Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.06.2012Die Griechen sind einfach herrliche Tagediebe
Diesen Täuschern lauscht man gerne: Der neue Band in der Edition von Jacob Burckhardts „Griechischer Culturgeschichte“
Die große Ausgabe der Werke des großen Kulturhistorikers Jacob Burckhardt kommt voran. Auf siebenundzwanzig Bände ist sie angelegt, der zweiundzwanzigste davon soeben erschienen. Ein Projekt von dieser Größenordnung kann nicht von einem Verlag allein gestemmt werden, selbst wenn es sich um C. H. Beck handelt. Um eine so umfangreiche Arbeit so gewissenhaft durchzuführen – der Band enthält nebst 800 Seiten Text noch 600 Seiten Kommentar, Glossar, Register und textkritischen Apparat – mussten sich finanzkräftige Stiftungen wie der Schweizerische Nationalfonds und die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel beteiligen; denn Burckhardt wirkte ja in Basel. Dennoch kostet das Ergebnis noch den nicht unerheblichen Betrag von 248 Euro.
Der neue Band enthält Burckhardts Aufzeichnungen für seine Vorlesung über die Griechen, die er seit 1874 immer wieder hielt; aber das Material, das sich hier türmt, übersteigt alles, was sich in einer Semester-Wochenstunde maximal sagen lässt. Zwischen einem durchlaufenden Text, wie er in den früheren Bänden seiner „Griechischen Culturgeschichte“ zu lesen ist (dieser ist der vierte), und einem bloßen Konvolut von Notizen hält der Band eine immer noch gut und mit Gewinn lesbare Mitte.
Burckhardt breitet einen ungeheuren Materialreichtum aus. Das ist nicht so langweilig, wie es klingt: Denn die antiken Autoren, die Historiker eingeschlossen, erzählen durch die Bank gute und einprägsame Geschichten; die zitierbare Anekdote ist sozusagen ihre Lebensluft, und deswegen werden sie auch nicht um das Ihrige gebracht, wenn man sie in Brocken und Bröckchen bietet. Dabei unterwirft Burckhardt sein Material einem klaren System, dem er die Fülle dienstbar macht.
Ein kleines Kapitel gleich am Anfang befasst sich beispielsweise mit der griechischen Namensgebung. Jacob Burckhardt betont den Unterschied zur Phantasielosigkeit der Römer in diesem Punkt. Namen zu finden kostet die Griechen gar nichts. „Hesiod schüttelt 50 Nereidennamen aus dem Ermel (. . .) die 50 Danaiden und die 50 Aegyptiden, wovon doch 49 sogleich thatlos sterben –“. Es folgt eine Episode vom Komödiendichter Aristophanes, worin ein Mann und eine Frau sich um den Namen ihres Sohns streiten. Der Mann, konservativ gesinnt, möchte ihn nach dem Großvater Pheidonides nennen; „der aristocratischen Mutter aber steckt ein Xanthippos, Charippos, Kallipides im Kopf“ – „hippos“ ist das Pferd, es käme also wahlweise ein strahlendes Pferd, ein anmutiges Pferd und der Abkömmling eines schönen Pferdes heraus –, „endlich vertragen sich beide auf Pheidippides“, der nun sowohl dem Großvater als auch den Rossen ihr Recht lässt. Damit hat der Dichter (und der Gelehrte, der es auffindet und einzeln herausnimmt) mit wenigem sehr viel über die athenische Gesellschaft des 5. Jahrhunderts gesagt: über den Zusammenstoß der Mentalitäten, über ihren Dünkel und ihre geistige Beweglichkeit, im Guten wie im Schlechten. Oder zu den Haartrachten: Ein Mann aus Chios lässt sich das Haar färben. „Als er aber in Sparta auftritt (etwa als Gesandter) sagte Archidamos: dieser trägt die Lügen nicht nur in der Seele, sondern auch auf dem Kopf herum.“ Das charakterisiert die Spartaner in einem Satz.
