Jacob Burckhardts "Griechische Culturgeschichte" gehört zu den bedeutenden, bis heute nachwirkenden historischen Gesamtdarstellungen des 19. Jahrhunderts. Burckhardt setzte mit diesem Werk einer an Ereignissen und Fakten orientierten Geschichtsschreibung eine systematische Darstellung der griechischen Kultur entgegen, die das Spannungsverhältnis von Staat, Religion und Kunst thematisiert. Seine - bei aller Anerkennung ihrer geistigen und künstlerischen Leistungen - skeptische Haltung den Griechen gegenüber bildet einen Kontrast zu den noch bis weit ins 20. Jahrhundert verbreiteten Idealisierungen des Griechentums. Burckhardts Neffe Jacob Oeri hat das Werk - teilweise aufgrund einer ausgearbeiteten Fassung, teilweise aufgrund eines Vorlesungsmanuskripts - zwischen 1898 und 1902 in vier Bänden ediert und dabei den Textbestand stark verändert. Diese kritische Edition folgt erstmals ausschließlich Burckhardts Manuskript. Sie dokumentiert und übersetzt seine Quellen und erläutert zahlreiche Sachbegriffe. Jeder Band wird durch ein Namen-, Stellen- und Sachregister erschlossen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Läuterungen im Kabinett der Affekte
Die neue Edition von Jacob Burckhardts "Griechischer Kulturgeschichte" / Von Uwe Walter
Jacob Burckhardt war kein Hegelianer. In den Materialien zu seinem Kolleg "Über das Studium der Geschichte" findet sich ein Exzerpt aus Hegels "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte". Die Notiz zeugt von einer lebhaften Auseinandersetzung, die mittendrin abbricht. Wahrscheinlich konnte Burckhardt keine weitere Seite mehr ertragen: Zu sehr widersprach widersprach die Rechtfertigung des historischen Prozesses als Fortschritt von Sittlichkeit und Freiheit seinem eigenen Denken. Vom "kecken Anticipieren eines Weltplans", meist in höchst optimistischem Sinne, sprach Burckhardt dann im Hörsaal. Doch hat der Basler Historiker das Studium der griechischen Antike auf eine neue Basis gestellt, indem er den Gegenstand seiner Anschauung dialektisch konzipierte. Jeder Kundige kennt die markanten Zitate aus der Einleitung der "Griechischen Kulturgeschichte". Vom Leiden der Griechen ist da die Rede, und erst Burckhardt hat einem Satz seines Lehrers August Boeckh zur allgemeinen Bekanntheit verholfen: Die Hellenen seien viel unglücklicher gewesen, als wir glauben.
Wir, damit meinte er die idealisierende Ansicht eines irenischen Klassizismus, wonach sich die individuellen Kräfte völlig im Sinne des Allgemeinen ausgebildet hätten, so daß Freiheit und Unterordnung harmonisch in eins verschmolzen: "In Betreff der alten Griechen glaubte man seit der großen Erhebung des deutschen Humanismus im vorigen Jahrhundert im Klaren zu sein: im Wiederschein ihres kriegerischen Heldenthums und Bürgerthums, ihrer Kunst und Poesie, ihres schönen Landes und Klima's schätzte man sie glücklich, und Schiller's Gedicht die ,Götter Griechenlands' faßte den ganzen vorausgesetzten Zustand in ein Bild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr aus Jahr ein im Entzücken leben müssen."
Die blinden Flecken in einem solchen Bild waren leicht auszumachen. Burckhardt tat dies auf dem Gebiet des ihm ohnehin suspekten Staates, den er in der Gestalt der Polis als beinahe totalitäres, von Machtgewinn und Destruktion geprägtes Gebilde vorstellte. Doch auch sein akribisches Bemühen, in einem eigenen Abschnitt des Werkes jenseits von der Politik "die wirklich herrschende, durchschnittliche Ansicht des Lebens" festzustellen, generierte ein Kabinett von Defekten, bestückt mit Rache und falschen Schwüren, Schmähsucht und Neid, Pessimismus und Selbstmord.
Doch Burckhardt war damit kein Vorausdenker der einfältigen Klassikzertrümmerungen unserer Tage. Das Schöne bildete auch bei ihm den Maßstab für das Bleibende; "was Beglückung durch den Geist gewähren kann, das haben hier viele auserwählte Menschen in hoher Kunst und Dichtung, in Denken und Forschen genossen und durch den Abglanz ihres Wesens auch den übrigen vermittelt, soweit diese des Verständnisses fähig waren. Diese Kräfte sind bei den Griechen gewissermaßen immer optimistisch gewesen, d. h. es hat sich für Künstler, Dichter und Denker immer der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen Schöpfungen gegenüberzutreten." Aber die Voraussetzungen dafür - Freiheit, Individualität und Kreativität - waren keine prästabilen, sondern höchst problematische Größen, weil ihre Betätigung im steten Wettbewerb mit dem Nebenmann in die Selbstzerstörung führen konnte. "Um des Erfolges und Gelingens, der Herrschaft und des Genusses willen", so stellt er fest, "ist eben dem Griechen zugestandener Weise vieles erlaubt."
