"Unnachahmlich sind die Dialoge zwischen den beiden Protagonisten über Willensfreiheit, Liebe und Vorherbestimmung. Jacques, der Fatalist, ist eher ein Determinist und redet an gegen seinen Herrn, der dagegen ein hartnäckiger Verfechter der Willensfreiheit ist. Was die Figuren spannend macht, sind die wechselseitigen Widersprüche. Denn nicht nur Jacques Determinismus stößt an Grenzen, auch sein Herr zeigt einen seltsamen Kontrast zwischen theoretischer Willensfreiheit einerseits und dem mangelnden Willen, diese zu nutzen, andererseits." Redaktion Gröls-Verlag (Edition Werke der Weltliteratur)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hinrich Schmidt-Henkels Neuübertragung von Denis Diderots den Leser forderndem Roman ist Wolfgang Schneider höchstes Lob wert. Aus Anlass einer Übersetzung, die um Gegenwärtigkeit und Frische bemüht, aber nicht zwanghaft modernisierend ist, nimmt sich Schneider den Text vor und stellt fest, dass Diderots aberwitziges Handlungskonstrukt und seine Poetik der Abschweifung noch immer jede Menge Spaß machen und Lust, dem Diener Jacques und seinem Herrn auf ihrer abenteuerlichen Reise durch Frankreich zu folgen. Elegantes Erzählparlando trifft hier für Schneider auf eine aufklärerische Analyse der Gefühle, wobei die Neuübersetzung genau hier punktet, in der Wiedergabe des leichten Tons zur philosophischen Textur über Freiheit und Determinismus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2014Das größte Buch der Aufklärung, auch das witzigste
Spaß auf jeder Ebene: Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Denis Diderots Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" neu
Goethe hat diesem Roman eine kulinarische Empfehlung geschrieben, die heutige Blurbs blass aussehen lässt: Es handele sich um "eine sehr köstliche und große Mahlzeit, mit großem Verstand für das Maul eines einzigen Abgottes zugerichtet". Er, Goethe, habe sich an den Platz dieses Abgottes gesetzt und "in sechs ununterbrochenen Stunden alle Gerichte und Einschiebeschüsseln verschlungen". Schiller hat nicht weniger begeistert einen Teil des Romans übersetzt, Hegel ihm die Dialektik von "Herr und Knecht" abgelesen, Marx riet Engels die Lektüre dringend an. Jean Echenoz, einer der interessantesten französischen Gegenwartsautoren, ist Diderot erzähltechnisch verpflichtet; hierzulande hat Hans Magnus Enzensberger den Roman als "Buch seines Lebens" bezeichnet.
Ein Meilenstein der europäischen Literaturgeschichte also. Und doch muss der Rezensent bekennen, dass er nicht wie Goethe drauflosfuttern konnte, sondern eine Weile an den Anfängen herumgekaut hat, bis der Appetit beim Essen kam. Die Sache mit den "Einschiebeschüsseln" lenkte zunächst sehr vom Hauptmenü ab - hochkonzentriertes Lesen ist gefordert, damit man nicht die Wechselsprünge der aberwitzig verschachtelten Handlungskonstruktion verpasst. Das wichtigste Vorbild des Romans ist Laurence Sternes "Tristram Shandy" mit seiner Poetik der Abschweifungen, Interruptionen und komischen Erzählwucherungen. Noch mehr als bei Sterne zieht bei Diderot aber nicht das "Was", sondern das "Wie" der Erzählung in den Bann.
