Muß man 4000 Bücher kaufen, um eines zu schreiben? Steffen Mensching berichtet vom großen Abenteuer, in Büchern nichts weniger als die Welt zu entdecken
Steffen Menschings virtuos erzählter Roman ist eine spannungsvolle Melange aus Dokument und Fiktion, Geschichte und Augenblick mit überraschender Komik in den Details. Ein Mann aus Deutschland steht auf der 28th Street in Chelsea, Manhattan, und sucht einen Buchhändler. Er trifft auf Jack, alias Jacob, alias Jacov, seinen zukünftigen Geschäftspartner, Lehrer und väterlichen Freund. Jack bietet ihm 4000 alte deutsche Bücher zum Kauf an, kostbare und wertlose Bände, die aus Europa nach Amerika kamen. Der Mann ist hin und her gerissen. Was soll er mit dieser Emigrantenbibliothek? Da beginnen die Bücher zu erzählen. Zunächst sind es Gebrauchsspuren: Anstriche, Lesezeichen, Postkarten, Exlibris. Dann scheinen Schicksale auf, wie das von Max Martin Nathan, dessen Lebensweg von Hamburg über New York nach Australien führte. Oder das des Abraham Jacobi mit der aufrührerischen Vergangenheit. Der Mann befragt seine Freunde nach ihren Geschichten.
Sie sind Amerikaner, aber nicht in Amerika geboren. Lili erzählt, wie sie von Ankara nach New York kam. Hilde erzählt, was sie noch nie jemandem anvertraute. Orte und Zeiten prallen aufeinander, Leben und Tode verdichten sich zu einem bewegenden Panorama menschlicher Schicksale im 20. Jahrhundert.
Steffen Menschings virtuos erzählter Roman ist eine spannungsvolle Melange aus Dokument und Fiktion, Geschichte und Augenblick mit überraschender Komik in den Details. Ein Mann aus Deutschland steht auf der 28th Street in Chelsea, Manhattan, und sucht einen Buchhändler. Er trifft auf Jack, alias Jacob, alias Jacov, seinen zukünftigen Geschäftspartner, Lehrer und väterlichen Freund. Jack bietet ihm 4000 alte deutsche Bücher zum Kauf an, kostbare und wertlose Bände, die aus Europa nach Amerika kamen. Der Mann ist hin und her gerissen. Was soll er mit dieser Emigrantenbibliothek? Da beginnen die Bücher zu erzählen. Zunächst sind es Gebrauchsspuren: Anstriche, Lesezeichen, Postkarten, Exlibris. Dann scheinen Schicksale auf, wie das von Max Martin Nathan, dessen Lebensweg von Hamburg über New York nach Australien führte. Oder das des Abraham Jacobi mit der aufrührerischen Vergangenheit. Der Mann befragt seine Freunde nach ihren Geschichten.
Sie sind Amerikaner, aber nicht in Amerika geboren. Lili erzählt, wie sie von Ankara nach New York kam. Hilde erzählt, was sie noch nie jemandem anvertraute. Orte und Zeiten prallen aufeinander, Leben und Tode verdichten sich zu einem bewegenden Panorama menschlicher Schicksale im 20. Jahrhundert.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wie häufig in begeisterten Kritiken ergibt sich dem Leser, vor lauter atemlosen Nacherzählen, kein ganz klares Bild vom Buch. Ein Roman ist das, so viel kann man festhalten, auch wenn die Kritikerin Kathrin Schmidt zu Beginn ihres Artikels sagt: "Ist was anderes, denke ich, und bin doch gefesselt." Versuchen wir zu rekonstruieren: Ein Schriftsteller hat ein Stipendium für New York, lernt einen alten Mann mit riesiger Bibliothek kennen und rekonstruiert aus dieser Bibliothek die deutsch-jüdischen Emigrantengeschichten der ehemaligen Buchbesitzer. Ein "fulminantes Journal" resümiert die Rezensentin, ein Buch, das "größtmögliche Recherchegenauigkeit" mit "dichterischer Freiheit", in Einklang bringe. Man wird diese "Jacobsleiter" hochsteigen müssen, um sie ganz zu begreifen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2003Beim willigen Jacob
Wechselbalg: Steffen Menschings Buch will alles, nur kein Film sein
Seit John Dos Passos, Alfred Döblin und Wolfgang Koeppen sind die Metropolen der Gegenwart in der Literatur präsent. An ihrer rauhen, schnellen Wirklichkeit haben sich mehrere Generationen der literarischen Avantgarde abgearbeitet. Dabei wurden derartig viele erzählerische Feuerwerke gezündet, daß ein Teil der Nachgeborenen mittlerweile zu den Lagerfeuern der Dorfgeschichte zurückgekehrt ist. Noch einmal New York erzählen zu wollen erscheint selbst denjenigen zu riskant, die dort für ein paar Monate als writer-in-residence arbeiten.