Der Satz findet sich am Ende des zweiten Bandes, in dem Abschnitt "Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens". Auffällig korrespondiert er mit der Einleitung zum ersten Band, sowohl in der Bestimmung der kulturhistorischen Methode als auch im Grundgedanken einer klar wertorientierten, aber nicht verklärenden Alleinstellung der Hellenen: "Der Grieche aber war früher ein individueller Mensch geworden als die Übrigen und trug nun hievon den Ruhm und das Unheil in unvermeidlicher Mischung."
Die "Griechische Kulturgeschichte" erblickte bekanntlich zunächst als Vorlesung das Licht der Welt. Ihre Disposition orientierte sich an der Potenzenlehre des Kollegs "Über das Studium der Geschichte": Auf die Polis, für Burckhardt die Emanation des griechischen Staates schlechthin, folgte die Religion, während der umfangreiche Teil zur Kultur deren klassische Formen behandelte, also bildende Kunst, Literatur und Musik sowie die philosophische Lebensform. Diese drei Hauptteile liegen in der neuen Gesamtausgabe in ebenso vielen Bänden nunmehr vor, während die Vollendung durch den mächtigen neunten Abschnitt, der den Stoff unter anderen Gesichtspunkten und epochenweise behandelt, wegen der Materialfülle und der editorischen Schwierigkeiten noch länger ausstehen wird.
Die Ausgabe verdient schon jetzt das Prädikat mustergültig. Burckhardt hat die Vorlesung zwischen 1872 und 1885/86 siebenmal gehalten, jeweils fünfstündig. Zur Wirkung gelangte sie jedoch erst, als Jacob Oeri aus den nachgelassenen Manuskripten kurz nach dem Tod des Onkels die vierbändige Buchausgabe erstellte, die mit wenigen Korrekturen auch der von Felix Staehelin und Samuel Merian veranstalteten "Gesamtausgabe" von 1930/31 sowie in den fünfziger Jahren dem Abdruck in den "Gesammelten Werken" zugrundelag. Nur in der lesbaren Textgestalt Oeris konnte Burckhardts Anschauung von der griechischen Kultur ihren Weg machen und dabei immer wieder produktive Anstöße geben. Denn während die von Burckhardt ironisch als "viri eruditissimi" titulierten seinerzeitigen Moguln und Modernisierer der Altertumswissenschaft die Publikation der "veralteten Hefte" für ein Ärgernis hielten, haben viele Griechenlandhistoriker seither die Erkenntnispotentiale des Werkes gerade dort erkannt und genutzt, wo Burckhardt methodisch wie politisch gegen den Geist seiner Zeit stand.
Die Neuedition in der kritischen Werkausgabe stößt durch die geglättete Oberfläche von Oeris Text; sie legt durch sorgfältige philologische Filigranarbeit ein komplexes Original und damit auch Burckhardts Arbeitsweise frei. Dieser hatte in den achtziger Jahren begonnen, eine Ausarbeitung des Vorlesungsmanuskriptes im Folioformat anzufertigen, bei dem es sich jedoch allenfalls um eine Vorstufe zu einem Buchmanuskript handelte - wenn denn ein solches je ernsthaft ins Auge gefaßt war. So aufbereitet wurden die beiden ersten Hauptteile über Staat und Religion. Hier entspricht der für die Neuedition maßgebliche nachgelassene Textbestand weitgehend der Ausgabe Oeris, der lediglich einige eingelegte Blätter mit nachgetragenem Material in den Text einfügte und manche Fugen verschliff.
Für den Rest der Vorlesung - im Druck die Bände drei und vier - war Oeri gezwungen, aus Konvoluten von immer wieder ergänzten Stichwortblättern, Exzerpten, Vortragsmanuskripten und Notizen einen Lesetext herzustellen, wobei er sich auch der ausführlichen Kollegnachschrift eines Studenten bediente, um Burckhardts Wortlaut näherzukommen. Trotz aller Pietät wurde dabei allein durch das argumentierende Verknüpfen der in den Mappen vorgefundenen Notizen, Halbsätze und Gedanken Sperriges geglättet und Ambivalentes vereindeutigt, von einigen Mißverständnissen und irreführenden Eingriffen ganz zu schweigen. Die Neuedition nun macht Oeris Konstruktion rückgängig; sie bietet nicht nur für beide Ausarbeitungsstufen den originalen Text Burckhardts, sondern weist auch die Arbeitsstufen in einem kritischen Apparat nach.