"Wie waren sie einander begegnet? - Durch Zufall, wie alle. - Wie hießen sie? - Was schert Sie das? - Wo kamen sie her? - Vom nächstgelegenen Ort. - Wohin gingen sie? - Wer weiß schon, wohin er geht?" Schon diese ebenso leichthändigen wie tiefsinnigen ersten Sätze machen ein Prinzip des Romans deutlich: Der Leser wird ins Spiel einbezogen, er hat jederzeit das Einspruchsrecht und macht Gebrauch davon. In der geschmeidigen Neuübersetzung Hinrich Schmidt-Henkels wird der fiktive Leser mit "Sie" angeredet, das sperrige "Ihr" und "euch" früherer Übertragungen entfällt. Alter Wortschatz wird jedoch, sofern triftig und von kräftiger Geschmacksnote, durchaus auch von Schmidt-Henkel verwendet: "Hahnrei" zum Beispiel, "Schlafittchen" oder "Bregen". Diese Übersetzung bemüht sich um Gegenwärtigkeit und Frische, ohne zwanghaft zu modernisieren.
Der Roman schildert eine pikareske und philosophische Reise. Neun Tage lang reiten Jacques und sein Herr durch Frankreich, bekommen es mit rauflustigen Haudegen, durchtriebenen Mönchen und armen Bauern zu tun, kehren in mehr oder weniger gefährlichen Dorfschenken und Gasthäusern ein und vertreiben sich die Zeit mit kurzweiligen Plaudereien. Herr und Diener - das war ein beliebtes Gespann in Komödien des achtzehnten Jahrhunderts; auch Don Quijote und Sancho Pansa lassen grüßen. Wie die beiden Cervantes-Helden wachsen einem Jacques und sein Herr zunehmend ans Herz bei der Lektüre. Und je mehr man sich eingelesen hat, desto mehr amüsiert man sich über all die raffinierten Aufstauungen und Umleitungen des Erzählstroms. Da erzählt eine kluge Wirtin eine lange, fatale Liebesgeschichte und wird dabei ständig unterbrochen von ihrer Magd: "Madame? - Was denn? - Der Schlüssel zur Hafertruhe?" Poetologisch wird deutlich, dass das kohärente Erzählen von langen Geschichten im wahren Leben eher selten vorkommt. Die Antiromane von Sterne über Diderot bis Joyce machen sich einen Spaß daraus, die Literatur dessen Störfrequenzen auszusetzen. Bei den von Goethe genossenen "Einschiebeschüsseln" handelt es sich größtenteils um gutgewürzte Liebeskomödien. Nicht nur Jacques möchte die Liebesgeschichte seines Lebens, die mit einem schmerzhaften Schuss ins Knie begann, erzählen und kommt damit erst ganz am Ende halbwegs zu Rande (zwischendrin wird er aber einige deftige erotische Schelmenstreiche los), auch der Herr hat von einer gefährlichen Liebschaft zu berichten, die ihn kurzfristig ins Gefängnis brachte und auf lange Sicht zum Versorger eines Kindes machte, das gar nicht seines ist. Seiner Gutmütigkeit wurde ausgesprochen übel mitgespielt. Am berühmtesten aber ist die Geschichte der Madame de Pommeraye, die Schiller als "Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache" übersetzte. Der Marquis de Arcis soll büßen, dass er Madame nicht mehr liebt. Sie spinnt eine perfide Intrige, lässt den Marquis in einer Sehnsuchtshölle schmoren, bringt ihn um einen guten Teil seines Vermögens - und macht ihn dabei ungewollt zum glücklichen Mann. Die im Stop-and-go-Verfahren erzählte Novelle ist das Muster einer aufklärerisch-anthropologischen Analyse der Gefühle, die sich mit elegantem Erzählparlando verbindet. Diesen leichten Ton und Esprit vermittelt die Neuübersetzung besser als die älteren Ausgaben.
