Dieser von Goethe, Hegel und Karl Marx bewunderte ironisch-philosophische Reiseroman des französische Philosophen und Enzyklopädisten Denis Diderot (1713-1784) konnte erst nach dessen Tod 1796 erscheinen: Der Diener Jacques und sein adliger Herr sind ohne erkennbares Ziel unterwegs und plaudern dabei miteinander. Ausgerechnet der agile und aufgeweckte Jacques erweist sich als Fatalist, der sein Leben in der himmlischen Schicksalsrolle vorgezeichnet sieht; sein träger und gelangweilter Herr dagegen bekennt sich, nicht minder paradox, zur Freiheit des Willens, ohne sie jedoch zu nutzen eine groteske Konstellation, die Diderot zu einer von umfassenden Sozialkritik durchsetzten Darstellung des Herr-Knecht-Verhältnisses nutzt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hinrich Schmidt-Henkels Neuübertragung von Denis Diderots den Leser forderndem Roman ist Wolfgang Schneider höchstes Lob wert. Aus Anlass einer Übersetzung, die um Gegenwärtigkeit und Frische bemüht, aber nicht zwanghaft modernisierend ist, nimmt sich Schneider den Text vor und stellt fest, dass Diderots aberwitziges Handlungskonstrukt und seine Poetik der Abschweifung noch immer jede Menge Spaß machen und Lust, dem Diener Jacques und seinem Herrn auf ihrer abenteuerlichen Reise durch Frankreich zu folgen. Elegantes Erzählparlando trifft hier für Schneider auf eine aufklärerische Analyse der Gefühle, wobei die Neuübersetzung genau hier punktet, in der Wiedergabe des leichten Tons zur philosophischen Textur über Freiheit und Determinismus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2014Waldi bellt
anders
Eine knisternde Neuübersetzung
von Diderots „Jacques le fataliste“
Die zahllosen Episoden dieses Klassikers unter den Romanen der Aufklärungszeit rasseln wie die Kinnkette am Halfter des Pferds, auf dem Jacques in Begleitung seines Herrn plaudernd durch die Welt reitet. Dieses Rasseln, in dem der lose und doch feste Zusammenhalt aller Lebensereignisse vernehmbar ist, stellt eine Hauptschwierigkeit dar für jeden Übersetzer von Diderots philosophischem Roman.
So wirr die Dinge aussehen mögen, die uns hienieden widerfahren, sei doch alles schon determiniert und „steht dort oben geschrieben“, doziert der fatalistische, aber nicht gottesgläubige Jacques. Diese Gesetzmäßigkeit hinter der Beliebigkeit will locker und zugleich stringent erzählt sein in diesem Buch, in dem der Erzähler mit uns Lesern Katz und Maus spielt und seine Hauptfigur ihre stets versprochene, nie eingelöste Liebesgeschichte vor sich hertragen lässt wie das Zugpferd den Hafertopf an der Wagendeichsel. Hinrich Schmidt-Henkel hat diese Schwierigkeit insgesamt überzeugend gelöst, indem er dem Text, manchmal um den Preis der philosophischen Genauigkeit, einen modernen Klang verleiht, als wäre er mit der Splitterästhetik eines unserer Zeitgenossen geschrieben.
So liest das Buch sich in neuer Frische. Selbst beim halsbrecherischen Wechsel zwischen Schilderung und Direktdialog, Gegenwarts- und Vergangenheitsform kommt der Übersetzer nicht ins Schleudern. An die zunächst etwas befremdliche „Sie“-Form, mit welcher hier der Erzähler uns Leser anspricht, gewöhnt man sich schnell. Vom historisierenden „Ihr“ wollte der Übersetzer – zu Recht – nichts wissen und mit dem familiären „Du“ wäre, nach Baudelaires finsterem „mein Gleichgesinnter, mein Bruder“, die Heiterkeit der Aufklärungszeit verloren. So geben wir uns trotz Bücklingen, Rüschen und Kaleschen mit dem förmlichen „Sie“ zufrieden. Auch im fliegenden Wortwechsel der beiden Gesellen und der ihnen ins Wort fallenden fünf Dutzend Nebenfiguren findet Schmidt-Henkel immer neue, elegante Lösungen, um den Sprachfluss lebendig zu halten, muss er auch manchmal seinen Leuten ein „Nein“ noch im Munde zum „Ja“ verdrehen. Das „Nein, Madame, ich bin kein anderer“, mit dem einer philosophisch abgründig auf die überraschte Frage „Sie hier?“ antwortet, ergibt so ein flottes „Ja, Madame, ich und kein anderer“.
