hat und dass diese Frau eine Afroamerikanerin, in der Sprache der Zeit eine "Farbige" oder "Schwarze", ist.
In "Jack", im Original 2020 erschienen, wird diese Beziehungsgeschichte weitererzählt. Sie erweist sich als Geschichte einer großen Liebe, die nicht gelebt werden kann. Romeo und Julia, das Debakel der Rassentrennung, Amerika in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Genauer gesagt, St. Louis, Missouri, wo das Paar sich kennengelernt hat.
Nach einem peinlich verunglückten Date treffen sich beide wie zufällig ein Jahr später auf dem Friedhof Bellefontaine in St. Louis wieder. Die Tore wurden verriegelt, sie müssen nun die Nacht dort miteinander verbringen. Die Friedhofsszene ist gut achtzig Seiten lang, eine Tour de force des zueinander hingezogenen Nichtzusammenseins, in dem es überraschende Fluchtpunkte gibt: Sterne, Bücher, ein Dunkel, in dem man von sich selbst reden kann, aber keine Berührungen. Die Rede über Gelesenes überbrückt und stiftet das Begehren: die Bibel, Miltons "Verlorenes Paradies", Shakespeares "Hamlet" und seine Sonette, Robert Frost, Paul Lawrence Dunbar oder William Carlos Williams und W. H. Auden.
Della Miles ist eine junge kultivierte Englischlehrerin in Sumner, der ersten Highschool für Schwarze westlich des Mississippis; Jack ist ein unsteter Gelegenheitsarbeiter und irgendwie seltsamer Büchermensch, der sich in Bibliotheken wohlfühlt, Lesestoff nach Bedarf klaut, kurze Zeit sogar in einer Buchhandlung arbeitet. Im Gefängnis war er "der Professor", er wurde sogar einmal für einen Schriftsteller gehalten, und Della denkt bei ihrer ersten Begegnung an einen Geistlichen. Da hatte er allerdings einen Beerdigungsanzug an.
Was sich zwischen den beiden Liebenden abspielt, könnte eine Komödie oder eine Tragödie werden, doch es ist keins von beiden, eher ein bisschen überirdisch. Della jedenfalls glaubt - das ist ihr besonderer Liebesblick - einer strahlend schönen Seele begegnet zu sein. Für Jack ist ihre Liebe "das Schönste, was ich in meinem Leben erlebt habe". Diese Seelengemeinschaft steuert auf eine Familie zu, sie schließen eine Ehe ohne Trauschein. Aber im Staat Missouri können sie nicht zusammenleben, ebenso wenig wie in der homogen-weißen Community von Gilead. Dellas Vater, methodistischer Bischof in Memphis, Tennessee, vertritt unbeugsam die Segregation, das heißt die selbständige Entwicklung der afroamerikanischen Kultur ohne Einmischung der Weißen.
Diese unmögliche Liebe ist zugleich Teil einer Denkaufgabe. Für gewöhnlich ändern oder entwickeln sich Figuren im Verlauf eines Romans. Anders als in seiner schrecklichen Jugendgeschichte bleibt Jack nunmehr loyal in einer Liebe, die er selbst als zerstörerisch empfindet. Della dagegen riskiert und verliert ihren Status und den Beruf, den sie liebt. Aber diese Momente sind noch nicht alles. Robinson beantwortet die Frage, ob Menschen sich ändern können, mit einer sibyllinischen Gegenfrage: "Verändern sich Menschen? Nehmen sie die Gelegenheit wahr, eine andere Seite ihres Charakters zu manifestieren? Oder nehmen sie die Gnade an, angenommen zu werden, Fehler und alles. Ich sehe das als eine offene Frage an." Die Bedingung der Möglichkeit von Gnade, das ist die Denkaufgabe. In dem, was den Figuren zustößt und wie sie handeln, wird davon erzählt. Jack ist unsicher bis zuletzt, was Schuld und Gnade betrifft, aber das letzte Wort des Romans ist doch grace, Gnade.