Der größte Reiz des Romans besteht in der Verknüpfung von Erzählung und philosophischem Dialog. Das große Thema von Freiheit und Determinismus, Willkür und Notwendigkeit wird zwischen Herr und Diener hin und her gewendet. Jacques ist "Fatalist" dank seines verehrten Hauptmanns, der ihm eine Weisheit fürs Leben mitgab: "Alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, steht dort oben geschrieben" - und damit ist eher keine göttliche Zentralsteuerung gemeint. Der Witz besteht darin, dass Jacques zwar ein deterministisches Weltbild vertritt, tatsächlich aber entschlossen handelt und gefährliche Abenteuer besteht. Sein Herr dagegen hält den freien Willen hoch, in der Praxis aber schlummert er am Straßenrand ein und lässt sich treiben. Der Fatalismus steht ihm ins ruhige Gesicht geschrieben.
Einige Jahre vor der Französischen Revolution entstanden, hatte der Roman soziale Brisanz: Diderot unterläuft die Standesgrenzen, der Diener ist hier meist der Bestimmende. Jacques' Liebe zum unaufhörlichen Gespräch resultiert im Übrigen aus einem Knebel-Trauma. Er wuchs bei den Großeltern auf, ganz kleinen Händlern, die tagelang kein Wort sprachen, außer "Hüte zu verkaufen!" (die Großmutter) und "Ein Sou!" (der Großvater). Und dazwischen Jacques, "mit dem Knebel in dem Mund", damit er nur kein Schwätzer werde. "Diesem verfluchten Knebel verdanke ich meinen unbezwingbaren Rededrang." Das ist ein starkes Bild. Wo Knebel war, soll Literatur werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Denis Diderot: "Jacques der Fatalist und sein Herr".
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit fünf Unterhaltungen von Hans Magnus Enzensberger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014. 430 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spaß auf jeder Ebene: Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Denis Diderots Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" neu
Goethe hat diesem Roman eine kulinarische Empfehlung geschrieben, die heutige Blurbs blass aussehen lässt: Es handele sich um "eine sehr köstliche und große Mahlzeit, mit großem Verstand für das Maul eines einzigen Abgottes zugerichtet". Er, Goethe, habe sich an den Platz dieses Abgottes gesetzt und "in sechs ununterbrochenen Stunden alle Gerichte und Einschiebeschüsseln verschlungen". Schiller hat nicht weniger begeistert einen Teil des Romans übersetzt, Hegel ihm die Dialektik von "Herr und Knecht" abgelesen, Marx riet Engels die Lektüre dringend an. Jean Echenoz, einer der interessantesten französischen Gegenwartsautoren, ist Diderot erzähltechnisch verpflichtet; hierzulande hat Hans Magnus Enzensberger den Roman als "Buch seines Lebens" bezeichnet.
Ein Meilenstein der europäischen Literaturgeschichte also. Und doch muss der Rezensent bekennen, dass er nicht wie Goethe drauflosfuttern konnte, sondern eine Weile an den Anfängen herumgekaut hat, bis der Appetit beim Essen kam. Die Sache mit den "Einschiebeschüsseln" lenkte zunächst sehr vom Hauptmenü ab - hochkonzentriertes Lesen ist gefordert, damit man nicht die Wechselsprünge der aberwitzig verschachtelten Handlungskonstruktion verpasst. Das wichtigste Vorbild des Romans ist Laurence Sternes "Tristram Shandy" mit seiner Poetik der Abschweifungen, Interruptionen und komischen Erzählwucherungen. Noch mehr als bei Sterne zieht bei Diderot aber nicht das "Was", sondern das "Wie" der Erzählung in den Bann.
"Wie waren sie einander begegnet? - Durch Zufall, wie alle. - Wie hießen sie? - Was schert Sie das? - Wo kamen sie her? - Vom nächstgelegenen Ort. - Wohin gingen sie? - Wer weiß schon, wohin er geht?" Schon diese ebenso leichthändigen wie tiefsinnigen ersten Sätze machen ein Prinzip des Romans deutlich: Der Leser wird ins Spiel einbezogen, er hat jederzeit das Einspruchsrecht und macht Gebrauch davon. In der geschmeidigen Neuübersetzung Hinrich Schmidt-Henkels wird der fiktive Leser mit "Sie" angeredet, das sperrige "Ihr" und "euch" früherer Übertragungen entfällt. Alter Wortschatz wird jedoch, sofern triftig und von kräftiger Geschmacksnote, durchaus auch von Schmidt-Henkel verwendet: "Hahnrei" zum Beispiel, "Schlafittchen" oder "Bregen". Diese Übersetzung bemüht sich um Gegenwärtigkeit und Frische, ohne zwanghaft zu modernisieren.