Kulturgeschichte, das heißt für Burckhardt, dass er als Quelle vor allem die Literatur heranzieht (die bildende Kunst hier weit weniger) und als Ziel die Typisierung anstrebt; die gleichzeitigen archäologischen Aktivitäten eines Schliemann, auf den keins von beiden zutrifft, betrachtet er mit einer gewissen Distanz. Burckhardt gliedert die Epochen der Griechen in den „heroischen“, den „agonalen“ und den „colonialen“ Menschen; er verfolgt, welchen Veränderungen die Wertschätzung der Arbeit oder der Frauen unterliegt (zwiespältiges Resultat: die Stellung der Frau verschlechtert sich mit dem Vordringen der Demokratie); und er liebt seine Griechen gerade in ihrer tiefen Ambivalenz. Mehr als einmal nennt er sie herrliche Tagediebe, die zur praktischen Besserung der Lebensverhältnisse so gut wie nichts und zur Kultur alles beigetragen haben, auf deren wunderbar beredtes Wort man so gern lauscht, aber sich leider nicht verlassen kann. Zur berühmten Rede des Perikles auf die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges merkt Burckhardt an: „Wer einen Toast halten will, sollte immer vorher diese Rede lesen. (. . .) So muss zu reden verstehn wer Jahrtausende täuschen will!“ Das Emporblühen der griechischen Polis an hundert Stellen ist bezahlt mit der elendesten Kirchturm- oder besser Akropolis-Politik und großer Grausamkeit im Umgang miteinander, einem mörderischen Aderlass. Burckhardt vergisst nicht zu erwähnen, dass Athen gleichermaßen für den süßesten Honig wie für den tödlichsten Schierling bekannt war.
Burckhardts Held aber ist Alexander der Große: Urgriechisch in seinem maßlosen Vorwärtsstreben und seiner forschenden Neugier, ungriechisch allein darin, dass er Verträge hielt, hängt es ganz allein von ihm ab, dass die griechische Spezialkultur ihre Wirkung auf die ganze Welt zu entfalten vermag. Er leitet das Zeitalter des kosmopolitischen Hellenismus ein. Der Hellenismus wird damals noch einigermaßen misstrauisch als Periode des Niedergangs nach der hohen Zeit der Klassik bewertet; dieser Einschätzung tritt Burckhardt nachdrücklich entgegen, wie das folgende Zitat zeigt:
„Allein wir können wenigstens in Betreff des Hellenismus die Dinge unmöglich anders wünschen als sie geschehen sind. Und hiebei handelt es sich nicht bloß um das Curiositäteninteresse des Historikers. Wir können nicht wünschen, daß statt einer macedonischen Obmacht in Griechenland und Eroberung Persiens etwa eine Überwältigung des entzweiten und zerrütteten Griechenlands durch irgend eine neue barbarische Naturmacht Asiens oder des scythischen Nordens stattgefunden hätte. Wir können nicht wünschen, daß Rom, wie in diesem Falle wohl geschehen wäre, ohne die hellenistische Bildung blieb, denn nur dem Philhellenismus der Römer für ein noch am Leben befindliches Griechenland verdanken wir das Weiterleben der Cultur der ganzen alten Welt. Das hellenisirte Römerthum aber war der unentbehrliche Boden für die Verbreitung des Christenthums. Und das Christenthum, abgesehen von seiner Eigenschaft als Religion, sollte dann die einzige Brücke werden welche die alte Welt mit ihren germanischen Eroberern zu verbinden bestimmt war. In dieser ganzen Kette von Ursachen und Wirkungen aber ist der Hellenismus der wichtigste Ring.“ Ob sich dieses geschichtsphilosophische Modell so halten lässt, darüber kann man diskutieren. An Perspektive fehlt es ihm jedenfalls nicht.
Es wäre schade, wenn diese Ausgabe als ein Werk nur für sprachkundige Fachleute wahrgenommen würde, denn das müsste den Kreis der potenziellen Leser auf weniger als ein Prozent einengen. Am besten hält man fest: Wen die Haupttexte der „Griechischen Culturgeschichte“, „Die Griechen und ihre Götter“ etwa oder „Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens“ ansprechen, der wird auch dieses umfangreiche Seitenstück mögen, das alles noch einmal auf lebendige und abwechslungsreiche Weise erläutert und vertieft. Nicht zuletzt macht das umfangreiche Register es auch zum Nachschlagewerk tauglich.
BURKHARD MÜLLER
JACOB BURCKHARDT: Kritische Gesamtausgabe. Griechische Culturgeschichte. Band IV: Der hellenische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung. Hrsg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung Basel. Verlag C. H. Beck, München, und Schwabe Verlag, Basel 2012. 1414 Seiten, 248 Euro.
Er liebte seine zwiespältigen Griechen: JacobBurckhardt.