Marilynne Robinson ist religiös, und sie hält Predigten in ihrer Gemeinde. Dieser Roman ist aber definitiv keine Predigt und auch keine Erbauungsliteratur, sondern eine komplizierte Beziehungsgeschichte, freilich mit der Zumutung, über Liebe und Gnade lesend nachzudenken. Kompliziert auch deshalb, weil wir unablässig Jacks innere Stimme hören, der sich als Selbstbeobachter durchschaut und kommentiert: "Und wieder passierte es ihm, dass ein kostbarer Gedanke, in Worte gefasst, dahinwelkte." Mit dieser Paradoxie von analytischem Scharfsinn und Blindheit kann er nicht anders, als sich und die anderen unglücklich zu machen. So bildet der Roman einen ganzen Resonanzraum, in dem Erlebnisse und Handlungen oft nur beiläufig erwähnt werden, durch seine Fülle sprachlicher Register. Das stellt die Übersetzung vor große Schwierigkeiten, und selbst eine erfahrene Übersetzerin wie Uda Strätling, die alle Gilead-Romane übersetzt hat, kommt an ihre Grenzen.
Da ist einmal der Klang umgangssprachlicher Rede, für den Robinson ein außerordentliches Gespür hat. Jack sagt im Englischen: "Your voice is soft even when your're angry. That's unusual." Das übersetzt Strätling so: "Ihre Stimme ist selbst im Zorn milde. Das ist ungewöhnlich." Aber das ist Buchdeutsch, die Stimme ist weich oder sanft, "selbst wenn Sie zornig sind". Erst die Sinneswahrnehmung, dann die Einschränkung. Am anderen Ende der Schwierigkeitenskala stehen religionsphilosophische Feinheiten des Romans, etwa der emphatische Wirklichkeitsbegriff, als das Friedhofsgespräch auf Jesus kommt. Della sagt: "I just think there has to be a Jesus, to say 'beautiful' about things no one else would ever see. The precious things should be looked to, whatever becomes of the rest of it." Daraus wird im Deutschen: "Ich denke, es muss einen Jesus geben, sonst könnte man zu Dingen nicht 'wunderschön' sagen, die sonst keiner sieht. Kostbare Dinge müssen wir hegen, was immer mit dem Rest wird." Nein, nicht "wir"; unter dem allsehenden Blick Gottes gibt es das unbeachtete Schöne, und Gott kümmert sich darum, weil wir Menschen es nicht tun.
Was Marilynne Robinson zu sagen hat, ist zu schade, um es zu verwässern, auch wenn man ihren Glauben nicht teilt. Man sollte die Sprach- und Gedankenkünstlerin Robinson zweisprachig drucken. So wie Lyrik? Genau so. URSULA RENNER
Marilynne Robinson: "Jack". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 383 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum es das Schöne gibt: Marilynne Robinson führt mit dem Roman "Jack" ihren Gilead-Erzählzyklus weiter und findet eine große Liebe.
Öffne ein Buch, und eine Stimme spricht", hat Marilynne Robinson gesagt. Und ein Germanist hat die glückliche Wendung gefunden, dass Lesen "zu sich selbst sprechen in fremdem Namen" heißt. Was aber, wenn diese Stimme von dem größten Sünder in Gilead kommt, dem Sohn eines presbyterianischen und Patenkind eines kongregationalistischen Pastors? Wir kennen sein Elend in Umrissen schon aus Robinsons früheren Romanen. Als Jugendlicher hat er eine Fünfzehnjährige geschwängert und sie mit dem Kind, das nur wenige Jahre alt wird, sitzen gelassen. Es folgen Diebstähle, Examensbetrug im Studium, Trunksucht, unstetes Umherziehen, Gefängnis. Er heißt Jack. Wie das neue Buch von Marilynne Robinson.
Während die heute Neunundsiebzigjährige in den USA mit Preisen überhäuft wurde, blieb sie bei uns eher unbekannt. Dabei ist Robinson eine beeindruckende Selbstdenkerin. Sanft, aber unbeirrbar erhebt sie ihre Stimme in der amerikanischen Öffentlichkeit und erinnert an Fragen, von denen wir vergessen haben, dass man sie stellen könnte. Ihr Sachbuch "Mother Country: Britain, the Welfare State, and Nuclear Pollution" von 1989, eine Kritik an der skandalösen Politik um die Atommülldeponie Sellafield in England, hält sie selbst für ihre wichtigste Arbeit.