Hinrich Schmidt-Henkel ist ein Profi, der sein Talent bisher vor allem bei zeitgenössischen Autoren wie Jean Echenoz, Yasmina Reza, Tanguy Viel zum Glänzen brachte. Bei diesem älteren Text glänzt sein Stil manchmal etwas grell. Dass er die französischen Hundenamen Favori und Thibaut aus dem 18. Jahrhundert umstandslos mit Waldi und Struppi übersetzt, nimmt man belustigt hin. Ebenso, dass aus der „longue et épineuse dissertation“, mit welcher der Erzähler eine komplizierte Fragestellung vergleicht, eine anachronistische „Doktorarbeit“ wird. Problematischer sind die Freiheiten, die der Übersetzer sich im philosophischen Zusammenhang Diderots herausnimmt. Der Diener Jacques, der standesgemäß nie zur Schule ging, hat keinen Begriff von den Dingen, kennt die Dinge selber aus Erfahrung aber sehr wohl. Die Feststellung, dass „der Name“ (le nom) von Laster und Tugend ihm unbekannt sei, einfach damit zu übersetzen, er wisse „nichts von Laster und Tugend“, ist also zumindest ungenau. Und auch Jacques’ Antwort auf die Frage seines Herren, ob er an ein Leben nach dem Tod glaube, ist im Original sehr präzis: „Je n’y crois ni décrois“ – und im Übrigen denke er auch gar nicht darüber nach. Schmidt-Henkels Übersetzung „Ich glaube weder daran; noch denke ich darüber nach“ bringt die ganze Symmetrie des Agnostikers aus dem Gleichgewicht.
Offensichtliche Verständnisfehler entstellen mitunter auch die Substanz des Buchs, etwa auf Seite 237. Der Erzähler spekuliert dort über die Faszination der Volksmassen für außerordentliche Ereignisse wie öffentliche Hinrichtungen. Strömt das Volk aus unmenschlicher Schaulust zum Schafott?, fragt er. Keineswegs. Es genüge, auf dem Boulevard nebenan ein fröhliches Volksfest zu veranstalten, und der Hinrichtungsplatz bleibe leer. Das Volk möge schrecklich sein in seinem Zorn, heißt es weiter, doch halte der nie lange hin, denn sein eigenes Elend mache das Volk mitleidig, es wende sein Auge ab vom grausamen Schauspiel, zu dem es kam, sei gerührt, „s’en retourne en pleurant“: kehrt weinend nach Hause – und nicht, wie Schmidt-Henkel übersetzt: „blickt weinend wieder hin“. Der Übersetzer dichtet dem Volk hier eine Unschlüssigkeit an, die es bei Diderot nicht hat.
Dennoch bringt diese Neuübersetzung ein Lesevergnügen, das uns in knisternder Zeitnähe durch Salons, Dorfschenken, Gaunerstuben, Philosophencafés führt und uns lustvoller die Liebesgeschichte von Jacques vorenthält, als die besten, modernsten Filmserien es heute tun.
JOSEPH HANIMANN
Denis Diderot:
Jacques der Fatalist und sein Herr. Matthes & Seitz, Berlin 2013. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und mit einem Beitrag von Hans Magnus Enzensberger.
428 Seiten, 29,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
anders
Eine knisternde Neuübersetzung
von Diderots „Jacques le fataliste“
Die zahllosen Episoden dieses Klassikers unter den Romanen der Aufklärungszeit rasseln wie die Kinnkette am Halfter des Pferds, auf dem Jacques in Begleitung seines Herrn plaudernd durch die Welt reitet. Dieses Rasseln, in dem der lose und doch feste Zusammenhalt aller Lebensereignisse vernehmbar ist, stellt eine Hauptschwierigkeit dar für jeden Übersetzer von Diderots philosophischem Roman.