Abb.: Blanc Kunstverlag
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Diesen Täuschern lauscht man gerne: Der neue Band in der Edition von Jacob Burckhardts „Griechischer Culturgeschichte“
Die große Ausgabe der Werke des großen Kulturhistorikers Jacob Burckhardt kommt voran. Auf siebenundzwanzig Bände ist sie angelegt, der zweiundzwanzigste davon soeben erschienen. Ein Projekt von dieser Größenordnung kann nicht von einem Verlag allein gestemmt werden, selbst wenn es sich um C. H. Beck handelt. Um eine so umfangreiche Arbeit so gewissenhaft durchzuführen – der Band enthält nebst 800 Seiten Text noch 600 Seiten Kommentar, Glossar, Register und textkritischen Apparat – mussten sich finanzkräftige Stiftungen wie der Schweizerische Nationalfonds und die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel beteiligen; denn Burckhardt wirkte ja in Basel. Dennoch kostet das Ergebnis noch den nicht unerheblichen Betrag von 248 Euro.
Der neue Band enthält Burckhardts Aufzeichnungen für seine Vorlesung über die Griechen, die er seit 1874 immer wieder hielt; aber das Material, das sich hier türmt, übersteigt alles, was sich in einer Semester-Wochenstunde maximal sagen lässt. Zwischen einem durchlaufenden Text, wie er in den früheren Bänden seiner „Griechischen Culturgeschichte“ zu lesen ist (dieser ist der vierte), und einem bloßen Konvolut von Notizen hält der Band eine immer noch gut und mit Gewinn lesbare Mitte.
Burckhardt breitet einen ungeheuren Materialreichtum aus. Das ist nicht so langweilig, wie es klingt: Denn die antiken Autoren, die Historiker eingeschlossen, erzählen durch die Bank gute und einprägsame Geschichten; die zitierbare Anekdote ist sozusagen ihre Lebensluft, und deswegen werden sie auch nicht um das Ihrige gebracht, wenn man sie in Brocken und Bröckchen bietet. Dabei unterwirft Burckhardt sein Material einem klaren System, dem er die Fülle dienstbar macht.
Ein kleines Kapitel gleich am Anfang befasst sich beispielsweise mit der griechischen Namensgebung. Jacob Burckhardt betont den Unterschied zur Phantasielosigkeit der Römer in diesem Punkt. Namen zu finden kostet die Griechen gar nichts. „Hesiod schüttelt 50 Nereidennamen aus dem Ermel (. . .) die 50 Danaiden und die 50 Aegyptiden, wovon doch 49 sogleich thatlos sterben –“. Es folgt eine Episode vom Komödiendichter Aristophanes, worin ein Mann und eine Frau sich um den Namen ihres Sohns streiten. Der Mann, konservativ gesinnt, möchte ihn nach dem Großvater Pheidonides nennen; „der aristocratischen Mutter aber steckt ein Xanthippos, Charippos, Kallipides im Kopf“ – „hippos“ ist das Pferd, es käme also wahlweise ein strahlendes Pferd, ein anmutiges Pferd und der Abkömmling eines schönen Pferdes heraus –, „endlich vertragen sich beide auf Pheidippides“, der nun sowohl dem Großvater als auch den Rossen ihr Recht lässt. Damit hat der Dichter (und der Gelehrte, der es auffindet und einzeln herausnimmt) mit wenigem sehr viel über die athenische Gesellschaft des 5. Jahrhunderts gesagt: über den Zusammenstoß der Mentalitäten, über ihren Dünkel und ihre geistige Beweglichkeit, im Guten wie im Schlechten. Oder zu den Haartrachten: Ein Mann aus Chios lässt sich das Haar färben. „Als er aber in Sparta auftritt (etwa als Gesandter) sagte Archidamos: dieser trägt die Lügen nicht nur in der Seele, sondern auch auf dem Kopf herum.“ Das charakterisiert die Spartaner in einem Satz.