Auch der jüngst erschienene, auf dem Foliomanuskript beruhende zweite Band ist vortrefflich erschlossen, unter anderem durch einen knappen Kommentar mit Nachweisen und Übersetzungen der altsprachlichen Zitate sowie durch fast einhundert Seiten umfassende Register. Vermißt wird lediglich eine Seitenkonkordanz, die es sehr erleichtern würde, Verweise auf Stellen in einer der drei älteren Ausgaben in der neuen, nunmehr maßgeblichen Edition rasch wiederzufinden.
Burckhardt fand zur griechischen Religion einen unmittelbaren Zugang. Es war nicht nur Koketterie, wenn er bekannte, ein ganz unphilosophischer Kopf zu sein, dem profunde Gedanken nur dann gekommen seien, wenn sie sich an ein Äußeres anschließen konnten. Der Kosmos der Götter und Heroen schien ihm nun sehr weitgehend im Anschaubaren aufzugehen, greifbar gestaltet von Homer und Hesiod und in den Bildwerken der klassischen Kunst. Recht früh hatte der Pfarrerssohn und anfängliche Theologiestudent einen Ablösungsprozeß von der zeitgenössischen Religionsübung und vor allem ihrer doppelten Armierung durch Klerus und Glaubenswissenschaft durchlaufen. Schon 1838 war der Student auf der Suche nach einem "Fach in der Theologie wo man den Lehren über Glauben und Offenbarung ganz ausweichen kann", und wenige Jahre später war ihm Christus als Gott gleichgültig, als Mensch dagegen "die schönste Erscheinung der Weltgeschichte". Dat war der Sprung zur Historie vollzogen, und Burckhardt ging nach Berlin, um bei Ranke, Droysen und Boeckh zu studieren. Doch die Religion blieb ihm "Potenz". Ihre Anerkennung als "Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur" und die Schätzung des Christentums als sittliche Macht bewahrten ihn vor flachem Agnostizismus oder verstiegenem Neuheidentum.
Tatsächlich schaute er die griechische Religion dezidiert mit seinen eigenen Augen an, und Handbuchweisheiten gewinnen so die Kraft einer Botschaft: "Die Griechen besaßen nichts schriftlich Geoffenbartes, nichts irgend von Außen Auferlegtes über ihre Götter, und ebensowenig eine auferlegte Lehre über ihre Religion . . . Ihre Ausbildung ist nicht geschehen durch Priester. Wohl gab es solche von frühe an bis in die spätesten griechischen Zeiten, aber es gab niemals einen Priesterstand und vollends kein Priesterthum . . . Die griechische Religion würde von Anfang bis zu Ende anders lauten wenn ein Priesterthum Einfluß darauf gehabt hätte." Überhöht hat Burckhardt diesen Gedanken durch den Verweis auf die schöpferische Bildkraft des griechischen Volkes. Diesen kreativen Urquell sah Burckhardt in einer meta- oder protohistorischen Tiefe geborgen, und es erscheint von daher nicht überraschend, daß er die Vorlesung mit dem kurzen, nur gut dreißig Druckseiten füllenden Abschnitt über den Mythos eröffnete, der systematisch zu den großen Stücken zur Religion gehört hätte und die Forschung irritiert hat, bis Egon Flaig vor einigen Jahren den Sinn dieser Disposition klären konnte.
Gerade im Bereich von Mythos und Religion ist es spannend zu sehen, wie Burckhardt die Alleinstellung der Hellenen begründete und damit zugleich einen Beitrag leistete zu der mehr denn je kontroversen Debatte, wie groß die Einflüsse zumal der Hochkulturen des Alten Orients auf den westlichen Rand des fruchtbaren Halbmonds waren. Denn gerade die Mythenforschung und die Vergleichende Religionswissenschaft haben auf ihrer Suche nach verborgenen Ursprüngen schon früh nach Analogien und Diffusionen gesucht, zu Burckhardts Zeit freilich oft noch in Verbindung mit Theorien über frühe Wanderungen und Ethnogenesen.