So wirr die Dinge aussehen mögen, die uns hienieden widerfahren, sei doch alles schon determiniert und „steht dort oben geschrieben“, doziert der fatalistische, aber nicht gottesgläubige Jacques. Diese Gesetzmäßigkeit hinter der Beliebigkeit will locker und zugleich stringent erzählt sein in diesem Buch, in dem der Erzähler mit uns Lesern Katz und Maus spielt und seine Hauptfigur ihre stets versprochene, nie eingelöste Liebesgeschichte vor sich hertragen lässt wie das Zugpferd den Hafertopf an der Wagendeichsel. Hinrich Schmidt-Henkel hat diese Schwierigkeit insgesamt überzeugend gelöst, indem er dem Text, manchmal um den Preis der philosophischen Genauigkeit, einen modernen Klang verleiht, als wäre er mit der Splitterästhetik eines unserer Zeitgenossen geschrieben.
So liest das Buch sich in neuer Frische. Selbst beim halsbrecherischen Wechsel zwischen Schilderung und Direktdialog, Gegenwarts- und Vergangenheitsform kommt der Übersetzer nicht ins Schleudern. An die zunächst etwas befremdliche „Sie“-Form, mit welcher hier der Erzähler uns Leser anspricht, gewöhnt man sich schnell. Vom historisierenden „Ihr“ wollte der Übersetzer – zu Recht – nichts wissen und mit dem familiären „Du“ wäre, nach Baudelaires finsterem „mein Gleichgesinnter, mein Bruder“, die Heiterkeit der Aufklärungszeit verloren. So geben wir uns trotz Bücklingen, Rüschen und Kaleschen mit dem förmlichen „Sie“ zufrieden. Auch im fliegenden Wortwechsel der beiden Gesellen und der ihnen ins Wort fallenden fünf Dutzend Nebenfiguren findet Schmidt-Henkel immer neue, elegante Lösungen, um den Sprachfluss lebendig zu halten, muss er auch manchmal seinen Leuten ein „Nein“ noch im Munde zum „Ja“ verdrehen. Das „Nein, Madame, ich bin kein anderer“, mit dem einer philosophisch abgründig auf die überraschte Frage „Sie hier?“ antwortet, ergibt so ein flottes „Ja, Madame, ich und kein anderer“.
Hinrich Schmidt-Henkel ist ein Profi, der sein Talent bisher vor allem bei zeitgenössischen Autoren wie Jean Echenoz, Yasmina Reza, Tanguy Viel zum Glänzen brachte. Bei diesem älteren Text glänzt sein Stil manchmal etwas grell. Dass er die französischen Hundenamen Favori und Thibaut aus dem 18. Jahrhundert umstandslos mit Waldi und Struppi übersetzt, nimmt man belustigt hin. Ebenso, dass aus der „longue et épineuse dissertation“, mit welcher der Erzähler eine komplizierte Fragestellung vergleicht, eine anachronistische „Doktorarbeit“ wird. Problematischer sind die Freiheiten, die der Übersetzer sich im philosophischen Zusammenhang Diderots herausnimmt. Der Diener Jacques, der standesgemäß nie zur Schule ging, hat keinen Begriff von den Dingen, kennt die Dinge selber aus Erfahrung aber sehr wohl. Die Feststellung, dass „der Name“ (le nom) von Laster und Tugend ihm unbekannt sei, einfach damit zu übersetzen, er wisse „nichts von Laster und Tugend“, ist also zumindest ungenau. Und auch Jacques’ Antwort auf die Frage seines Herren, ob er an ein Leben nach dem Tod glaube, ist im Original sehr präzis: „Je n’y crois ni décrois“ – und im Übrigen denke er auch gar nicht darüber nach. Schmidt-Henkels Übersetzung „Ich glaube weder daran; noch denke ich darüber nach“ bringt die ganze Symmetrie des Agnostikers aus dem Gleichgewicht.