Kulturgeschichte, das heißt für Burckhardt, dass er als Quelle vor allem die Literatur heranzieht (die bildende Kunst hier weit weniger) und als Ziel die Typisierung anstrebt; die gleichzeitigen archäologischen Aktivitäten eines Schliemann, auf den keins von beiden zutrifft, betrachtet er mit einer gewissen Distanz. Burckhardt gliedert die Epochen der Griechen in den „heroischen“, den „agonalen“ und den „colonialen“ Menschen; er verfolgt, welchen Veränderungen die Wertschätzung der Arbeit oder der Frauen unterliegt (zwiespältiges Resultat: die Stellung der Frau verschlechtert sich mit dem Vordringen der Demokratie); und er liebt seine Griechen gerade in ihrer tiefen Ambivalenz. Mehr als einmal nennt er sie herrliche Tagediebe, die zur praktischen Besserung der Lebensverhältnisse so gut wie nichts und zur Kultur alles beigetragen haben, auf deren wunderbar beredtes Wort man so gern lauscht, aber sich leider nicht verlassen kann. Zur berühmten Rede des Perikles auf die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges merkt Burckhardt an: „Wer einen Toast halten will, sollte immer vorher diese Rede lesen. (. . .) So muss zu reden verstehn wer Jahrtausende täuschen will!“ Das Emporblühen der griechischen Polis an hundert Stellen ist bezahlt mit der elendesten Kirchturm- oder besser Akropolis-Politik und großer Grausamkeit im Umgang miteinander, einem mörderischen Aderlass. Burckhardt vergisst nicht zu erwähnen, dass Athen gleichermaßen für den süßesten Honig wie für den tödlichsten Schierling bekannt war.
Burckhardts Held aber ist Alexander der Große: Urgriechisch in seinem maßlosen Vorwärtsstreben und seiner forschenden Neugier, ungriechisch allein darin, dass er Verträge hielt, hängt es ganz allein von ihm ab, dass die griechische Spezialkultur ihre Wirkung auf die ganze Welt zu entfalten vermag. Er leitet das Zeitalter des kosmopolitischen Hellenismus ein. Der Hellenismus wird damals noch einigermaßen misstrauisch als Periode des Niedergangs nach der hohen Zeit der Klassik bewertet; dieser Einschätzung tritt Burckhardt nachdrücklich entgegen, wie das folgende Zitat zeigt:
„Allein wir können wenigstens in Betreff des Hellenismus die Dinge unmöglich anders wünschen als sie geschehen sind. Und hiebei handelt es sich nicht bloß um das Curiositäteninteresse des Historikers. Wir können nicht wünschen, daß statt einer macedonischen Obmacht in Griechenland und Eroberung Persiens etwa eine Überwältigung des entzweiten und zerrütteten Griechenlands durch irgend eine neue barbarische Naturmacht Asiens oder des scythischen Nordens stattgefunden hätte. Wir können nicht wünschen, daß Rom, wie in diesem Falle wohl geschehen wäre, ohne die hellenistische Bildung blieb, denn nur dem Philhellenismus der Römer für ein noch am Leben befindliches Griechenland verdanken wir das Weiterleben der Cultur der ganzen alten Welt. Das hellenisirte Römerthum aber war der unentbehrliche Boden für die Verbreitung des Christenthums. Und das Christenthum, abgesehen von seiner Eigenschaft als Religion, sollte dann die einzige Brücke werden welche die alte Welt mit ihren germanischen Eroberern zu verbinden bestimmt war. In dieser ganzen Kette von Ursachen und Wirkungen aber ist der Hellenismus der wichtigste Ring.“ Ob sich dieses geschichtsphilosophische Modell so halten lässt, darüber kann man diskutieren. An Perspektive fehlt es ihm jedenfalls nicht.
Es wäre schade, wenn diese Ausgabe als ein Werk nur für sprachkundige Fachleute wahrgenommen würde, denn das müsste den Kreis der potenziellen Leser auf weniger als ein Prozent einengen. Am besten hält man fest: Wen die Haupttexte der „Griechischen Culturgeschichte“, „Die Griechen und ihre Götter“ etwa oder „Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens“ ansprechen, der wird auch dieses umfangreiche Seitenstück mögen, das alles noch einmal auf lebendige und abwechslungsreiche Weise erläutert und vertieft. Nicht zuletzt macht das umfangreiche Register es auch zum Nachschlagewerk tauglich.
BURKHARD MÜLLER
JACOB BURCKHARDT: Kritische Gesamtausgabe. Griechische Culturgeschichte. Band IV: Der hellenische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung. Hrsg. von der Jacob Burckhardt-Stiftung Basel. Verlag C. H. Beck, München, und Schwabe Verlag, Basel 2012. 1414 Seiten, 248 Euro.
Er liebte seine zwiespältigen Griechen: JacobBurckhardt.
Abb.: Blanc Kunstverlag
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