Der Kulturhistoriker schob die Spekulationen um karische, phönizische oder arische Ursprünge beiseite, indem er sich auf die Frage konzentrierte, "was diese Religion und diese Götter den Griechen der historischen Zeit waren". Mit diesem angesichts der nicht selten enthemmten Kombinationslust damaliger und späterer Religionswissenschaftler heuristisch wohlfundierten Kunstgriff hatte er die alte genealogische Frage durch eine moderne funktionalistische ersetzt und zugleich das Offensichtliche zum Unterscheidungsgrund gemacht: Statt "gelehrter Kunde und gelehrten Wissens, womit die Ägypter heimgesucht wurden", besaßen die Griechen lebendige Anschauungen von ihren Göttern und Heroen, die schmiegsam und anpassungsfähig die sich entfaltende Kultur begleiteten und förderten. Burckhardt verließ die labyrinthischen Wege der Forschung noch in anderer Hinsicht, indem er keinen älteren oder symbolhaft tieferen Sinn hinter ihnen vermutete; die Griechen aber, so wird vermerkt, "wollten ihren Mythus gar nicht deuten, sondern schützen, verherrlichen, vermehren".
Die komplementären Schattenseiten der griechischen Göttervorstellung, etwa die Amoralität der olympischen Religion, wurden sehr wohl verzeichnet, wenn auch nicht so ausladend und in roter Farbe wie das Schuldkonto des menschenverschlingenden Staates im zweiten Abschnitt. Die Größe dieser Götter lag weder in einem Geheimen noch einer Sittlichkeit, auch weder in Gnade noch Ungnade, weswegen die Griechen diese Größe ganz zu sich herüberziehen konnten, indem sie "alle Pracht, Kunst und Lebensfreude in den Dienst des Kultus zogen und ihm damit die Bangigkeit benahmen".
Auch das Feld der Religion maß Burckhardt also mit dem ästhetischen Blick aus: Erwachsen aus der Phantasie des Volkes, ist dieser Polytheismus nie einer theologischen Konzentrierung unterlegen, welche um den Gewinn einer höheren moralischen und intellektuellen Substanz die Bildhaftigkeit und Bildkräftigkeit wohl hätte reduzieren müssen. In dieser Lesart vermochte die Religion selbstverständlich kein Gegengewicht zu den anderen lebensbestimmenden Potenzen zu bilden. Sie in der Vorlesung zwischen den Staat und das Kabinett der Affekte zu setzen, war also durchaus konsequent. Mochten die Götter auch dem Menschen das Maß seiner Leiden zugemessen haben - der welthistorische Funke konnte nur deshalb überspringen, weil die Hellenen in höchstem Grade ihre Leiden empfinden und sich ihrer bewußt werden mußten. Die Unsterblichkeit ihres Erbes ruht ja gerade darauf: Wenn sie längst alle Leiden gelitten haben und alle Tode gestorben sind, können wir sie immer wieder anschauen, um unsere eigene Existenz zu begreifen oder zu läutern.
Auf Dauer zu stellen war derlei im Binnenraum der verzehrenden Lebenswelt der Griechen nicht, und am Ende schimmert dann auch bei Burckhardt ein wenig Teleologie hindurch, wenn er von einem berühmten Philosophenselbstmord berichtet, in der Zeit des philosophierenden Kaisers Marcus Aurelius, den man später für einen heimlichen Christen gehalten hat. Denn jener Kyniker Peregrinus Proteus, der sich in Olympia während des Zeusfestes auf einem Scheiterhaufen selbst verbrannte, hatte sich, so das abschließende Urteil, nur in Pose geworfen und zur traurigen Gestalt gemacht. "Der an allen übrigen Zielen irre gewordene hellenische Ruhmsinn setzt hier sein eigenes Ende mit aller möglichen vorangehenden Reclame feierlich in Scene, als herakleische Selbstapotheose. Allerdings in einem Jahrhundert welches ohnehin voll Klagen über die allgemeine Ruchlosigkeit war und (bei Lucian) den Hohn über die ganze Welt, über Götter und Menschen zu hören bekam. Es war hohe Zeit daß neben dieser Gesellschaft eine andere heranwuchs, welche eine ebenso große Sterbewilligkeit in tausend Martyrien an den Tag legte, aber zugleich ein neues hohes Ziel des Lebens vor sich hatte."