Steffen Menschings Roman, der auf einen solchen New-York-Aufenthalt im Jahr 1998 zurückgeht, weicht dieser Möglichkeit denn auch nach kurzem Zögern aus. Das Buch beginnt mit der Ankunft des Ich-Erzählers in New York City und verzeichnet zunächst die obligaten Großstadteindrücke: Anonymität, Armut und Reichtum, Einsamkeit und Gewühl und alles schnell, flimmernd, im Sekundentakt, wie es schon in Dos Passos' "Manhattan Transfer" erscheint. Aber der Ich-Erzähler, wie Steffen Mensching Schriftsteller und New-York-Stipendiat auf der Suche nach einer Geschichte, interessiert sich von Anfang an weniger für die Stadt als für deren Buchläden und Antiquariate.
Nach wenigen Wochen stößt er auf eine deutsch-jüdische Emigranten-Bibliothek von viertausend Büchern, die komplett zum Verkauf steht. Der deutsche Büchernarr schlägt ein, weil er hier, auf der Stehleiter des Bibliothekars (der Jacob heißt), den Stoff für seine Geschichte findet. Dabei interessieren ihn weniger die Bücher selbst als deren frühere Besitzer, die hier oder dort Lebensspuren in den Büchern hinterließen: Ihre Namen und Kommentare, eingelegte Fotos und Briefe stehen am Beginn einer Recherche, die gleich mehrere deutsch-jüdisch-amerikanische Biographien zutage fördert.
Da ist Dr. Abraham Jacobi, ein Bekannter von Marx und Lenin, der Mitte des 19. Jahrhunderts sein Glück in Nordamerika sucht und seine Bücher dem Communisten Club New York vermacht. Oder Max Martin Nathan, der siebzig Jahre später Deutschland verläßt, Bielschowskys Goethe-Biographie im Gepäck. Was immer sich an Lebensspuren dieser beiden in Archiven, öffentlichen Bibliotheken und Nachlässen auffinden läßt, trägt der Ich-Erzähler zusammen. Hinzu kommen Episoden der eigenen Familiengeschichte und die Erinnerungen einer jüdischen Emigrantin, die er in New York kennenlernt: Nach mehrfacher Inhaftierung arbeitete sie als Sekretärin von Oskar Schindler, tippte im Mai 1945 dessen Liste in die Schreibmaschine und setzte ihren eigenen Namen hinzu.
Diese vier Geschichten aus zwei Jahrhunderten wechseln sich fortwährend ab - und werden immer wieder unterbrochen von Berichten über den Fortgang der Recherchen, von Titellisten, eingestreuten New-York-Gedichten und langen Gesprächen mit Jacob, dem Bibliothekar, der beim Einpacken der Bücher hilft. Und dies ist das Problem des Romans. Denn was Steffen Mensching an spannenden Lebensgeschichten zusammenträgt, wird auf diese Weise auseinandergerissen und von faden Reflexionen über New York und das eigene Schreiben verstellt. Beim Einpacken der Bücher etwa räsoniert der Ich-Erzähler über die (aller Voraussicht nach) trüben Erfolgschancen des Romans. Natürlich ließe er sich ohne große Umstände in ein Spielberg-Drehbuch umschreiben: mit einer Liebesgeschichte, Sozialromantik, Drogenmafia und einer Explosion zuletzt. Aber diese Option bringt der Ich-Erzähler nur ins Spiel, um sie sogleich zu verwerfen: "Das Buch wird eine Stopfgans, eine Enzyklopädie, eine Wundertüte, aber ein Film wird es nicht", lautet seine Maxime.
Steffen Mensching greift auf das schon ein wenig angestaubte Reservoir der Postmoderne zurück, um den Abstand seines Buches zu den "großen Erzählungen" zu markieren, die sich reibungslos von der Filmindustrie Hollywoods absorbieren lassen. Aber die selbstgefälligen Literaturreflexionen auf der Stehleiter des Antiquariats, die endlosen Abschweifungen und die Sprünge zwischen all diesen Ebenen bringen die kleinen Erzählungen, die das Buch bereithält, beinahe zum Verschwinden. Steffen Mensching hat ein literarisches Plädoyer für das Medium Buch geschrieben und dabei leider seine eigene Lesbarkeit untergraben.
FRIEDHELM MARX
Steffen Mensching: "Jacobs Leiter". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 426 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wechselbalg: Steffen Menschings Buch will alles, nur kein Film sein
Seit John Dos Passos, Alfred Döblin und Wolfgang Koeppen sind die Metropolen der Gegenwart in der Literatur präsent. An ihrer rauhen, schnellen Wirklichkeit haben sich mehrere Generationen der literarischen Avantgarde abgearbeitet. Dabei wurden derartig viele erzählerische Feuerwerke gezündet, daß ein Teil der Nachgeborenen mittlerweile zu den Lagerfeuern der Dorfgeschichte zurückgekehrt ist. Noch einmal New York erzählen zu wollen erscheint selbst denjenigen zu riskant, die dort für ein paar Monate als writer-in-residence arbeiten.