Robinsons literarisches OEuvre ist schmal, obwohl sie an der Universität von Iowa ein Vierteljahrhundert Kreatives Schreiben unterrichtet hat. Den ersten, "Housekeeping" von 1980, hatte sie noch während ihrer Doktorarbeit über Shakespeare begonnen. Mit großem Abstand folgte "Gilead" (2004). Seither ist die fiktive Kleinstadt dieses Namens im Mittleren Westen der Fünfzigerjahre Robinsons Spielfeld und Bühne für ihre Figuren. Ein Kaleidoskop aus Perspektiven: John Ames und James Boughton mit ihren Familien sind zwei alte angesehene Pastorenfreunde im ständigen Gespräch über ihren protestantischen Glauben ("Gilead"). Eine junge obdachlose Streunerin, die den alten Ames heiratet ("Lila"). Und schließlich Jack, das schwarze Schaf der Familie Boughton. In "Zuhause" ist der verlorene Sohn dann zurückgekehrt. Aber nicht etwa, um sich mit dem sterbenden Vater zu versöhnen, sondern um einen Ort zum Leben zu finden, "ein Leben ohne Harm", jetzt, da er selbst Vater ist. Ganz am Ende von "Zuhause", als Jack, nach einem Selbstmordversuch, schon wieder auf und davon ist, erfährt seine Schwester, dass er eine Frau und einen Sohn hat und dass diese Frau eine Afroamerikanerin, in der Sprache der Zeit eine "Farbige" oder "Schwarze", ist.
In "Jack", im Original 2020 erschienen, wird diese Beziehungsgeschichte weitererzählt. Sie erweist sich als Geschichte einer großen Liebe, die nicht gelebt werden kann. Romeo und Julia, das Debakel der Rassentrennung, Amerika in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Genauer gesagt, St. Louis, Missouri, wo das Paar sich kennengelernt hat.
Nach einem peinlich verunglückten Date treffen sich beide wie zufällig ein Jahr später auf dem Friedhof Bellefontaine in St. Louis wieder. Die Tore wurden verriegelt, sie müssen nun die Nacht dort miteinander verbringen. Die Friedhofsszene ist gut achtzig Seiten lang, eine Tour de force des zueinander hingezogenen Nichtzusammenseins, in dem es überraschende Fluchtpunkte gibt: Sterne, Bücher, ein Dunkel, in dem man von sich selbst reden kann, aber keine Berührungen. Die Rede über Gelesenes überbrückt und stiftet das Begehren: die Bibel, Miltons "Verlorenes Paradies", Shakespeares "Hamlet" und seine Sonette, Robert Frost, Paul Lawrence Dunbar oder William Carlos Williams und W. H. Auden.
Della Miles ist eine junge kultivierte Englischlehrerin in Sumner, der ersten Highschool für Schwarze westlich des Mississippis; Jack ist ein unsteter Gelegenheitsarbeiter und irgendwie seltsamer Büchermensch, der sich in Bibliotheken wohlfühlt, Lesestoff nach Bedarf klaut, kurze Zeit sogar in einer Buchhandlung arbeitet. Im Gefängnis war er "der Professor", er wurde sogar einmal für einen Schriftsteller gehalten, und Della denkt bei ihrer ersten Begegnung an einen Geistlichen. Da hatte er allerdings einen Beerdigungsanzug an.
Was sich zwischen den beiden Liebenden abspielt, könnte eine Komödie oder eine Tragödie werden, doch es ist keins von beiden, eher ein bisschen überirdisch. Della jedenfalls glaubt - das ist ihr besonderer Liebesblick - einer strahlend schönen Seele begegnet zu sein. Für Jack ist ihre Liebe "das Schönste, was ich in meinem Leben erlebt habe". Diese Seelengemeinschaft steuert auf eine Familie zu, sie schließen eine Ehe ohne Trauschein. Aber im Staat Missouri können sie nicht zusammenleben, ebenso wenig wie in der homogen-weißen Community von Gilead. Dellas Vater, methodistischer Bischof in Memphis, Tennessee, vertritt unbeugsam die Segregation, das heißt die selbständige Entwicklung der afroamerikanischen Kultur ohne Einmischung der Weißen.