Offensichtliche Verständnisfehler entstellen mitunter auch die Substanz des Buchs, etwa auf Seite 237. Der Erzähler spekuliert dort über die Faszination der Volksmassen für außerordentliche Ereignisse wie öffentliche Hinrichtungen. Strömt das Volk aus unmenschlicher Schaulust zum Schafott?, fragt er. Keineswegs. Es genüge, auf dem Boulevard nebenan ein fröhliches Volksfest zu veranstalten, und der Hinrichtungsplatz bleibe leer. Das Volk möge schrecklich sein in seinem Zorn, heißt es weiter, doch halte der nie lange hin, denn sein eigenes Elend mache das Volk mitleidig, es wende sein Auge ab vom grausamen Schauspiel, zu dem es kam, sei gerührt, „s’en retourne en pleurant“: kehrt weinend nach Hause – und nicht, wie Schmidt-Henkel übersetzt: „blickt weinend wieder hin“. Der Übersetzer dichtet dem Volk hier eine Unschlüssigkeit an, die es bei Diderot nicht hat.
Dennoch bringt diese Neuübersetzung ein Lesevergnügen, das uns in knisternder Zeitnähe durch Salons, Dorfschenken, Gaunerstuben, Philosophencafés führt und uns lustvoller die Liebesgeschichte von Jacques vorenthält, als die besten, modernsten Filmserien es heute tun.
JOSEPH HANIMANN
Denis Diderot:
Jacques der Fatalist und sein Herr. Matthes & Seitz, Berlin 2013. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und mit einem Beitrag von Hans Magnus Enzensberger.
428 Seiten, 29,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2014Das größte Buch der Aufklärung, auch das witzigste
Spaß auf jeder Ebene: Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Denis Diderots Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" neu
Goethe hat diesem Roman eine kulinarische Empfehlung geschrieben, die heutige Blurbs blass aussehen lässt: Es handele sich um "eine sehr köstliche und große Mahlzeit, mit großem Verstand für das Maul eines einzigen Abgottes zugerichtet". Er, Goethe, habe sich an den Platz dieses Abgottes gesetzt und "in sechs ununterbrochenen Stunden alle Gerichte und Einschiebeschüsseln verschlungen". Schiller hat nicht weniger begeistert einen Teil des Romans übersetzt, Hegel ihm die Dialektik von "Herr und Knecht" abgelesen, Marx riet Engels die Lektüre dringend an. Jean Echenoz, einer der interessantesten französischen Gegenwartsautoren, ist Diderot erzähltechnisch verpflichtet; hierzulande hat Hans Magnus Enzensberger den Roman als "Buch seines Lebens" bezeichnet.
Ein Meilenstein der europäischen Literaturgeschichte also. Und doch muss der Rezensent bekennen, dass er nicht wie Goethe drauflosfuttern konnte, sondern eine Weile an den Anfängen herumgekaut hat, bis der Appetit beim Essen kam. Die Sache mit den "Einschiebeschüsseln" lenkte zunächst sehr vom Hauptmenü ab - hochkonzentriertes Lesen ist gefordert, damit man nicht die Wechselsprünge der aberwitzig verschachtelten Handlungskonstruktion verpasst. Das wichtigste Vorbild des Romans ist Laurence Sternes "Tristram Shandy" mit seiner Poetik der Abschweifungen, Interruptionen und komischen Erzählwucherungen. Noch mehr als bei Sterne zieht bei Diderot aber nicht das "Was", sondern das "Wie" der Erzählung in den Bann.
"Wie waren sie einander begegnet? - Durch Zufall, wie alle. - Wie hießen sie? - Was schert Sie das? - Wo kamen sie her? - Vom nächstgelegenen Ort. - Wohin gingen sie? - Wer weiß schon, wohin er geht?" Schon diese ebenso leichthändigen wie tiefsinnigen ersten Sätze machen ein Prinzip des Romans deutlich: Der Leser wird ins Spiel einbezogen, er hat jederzeit das Einspruchsrecht und macht Gebrauch davon. In der geschmeidigen Neuübersetzung Hinrich Schmidt-Henkels wird der fiktive Leser mit "Sie" angeredet, das sperrige "Ihr" und "euch" früherer Übertragungen entfällt. Alter Wortschatz wird jedoch, sofern triftig und von kräftiger Geschmacksnote, durchaus auch von Schmidt-Henkel verwendet: "Hahnrei" zum Beispiel, "Schlafittchen" oder "Bregen". Diese Übersetzung bemüht sich um Gegenwärtigkeit und Frische, ohne zwanghaft zu modernisieren.