Jacob Burckhardt: "Werke". Kritische Gesamtausgabe. Band 20: "Griechische Culturgeschichte II: Die Metamorphosen - Die Griechen und ihre Götter - Der griechische Heroencultus - Erkundung der Zukunft - Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens". Aus dem Nachlaß herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-Sternberg. C. H. Beck Verlag / Schwabe Verlag, München und Basel 2005. VI, 640 S., geb., 128,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die neue Edition von Jacob Burckhardts "Griechischer Kulturgeschichte" / Von Uwe Walter
Jacob Burckhardt war kein Hegelianer. In den Materialien zu seinem Kolleg "Über das Studium der Geschichte" findet sich ein Exzerpt aus Hegels "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte". Die Notiz zeugt von einer lebhaften Auseinandersetzung, die mittendrin abbricht. Wahrscheinlich konnte Burckhardt keine weitere Seite mehr ertragen: Zu sehr widersprach widersprach die Rechtfertigung des historischen Prozesses als Fortschritt von Sittlichkeit und Freiheit seinem eigenen Denken. Vom "kecken Anticipieren eines Weltplans", meist in höchst optimistischem Sinne, sprach Burckhardt dann im Hörsaal. Doch hat der Basler Historiker das Studium der griechischen Antike auf eine neue Basis gestellt, indem er den Gegenstand seiner Anschauung dialektisch konzipierte. Jeder Kundige kennt die markanten Zitate aus der Einleitung der "Griechischen Kulturgeschichte". Vom Leiden der Griechen ist da die Rede, und erst Burckhardt hat einem Satz seines Lehrers August Boeckh zur allgemeinen Bekanntheit verholfen: Die Hellenen seien viel unglücklicher gewesen, als wir glauben.
Wir, damit meinte er die idealisierende Ansicht eines irenischen Klassizismus, wonach sich die individuellen Kräfte völlig im Sinne des Allgemeinen ausgebildet hätten, so daß Freiheit und Unterordnung harmonisch in eins verschmolzen: "In Betreff der alten Griechen glaubte man seit der großen Erhebung des deutschen Humanismus im vorigen Jahrhundert im Klaren zu sein: im Wiederschein ihres kriegerischen Heldenthums und Bürgerthums, ihrer Kunst und Poesie, ihres schönen Landes und Klima's schätzte man sie glücklich, und Schiller's Gedicht die ,Götter Griechenlands' faßte den ganzen vorausgesetzten Zustand in ein Bild zusammen, dessen Zauber noch heute seine Kraft nicht verloren hat. Allermindestens glaubte man, die Athener des perikleischen Zeitalters hätten Jahr aus Jahr ein im Entzücken leben müssen."
Die blinden Flecken in einem solchen Bild waren leicht auszumachen. Burckhardt tat dies auf dem Gebiet des ihm ohnehin suspekten Staates, den er in der Gestalt der Polis als beinahe totalitäres, von Machtgewinn und Destruktion geprägtes Gebilde vorstellte. Doch auch sein akribisches Bemühen, in einem eigenen Abschnitt des Werkes jenseits von der Politik "die wirklich herrschende, durchschnittliche Ansicht des Lebens" festzustellen, generierte ein Kabinett von Defekten, bestückt mit Rache und falschen Schwüren, Schmähsucht und Neid, Pessimismus und Selbstmord.
Doch Burckhardt war damit kein Vorausdenker der einfältigen Klassikzertrümmerungen unserer Tage. Das Schöne bildete auch bei ihm den Maßstab für das Bleibende; "was Beglückung durch den Geist gewähren kann, das haben hier viele auserwählte Menschen in hoher Kunst und Dichtung, in Denken und Forschen genossen und durch den Abglanz ihres Wesens auch den übrigen vermittelt, soweit diese des Verständnisses fähig waren. Diese Kräfte sind bei den Griechen gewissermaßen immer optimistisch gewesen, d. h. es hat sich für Künstler, Dichter und Denker immer der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen Schöpfungen gegenüberzutreten." Aber die Voraussetzungen dafür - Freiheit, Individualität und Kreativität - waren keine prästabilen, sondern höchst problematische Größen, weil ihre Betätigung im steten Wettbewerb mit dem Nebenmann in die Selbstzerstörung führen konnte. "Um des Erfolges und Gelingens, der Herrschaft und des Genusses willen", so stellt er fest, "ist eben dem Griechen zugestandener Weise vieles erlaubt."
Der Satz findet sich am Ende des zweiten Bandes, in dem Abschnitt "Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens". Auffällig korrespondiert er mit der Einleitung zum ersten Band, sowohl in der Bestimmung der kulturhistorischen Methode als auch im Grundgedanken einer klar wertorientierten, aber nicht verklärenden Alleinstellung der Hellenen: "Der Grieche aber war früher ein individueller Mensch geworden als die Übrigen und trug nun hievon den Ruhm und das Unheil in unvermeidlicher Mischung."