Diese unmögliche Liebe ist zugleich Teil einer Denkaufgabe. Für gewöhnlich ändern oder entwickeln sich Figuren im Verlauf eines Romans. Anders als in seiner schrecklichen Jugendgeschichte bleibt Jack nunmehr loyal in einer Liebe, die er selbst als zerstörerisch empfindet. Della dagegen riskiert und verliert ihren Status und den Beruf, den sie liebt. Aber diese Momente sind noch nicht alles. Robinson beantwortet die Frage, ob Menschen sich ändern können, mit einer sibyllinischen Gegenfrage: "Verändern sich Menschen? Nehmen sie die Gelegenheit wahr, eine andere Seite ihres Charakters zu manifestieren? Oder nehmen sie die Gnade an, angenommen zu werden, Fehler und alles. Ich sehe das als eine offene Frage an." Die Bedingung der Möglichkeit von Gnade, das ist die Denkaufgabe. In dem, was den Figuren zustößt und wie sie handeln, wird davon erzählt. Jack ist unsicher bis zuletzt, was Schuld und Gnade betrifft, aber das letzte Wort des Romans ist doch grace, Gnade.
Marilynne Robinson ist religiös, und sie hält Predigten in ihrer Gemeinde. Dieser Roman ist aber definitiv keine Predigt und auch keine Erbauungsliteratur, sondern eine komplizierte Beziehungsgeschichte, freilich mit der Zumutung, über Liebe und Gnade lesend nachzudenken. Kompliziert auch deshalb, weil wir unablässig Jacks innere Stimme hören, der sich als Selbstbeobachter durchschaut und kommentiert: "Und wieder passierte es ihm, dass ein kostbarer Gedanke, in Worte gefasst, dahinwelkte." Mit dieser Paradoxie von analytischem Scharfsinn und Blindheit kann er nicht anders, als sich und die anderen unglücklich zu machen. So bildet der Roman einen ganzen Resonanzraum, in dem Erlebnisse und Handlungen oft nur beiläufig erwähnt werden, durch seine Fülle sprachlicher Register. Das stellt die Übersetzung vor große Schwierigkeiten, und selbst eine erfahrene Übersetzerin wie Uda Strätling, die alle Gilead-Romane übersetzt hat, kommt an ihre Grenzen.
Da ist einmal der Klang umgangssprachlicher Rede, für den Robinson ein außerordentliches Gespür hat. Jack sagt im Englischen: "Your voice is soft even when your're angry. That's unusual." Das übersetzt Strätling so: "Ihre Stimme ist selbst im Zorn milde. Das ist ungewöhnlich." Aber das ist Buchdeutsch, die Stimme ist weich oder sanft, "selbst wenn Sie zornig sind". Erst die Sinneswahrnehmung, dann die Einschränkung. Am anderen Ende der Schwierigkeitenskala stehen religionsphilosophische Feinheiten des Romans, etwa der emphatische Wirklichkeitsbegriff, als das Friedhofsgespräch auf Jesus kommt. Della sagt: "I just think there has to be a Jesus, to say 'beautiful' about things no one else would ever see. The precious things should be looked to, whatever becomes of the rest of it." Daraus wird im Deutschen: "Ich denke, es muss einen Jesus geben, sonst könnte man zu Dingen nicht 'wunderschön' sagen, die sonst keiner sieht. Kostbare Dinge müssen wir hegen, was immer mit dem Rest wird." Nein, nicht "wir"; unter dem allsehenden Blick Gottes gibt es das unbeachtete Schöne, und Gott kümmert sich darum, weil wir Menschen es nicht tun.
Was Marilynne Robinson zu sagen hat, ist zu schade, um es zu verwässern, auch wenn man ihren Glauben nicht teilt. Man sollte die Sprach- und Gedankenkünstlerin Robinson zweisprachig drucken. So wie Lyrik? Genau so. URSULA RENNER
Marilynne Robinson: "Jack". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 383 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main