Der Roman schildert eine pikareske und philosophische Reise. Neun Tage lang reiten Jacques und sein Herr durch Frankreich, bekommen es mit rauflustigen Haudegen, durchtriebenen Mönchen und armen Bauern zu tun, kehren in mehr oder weniger gefährlichen Dorfschenken und Gasthäusern ein und vertreiben sich die Zeit mit kurzweiligen Plaudereien. Herr und Diener - das war ein beliebtes Gespann in Komödien des achtzehnten Jahrhunderts; auch Don Quijote und Sancho Pansa lassen grüßen. Wie die beiden Cervantes-Helden wachsen einem Jacques und sein Herr zunehmend ans Herz bei der Lektüre. Und je mehr man sich eingelesen hat, desto mehr amüsiert man sich über all die raffinierten Aufstauungen und Umleitungen des Erzählstroms. Da erzählt eine kluge Wirtin eine lange, fatale Liebesgeschichte und wird dabei ständig unterbrochen von ihrer Magd: "Madame? - Was denn? - Der Schlüssel zur Hafertruhe?" Poetologisch wird deutlich, dass das kohärente Erzählen von langen Geschichten im wahren Leben eher selten vorkommt. Die Antiromane von Sterne über Diderot bis Joyce machen sich einen Spaß daraus, die Literatur dessen Störfrequenzen auszusetzen. Bei den von Goethe genossenen "Einschiebeschüsseln" handelt es sich größtenteils um gutgewürzte Liebeskomödien. Nicht nur Jacques möchte die Liebesgeschichte seines Lebens, die mit einem schmerzhaften Schuss ins Knie begann, erzählen und kommt damit erst ganz am Ende halbwegs zu Rande (zwischendrin wird er aber einige deftige erotische Schelmenstreiche los), auch der Herr hat von einer gefährlichen Liebschaft zu berichten, die ihn kurzfristig ins Gefängnis brachte und auf lange Sicht zum Versorger eines Kindes machte, das gar nicht seines ist. Seiner Gutmütigkeit wurde ausgesprochen übel mitgespielt. Am berühmtesten aber ist die Geschichte der Madame de Pommeraye, die Schiller als "Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache" übersetzte. Der Marquis de Arcis soll büßen, dass er Madame nicht mehr liebt. Sie spinnt eine perfide Intrige, lässt den Marquis in einer Sehnsuchtshölle schmoren, bringt ihn um einen guten Teil seines Vermögens - und macht ihn dabei ungewollt zum glücklichen Mann. Die im Stop-and-go-Verfahren erzählte Novelle ist das Muster einer aufklärerisch-anthropologischen Analyse der Gefühle, die sich mit elegantem Erzählparlando verbindet. Diesen leichten Ton und Esprit vermittelt die Neuübersetzung besser als die älteren Ausgaben.
Der größte Reiz des Romans besteht in der Verknüpfung von Erzählung und philosophischem Dialog. Das große Thema von Freiheit und Determinismus, Willkür und Notwendigkeit wird zwischen Herr und Diener hin und her gewendet. Jacques ist "Fatalist" dank seines verehrten Hauptmanns, der ihm eine Weisheit fürs Leben mitgab: "Alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, steht dort oben geschrieben" - und damit ist eher keine göttliche Zentralsteuerung gemeint. Der Witz besteht darin, dass Jacques zwar ein deterministisches Weltbild vertritt, tatsächlich aber entschlossen handelt und gefährliche Abenteuer besteht. Sein Herr dagegen hält den freien Willen hoch, in der Praxis aber schlummert er am Straßenrand ein und lässt sich treiben. Der Fatalismus steht ihm ins ruhige Gesicht geschrieben.