Die "Griechische Kulturgeschichte" erblickte bekanntlich zunächst als Vorlesung das Licht der Welt. Ihre Disposition orientierte sich an der Potenzenlehre des Kollegs "Über das Studium der Geschichte": Auf die Polis, für Burckhardt die Emanation des griechischen Staates schlechthin, folgte die Religion, während der umfangreiche Teil zur Kultur deren klassische Formen behandelte, also bildende Kunst, Literatur und Musik sowie die philosophische Lebensform. Diese drei Hauptteile liegen in der neuen Gesamtausgabe in ebenso vielen Bänden nunmehr vor, während die Vollendung durch den mächtigen neunten Abschnitt, der den Stoff unter anderen Gesichtspunkten und epochenweise behandelt, wegen der Materialfülle und der editorischen Schwierigkeiten noch länger ausstehen wird.
Die Ausgabe verdient schon jetzt das Prädikat mustergültig. Burckhardt hat die Vorlesung zwischen 1872 und 1885/86 siebenmal gehalten, jeweils fünfstündig. Zur Wirkung gelangte sie jedoch erst, als Jacob Oeri aus den nachgelassenen Manuskripten kurz nach dem Tod des Onkels die vierbändige Buchausgabe erstellte, die mit wenigen Korrekturen auch der von Felix Staehelin und Samuel Merian veranstalteten "Gesamtausgabe" von 1930/31 sowie in den fünfziger Jahren dem Abdruck in den "Gesammelten Werken" zugrundelag. Nur in der lesbaren Textgestalt Oeris konnte Burckhardts Anschauung von der griechischen Kultur ihren Weg machen und dabei immer wieder produktive Anstöße geben. Denn während die von Burckhardt ironisch als "viri eruditissimi" titulierten seinerzeitigen Moguln und Modernisierer der Altertumswissenschaft die Publikation der "veralteten Hefte" für ein Ärgernis hielten, haben viele Griechenlandhistoriker seither die Erkenntnispotentiale des Werkes gerade dort erkannt und genutzt, wo Burckhardt methodisch wie politisch gegen den Geist seiner Zeit stand.
Die Neuedition in der kritischen Werkausgabe stößt durch die geglättete Oberfläche von Oeris Text; sie legt durch sorgfältige philologische Filigranarbeit ein komplexes Original und damit auch Burckhardts Arbeitsweise frei. Dieser hatte in den achtziger Jahren begonnen, eine Ausarbeitung des Vorlesungsmanuskriptes im Folioformat anzufertigen, bei dem es sich jedoch allenfalls um eine Vorstufe zu einem Buchmanuskript handelte - wenn denn ein solches je ernsthaft ins Auge gefaßt war. So aufbereitet wurden die beiden ersten Hauptteile über Staat und Religion. Hier entspricht der für die Neuedition maßgebliche nachgelassene Textbestand weitgehend der Ausgabe Oeris, der lediglich einige eingelegte Blätter mit nachgetragenem Material in den Text einfügte und manche Fugen verschliff.
Für den Rest der Vorlesung - im Druck die Bände drei und vier - war Oeri gezwungen, aus Konvoluten von immer wieder ergänzten Stichwortblättern, Exzerpten, Vortragsmanuskripten und Notizen einen Lesetext herzustellen, wobei er sich auch der ausführlichen Kollegnachschrift eines Studenten bediente, um Burckhardts Wortlaut näherzukommen. Trotz aller Pietät wurde dabei allein durch das argumentierende Verknüpfen der in den Mappen vorgefundenen Notizen, Halbsätze und Gedanken Sperriges geglättet und Ambivalentes vereindeutigt, von einigen Mißverständnissen und irreführenden Eingriffen ganz zu schweigen. Die Neuedition nun macht Oeris Konstruktion rückgängig; sie bietet nicht nur für beide Ausarbeitungsstufen den originalen Text Burckhardts, sondern weist auch die Arbeitsstufen in einem kritischen Apparat nach.
Auch der jüngst erschienene, auf dem Foliomanuskript beruhende zweite Band ist vortrefflich erschlossen, unter anderem durch einen knappen Kommentar mit Nachweisen und Übersetzungen der altsprachlichen Zitate sowie durch fast einhundert Seiten umfassende Register. Vermißt wird lediglich eine Seitenkonkordanz, die es sehr erleichtern würde, Verweise auf Stellen in einer der drei älteren Ausgaben in der neuen, nunmehr maßgeblichen Edition rasch wiederzufinden.