Steffen Menschings Roman, der auf einen solchen New-York-Aufenthalt im Jahr 1998 zurückgeht, weicht dieser Möglichkeit denn auch nach kurzem Zögern aus. Das Buch beginnt mit der Ankunft des Ich-Erzählers in New York City und verzeichnet zunächst die obligaten Großstadteindrücke: Anonymität, Armut und Reichtum, Einsamkeit und Gewühl und alles schnell, flimmernd, im Sekundentakt, wie es schon in Dos Passos' "Manhattan Transfer" erscheint. Aber der Ich-Erzähler, wie Steffen Mensching Schriftsteller und New-York-Stipendiat auf der Suche nach einer Geschichte, interessiert sich von Anfang an weniger für die Stadt als für deren Buchläden und Antiquariate.
Nach wenigen Wochen stößt er auf eine deutsch-jüdische Emigranten-Bibliothek von viertausend Büchern, die komplett zum Verkauf steht. Der deutsche Büchernarr schlägt ein, weil er hier, auf der Stehleiter des Bibliothekars (der Jacob heißt), den Stoff für seine Geschichte findet. Dabei interessieren ihn weniger die Bücher selbst als deren frühere Besitzer, die hier oder dort Lebensspuren in den Büchern hinterließen: Ihre Namen und Kommentare, eingelegte Fotos und Briefe stehen am Beginn einer Recherche, die gleich mehrere deutsch-jüdisch-amerikanische Biographien zutage fördert.
Da ist Dr. Abraham Jacobi, ein Bekannter von Marx und Lenin, der Mitte des 19. Jahrhunderts sein Glück in Nordamerika sucht und seine Bücher dem Communisten Club New York vermacht. Oder Max Martin Nathan, der siebzig Jahre später Deutschland verläßt, Bielschowskys Goethe-Biographie im Gepäck. Was immer sich an Lebensspuren dieser beiden in Archiven, öffentlichen Bibliotheken und Nachlässen auffinden läßt, trägt der Ich-Erzähler zusammen. Hinzu kommen Episoden der eigenen Familiengeschichte und die Erinnerungen einer jüdischen Emigrantin, die er in New York kennenlernt: Nach mehrfacher Inhaftierung arbeitete sie als Sekretärin von Oskar Schindler, tippte im Mai 1945 dessen Liste in die Schreibmaschine und setzte ihren eigenen Namen hinzu.
Diese vier Geschichten aus zwei Jahrhunderten wechseln sich fortwährend ab - und werden immer wieder unterbrochen von Berichten über den Fortgang der Recherchen, von Titellisten, eingestreuten New-York-Gedichten und langen Gesprächen mit Jacob, dem Bibliothekar, der beim Einpacken der Bücher hilft. Und dies ist das Problem des Romans. Denn was Steffen Mensching an spannenden Lebensgeschichten zusammenträgt, wird auf diese Weise auseinandergerissen und von faden Reflexionen über New York und das eigene Schreiben verstellt. Beim Einpacken der Bücher etwa räsoniert der Ich-Erzähler über die (aller Voraussicht nach) trüben Erfolgschancen des Romans. Natürlich ließe er sich ohne große Umstände in ein Spielberg-Drehbuch umschreiben: mit einer Liebesgeschichte, Sozialromantik, Drogenmafia und einer Explosion zuletzt. Aber diese Option bringt der Ich-Erzähler nur ins Spiel, um sie sogleich zu verwerfen: "Das Buch wird eine Stopfgans, eine Enzyklopädie, eine Wundertüte, aber ein Film wird es nicht", lautet seine Maxime.
Steffen Mensching greift auf das schon ein wenig angestaubte Reservoir der Postmoderne zurück, um den Abstand seines Buches zu den "großen Erzählungen" zu markieren, die sich reibungslos von der Filmindustrie Hollywoods absorbieren lassen. Aber die selbstgefälligen Literaturreflexionen auf der Stehleiter des Antiquariats, die endlosen Abschweifungen und die Sprünge zwischen all diesen Ebenen bringen die kleinen Erzählungen, die das Buch bereithält, beinahe zum Verschwinden. Steffen Mensching hat ein literarisches Plädoyer für das Medium Buch geschrieben und dabei leider seine eigene Lesbarkeit untergraben.
FRIEDHELM MARX
Steffen Mensching: "Jacobs Leiter". Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2003. 426 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"... Mensching gelingt das für einen Literaten selten nur Erreichbare: der Weg von den Büchern ins wirkliche Leben und vom Leben wieder zurück ins Buch."
(Berliner Zeitung (22./23.03.03))
(Berliner Zeitung (22./23.03.03))