Einige Jahre vor der Französischen Revolution entstanden, hatte der Roman soziale Brisanz: Diderot unterläuft die Standesgrenzen, der Diener ist hier meist der Bestimmende. Jacques' Liebe zum unaufhörlichen Gespräch resultiert im Übrigen aus einem Knebel-Trauma. Er wuchs bei den Großeltern auf, ganz kleinen Händlern, die tagelang kein Wort sprachen, außer "Hüte zu verkaufen!" (die Großmutter) und "Ein Sou!" (der Großvater). Und dazwischen Jacques, "mit dem Knebel in dem Mund", damit er nur kein Schwätzer werde. "Diesem verfluchten Knebel verdanke ich meinen unbezwingbaren Rededrang." Das ist ein starkes Bild. Wo Knebel war, soll Literatur werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Denis Diderot: "Jacques der Fatalist und sein Herr".
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit fünf Unterhaltungen von Hans Magnus Enzensberger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014. 430 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spaß auf jeder Ebene: Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Denis Diderots Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" neu
Goethe hat diesem Roman eine kulinarische Empfehlung geschrieben, die heutige Blurbs blass aussehen lässt: Es handele sich um "eine sehr köstliche und große Mahlzeit, mit großem Verstand für das Maul eines einzigen Abgottes zugerichtet". Er, Goethe, habe sich an den Platz dieses Abgottes gesetzt und "in sechs ununterbrochenen Stunden alle Gerichte und Einschiebeschüsseln verschlungen". Schiller hat nicht weniger begeistert einen Teil des Romans übersetzt, Hegel ihm die Dialektik von "Herr und Knecht" abgelesen, Marx riet Engels die Lektüre dringend an. Jean Echenoz, einer der interessantesten französischen Gegenwartsautoren, ist Diderot erzähltechnisch verpflichtet; hierzulande hat Hans Magnus Enzensberger den Roman als "Buch seines Lebens" bezeichnet.
Ein Meilenstein der europäischen Literaturgeschichte also. Und doch muss der Rezensent bekennen, dass er nicht wie Goethe drauflosfuttern konnte, sondern eine Weile an den Anfängen herumgekaut hat, bis der Appetit beim Essen kam. Die Sache mit den "Einschiebeschüsseln" lenkte zunächst sehr vom Hauptmenü ab - hochkonzentriertes Lesen ist gefordert, damit man nicht die Wechselsprünge der aberwitzig verschachtelten Handlungskonstruktion verpasst. Das wichtigste Vorbild des Romans ist Laurence Sternes "Tristram Shandy" mit seiner Poetik der Abschweifungen, Interruptionen und komischen Erzählwucherungen. Noch mehr als bei Sterne zieht bei Diderot aber nicht das "Was", sondern das "Wie" der Erzählung in den Bann.
"Wie waren sie einander begegnet? - Durch Zufall, wie alle. - Wie hießen sie? - Was schert Sie das? - Wo kamen sie her? - Vom nächstgelegenen Ort. - Wohin gingen sie? - Wer weiß schon, wohin er geht?" Schon diese ebenso leichthändigen wie tiefsinnigen ersten Sätze machen ein Prinzip des Romans deutlich: Der Leser wird ins Spiel einbezogen, er hat jederzeit das Einspruchsrecht und macht Gebrauch davon. In der geschmeidigen Neuübersetzung Hinrich Schmidt-Henkels wird der fiktive Leser mit "Sie" angeredet, das sperrige "Ihr" und "euch" früherer Übertragungen entfällt. Alter Wortschatz wird jedoch, sofern triftig und von kräftiger Geschmacksnote, durchaus auch von Schmidt-Henkel verwendet: "Hahnrei" zum Beispiel, "Schlafittchen" oder "Bregen". Diese Übersetzung bemüht sich um Gegenwärtigkeit und Frische, ohne zwanghaft zu modernisieren.