Burckhardt fand zur griechischen Religion einen unmittelbaren Zugang. Es war nicht nur Koketterie, wenn er bekannte, ein ganz unphilosophischer Kopf zu sein, dem profunde Gedanken nur dann gekommen seien, wenn sie sich an ein Äußeres anschließen konnten. Der Kosmos der Götter und Heroen schien ihm nun sehr weitgehend im Anschaubaren aufzugehen, greifbar gestaltet von Homer und Hesiod und in den Bildwerken der klassischen Kunst. Recht früh hatte der Pfarrerssohn und anfängliche Theologiestudent einen Ablösungsprozeß von der zeitgenössischen Religionsübung und vor allem ihrer doppelten Armierung durch Klerus und Glaubenswissenschaft durchlaufen. Schon 1838 war der Student auf der Suche nach einem "Fach in der Theologie wo man den Lehren über Glauben und Offenbarung ganz ausweichen kann", und wenige Jahre später war ihm Christus als Gott gleichgültig, als Mensch dagegen "die schönste Erscheinung der Weltgeschichte". Dat war der Sprung zur Historie vollzogen, und Burckhardt ging nach Berlin, um bei Ranke, Droysen und Boeckh zu studieren. Doch die Religion blieb ihm "Potenz". Ihre Anerkennung als "Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur" und die Schätzung des Christentums als sittliche Macht bewahrten ihn vor flachem Agnostizismus oder verstiegenem Neuheidentum.
Tatsächlich schaute er die griechische Religion dezidiert mit seinen eigenen Augen an, und Handbuchweisheiten gewinnen so die Kraft einer Botschaft: "Die Griechen besaßen nichts schriftlich Geoffenbartes, nichts irgend von Außen Auferlegtes über ihre Götter, und ebensowenig eine auferlegte Lehre über ihre Religion . . . Ihre Ausbildung ist nicht geschehen durch Priester. Wohl gab es solche von frühe an bis in die spätesten griechischen Zeiten, aber es gab niemals einen Priesterstand und vollends kein Priesterthum . . . Die griechische Religion würde von Anfang bis zu Ende anders lauten wenn ein Priesterthum Einfluß darauf gehabt hätte." Überhöht hat Burckhardt diesen Gedanken durch den Verweis auf die schöpferische Bildkraft des griechischen Volkes. Diesen kreativen Urquell sah Burckhardt in einer meta- oder protohistorischen Tiefe geborgen, und es erscheint von daher nicht überraschend, daß er die Vorlesung mit dem kurzen, nur gut dreißig Druckseiten füllenden Abschnitt über den Mythos eröffnete, der systematisch zu den großen Stücken zur Religion gehört hätte und die Forschung irritiert hat, bis Egon Flaig vor einigen Jahren den Sinn dieser Disposition klären konnte.
Gerade im Bereich von Mythos und Religion ist es spannend zu sehen, wie Burckhardt die Alleinstellung der Hellenen begründete und damit zugleich einen Beitrag leistete zu der mehr denn je kontroversen Debatte, wie groß die Einflüsse zumal der Hochkulturen des Alten Orients auf den westlichen Rand des fruchtbaren Halbmonds waren. Denn gerade die Mythenforschung und die Vergleichende Religionswissenschaft haben auf ihrer Suche nach verborgenen Ursprüngen schon früh nach Analogien und Diffusionen gesucht, zu Burckhardts Zeit freilich oft noch in Verbindung mit Theorien über frühe Wanderungen und Ethnogenesen.
Der Kulturhistoriker schob die Spekulationen um karische, phönizische oder arische Ursprünge beiseite, indem er sich auf die Frage konzentrierte, "was diese Religion und diese Götter den Griechen der historischen Zeit waren". Mit diesem angesichts der nicht selten enthemmten Kombinationslust damaliger und späterer Religionswissenschaftler heuristisch wohlfundierten Kunstgriff hatte er die alte genealogische Frage durch eine moderne funktionalistische ersetzt und zugleich das Offensichtliche zum Unterscheidungsgrund gemacht: Statt "gelehrter Kunde und gelehrten Wissens, womit die Ägypter heimgesucht wurden", besaßen die Griechen lebendige Anschauungen von ihren Göttern und Heroen, die schmiegsam und anpassungsfähig die sich entfaltende Kultur begleiteten und förderten. Burckhardt verließ die labyrinthischen Wege der Forschung noch in anderer Hinsicht, indem er keinen älteren oder symbolhaft tieferen Sinn hinter ihnen vermutete; die Griechen aber, so wird vermerkt, "wollten ihren Mythus gar nicht deuten, sondern schützen, verherrlichen, vermehren".