Der Roman schildert eine pikareske und philosophische Reise. Neun Tage lang reiten Jacques und sein Herr durch Frankreich, bekommen es mit rauflustigen Haudegen, durchtriebenen Mönchen und armen Bauern zu tun, kehren in mehr oder weniger gefährlichen Dorfschenken und Gasthäusern ein und vertreiben sich die Zeit mit kurzweiligen Plaudereien. Herr und Diener - das war ein beliebtes Gespann in Komödien des achtzehnten Jahrhunderts; auch Don Quijote und Sancho Pansa lassen grüßen. Wie die beiden Cervantes-Helden wachsen einem Jacques und sein Herr zunehmend ans Herz bei der Lektüre. Und je mehr man sich eingelesen hat, desto mehr amüsiert man sich über all die raffinierten Aufstauungen und Umleitungen des Erzählstroms. Da erzählt eine kluge Wirtin eine lange, fatale Liebesgeschichte und wird dabei ständig unterbrochen von ihrer Magd: "Madame? - Was denn? - Der Schlüssel zur Hafertruhe?" Poetologisch wird deutlich, dass das kohärente Erzählen von langen Geschichten im wahren Leben eher selten vorkommt. Die Antiromane von Sterne über Diderot bis Joyce machen sich einen Spaß daraus, die Literatur dessen Störfrequenzen auszusetzen. Bei den von Goethe genossenen "Einschiebeschüsseln" handelt es sich größtenteils um gutgewürzte Liebeskomödien. Nicht nur Jacques möchte die Liebesgeschichte seines Lebens, die mit einem schmerzhaften Schuss ins Knie begann, erzählen und kommt damit erst ganz am Ende halbwegs zu Rande (zwischendrin wird er aber einige deftige erotische Schelmenstreiche los), auch der Herr hat von einer gefährlichen Liebschaft zu berichten, die ihn kurzfristig ins Gefängnis brachte und auf lange Sicht zum Versorger eines Kindes machte, das gar nicht seines ist. Seiner Gutmütigkeit wurde ausgesprochen übel mitgespielt. Am berühmtesten aber ist die Geschichte der Madame de Pommeraye, die Schiller als "Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache" übersetzte. Der Marquis de Arcis soll büßen, dass er Madame nicht mehr liebt. Sie spinnt eine perfide Intrige, lässt den Marquis in einer Sehnsuchtshölle schmoren, bringt ihn um einen guten Teil seines Vermögens - und macht ihn dabei ungewollt zum glücklichen Mann. Die im Stop-and-go-Verfahren erzählte Novelle ist das Muster einer aufklärerisch-anthropologischen Analyse der Gefühle, die sich mit elegantem Erzählparlando verbindet. Diesen leichten Ton und Esprit vermittelt die Neuübersetzung besser als die älteren Ausgaben.
Der größte Reiz des Romans besteht in der Verknüpfung von Erzählung und philosophischem Dialog. Das große Thema von Freiheit und Determinismus, Willkür und Notwendigkeit wird zwischen Herr und Diener hin und her gewendet. Jacques ist "Fatalist" dank seines verehrten Hauptmanns, der ihm eine Weisheit fürs Leben mitgab: "Alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, steht dort oben geschrieben" - und damit ist eher keine göttliche Zentralsteuerung gemeint. Der Witz besteht darin, dass Jacques zwar ein deterministisches Weltbild vertritt, tatsächlich aber entschlossen handelt und gefährliche Abenteuer besteht. Sein Herr dagegen hält den freien Willen hoch, in der Praxis aber schlummert er am Straßenrand ein und lässt sich treiben. Der Fatalismus steht ihm ins ruhige Gesicht geschrieben.
Einige Jahre vor der Französischen Revolution entstanden, hatte der Roman soziale Brisanz: Diderot unterläuft die Standesgrenzen, der Diener ist hier meist der Bestimmende. Jacques' Liebe zum unaufhörlichen Gespräch resultiert im Übrigen aus einem Knebel-Trauma. Er wuchs bei den Großeltern auf, ganz kleinen Händlern, die tagelang kein Wort sprachen, außer "Hüte zu verkaufen!" (die Großmutter) und "Ein Sou!" (der Großvater). Und dazwischen Jacques, "mit dem Knebel in dem Mund", damit er nur kein Schwätzer werde. "Diesem verfluchten Knebel verdanke ich meinen unbezwingbaren Rededrang." Das ist ein starkes Bild. Wo Knebel war, soll Literatur werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Denis Diderot: "Jacques der Fatalist und sein Herr".
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit fünf Unterhaltungen von Hans Magnus Enzensberger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014. 430 S., geb., 29,90 [Euro].
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