Die komplementären Schattenseiten der griechischen Göttervorstellung, etwa die Amoralität der olympischen Religion, wurden sehr wohl verzeichnet, wenn auch nicht so ausladend und in roter Farbe wie das Schuldkonto des menschenverschlingenden Staates im zweiten Abschnitt. Die Größe dieser Götter lag weder in einem Geheimen noch einer Sittlichkeit, auch weder in Gnade noch Ungnade, weswegen die Griechen diese Größe ganz zu sich herüberziehen konnten, indem sie "alle Pracht, Kunst und Lebensfreude in den Dienst des Kultus zogen und ihm damit die Bangigkeit benahmen".
Auch das Feld der Religion maß Burckhardt also mit dem ästhetischen Blick aus: Erwachsen aus der Phantasie des Volkes, ist dieser Polytheismus nie einer theologischen Konzentrierung unterlegen, welche um den Gewinn einer höheren moralischen und intellektuellen Substanz die Bildhaftigkeit und Bildkräftigkeit wohl hätte reduzieren müssen. In dieser Lesart vermochte die Religion selbstverständlich kein Gegengewicht zu den anderen lebensbestimmenden Potenzen zu bilden. Sie in der Vorlesung zwischen den Staat und das Kabinett der Affekte zu setzen, war also durchaus konsequent. Mochten die Götter auch dem Menschen das Maß seiner Leiden zugemessen haben - der welthistorische Funke konnte nur deshalb überspringen, weil die Hellenen in höchstem Grade ihre Leiden empfinden und sich ihrer bewußt werden mußten. Die Unsterblichkeit ihres Erbes ruht ja gerade darauf: Wenn sie längst alle Leiden gelitten haben und alle Tode gestorben sind, können wir sie immer wieder anschauen, um unsere eigene Existenz zu begreifen oder zu läutern.
Auf Dauer zu stellen war derlei im Binnenraum der verzehrenden Lebenswelt der Griechen nicht, und am Ende schimmert dann auch bei Burckhardt ein wenig Teleologie hindurch, wenn er von einem berühmten Philosophenselbstmord berichtet, in der Zeit des philosophierenden Kaisers Marcus Aurelius, den man später für einen heimlichen Christen gehalten hat. Denn jener Kyniker Peregrinus Proteus, der sich in Olympia während des Zeusfestes auf einem Scheiterhaufen selbst verbrannte, hatte sich, so das abschließende Urteil, nur in Pose geworfen und zur traurigen Gestalt gemacht. "Der an allen übrigen Zielen irre gewordene hellenische Ruhmsinn setzt hier sein eigenes Ende mit aller möglichen vorangehenden Reclame feierlich in Scene, als herakleische Selbstapotheose. Allerdings in einem Jahrhundert welches ohnehin voll Klagen über die allgemeine Ruchlosigkeit war und (bei Lucian) den Hohn über die ganze Welt, über Götter und Menschen zu hören bekam. Es war hohe Zeit daß neben dieser Gesellschaft eine andere heranwuchs, welche eine ebenso große Sterbewilligkeit in tausend Martyrien an den Tag legte, aber zugleich ein neues hohes Ziel des Lebens vor sich hatte."
Jacob Burckhardt: "Werke". Kritische Gesamtausgabe. Band 20: "Griechische Culturgeschichte II: Die Metamorphosen - Die Griechen und ihre Götter - Der griechische Heroencultus - Erkundung der Zukunft - Zur Gesammtbilanz des griechischen Lebens". Aus dem Nachlaß herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-Sternberg. C. H. Beck Verlag / Schwabe Verlag, München und Basel 2005. VI, 640 S., geb., 128,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als "ungemein gründliches Unternehmen" würdigt Rezensent Jürgen Busche die kritische Gesamtausgabe der Werke Jacob Burckhardts, von denen nun der Band 19 "Griechische Culturgeschichte" vorliegt. Wie Busche ausführt, hatte Burckhardt ursprünglich gezögert, seine unter diesem Titel gehaltenen Vorlesungen, die er teilweise schon für eine Buchausgabe umgearbeitet hatte, für den Druck herauszugeben. Mit vorliegender Edition lässt sich dies leicht nachvollziehen. Busche hebt hervor, dass Burckhardt in vorliegendem Band durch "neuerliche katastrophenschwangere Analysen des deutschen Bildungssystems" glänze, die sich durch bemerkenswerte Weitsicht auszeichnen. Der "verdiente Ruhm" von Burckhardts klassischem Werk enthebt nach Ansicht Busches den Leser indes nicht der Verpflichtung, bei seiner Lektüre die Frage zu stellen, "ob denn historisch richtig ist, was da in einnehmenden Gestus vorgetragen wird." Schließlich hält der Rezensent Burckhardts Deutung der griechischen Polis heute für nicht mehr haltbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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