Der Roman schildert eine pikareske und philosophische Reise. Neun Tage lang reiten Jacques und sein Herr durch Frankreich, bekommen es mit rauflustigen Haudegen, durchtriebenen Mönchen und armen Bauern zu tun, kehren in mehr oder weniger gefährlichen Dorfschenken und Gasthäusern ein und vertreiben sich die Zeit mit kurzweiligen Plaudereien. Herr und Diener - das war ein beliebtes Gespann in Komödien des achtzehnten Jahrhunderts; auch Don Quijote und Sancho Pansa lassen grüßen. Wie die beiden Cervantes-Helden wachsen einem Jacques und sein Herr zunehmend ans Herz bei der Lektüre. Und je mehr man sich eingelesen hat, desto mehr amüsiert man sich über all die raffinierten Aufstauungen und Umleitungen des Erzählstroms. Da erzählt eine kluge Wirtin eine lange, fatale Liebesgeschichte und wird dabei ständig unterbrochen von ihrer Magd: "Madame? - Was denn? - Der Schlüssel zur Hafertruhe?" Poetologisch wird deutlich, dass das kohärente Erzählen von langen Geschichten im wahren Leben eher selten vorkommt. Die Antiromane von Sterne über Diderot bis Joyce machen sich einen Spaß daraus, die Literatur dessen Störfrequenzen auszusetzen. Bei den von Goethe genossenen "Einschiebeschüsseln" handelt es sich größtenteils um gutgewürzte Liebeskomödien. Nicht nur Jacques möchte die Liebesgeschichte seines Lebens, die mit einem schmerzhaften Schuss ins Knie begann, erzählen und kommt damit erst ganz am Ende halbwegs zu Rande (zwischendrin wird er aber einige deftige erotische Schelmenstreiche los), auch der Herr hat von einer gefährlichen Liebschaft zu berichten, die ihn kurzfristig ins Gefängnis brachte und auf lange Sicht zum Versorger eines Kindes machte, das gar nicht seines ist. Seiner Gutmütigkeit wurde ausgesprochen übel mitgespielt. Am berühmtesten aber ist die Geschichte der Madame de Pommeraye, die Schiller als "Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache" übersetzte. Der Marquis de Arcis soll büßen, dass er Madame nicht mehr liebt. Sie spinnt eine perfide Intrige, lässt den Marquis in einer Sehnsuchtshölle schmoren, bringt ihn um einen guten Teil seines Vermögens - und macht ihn dabei ungewollt zum glücklichen Mann. Die im Stop-and-go-Verfahren erzählte Novelle ist das Muster einer aufklärerisch-anthropologischen Analyse der Gefühle, die sich mit elegantem Erzählparlando verbindet. Diesen leichten Ton und Esprit vermittelt die Neuübersetzung besser als die älteren Ausgaben.
Der größte Reiz des Romans besteht in der Verknüpfung von Erzählung und philosophischem Dialog. Das große Thema von Freiheit und Determinismus, Willkür und Notwendigkeit wird zwischen Herr und Diener hin und her gewendet. Jacques ist "Fatalist" dank seines verehrten Hauptmanns, der ihm eine Weisheit fürs Leben mitgab: "Alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, steht dort oben geschrieben" - und damit ist eher keine göttliche Zentralsteuerung gemeint. Der Witz besteht darin, dass Jacques zwar ein deterministisches Weltbild vertritt, tatsächlich aber entschlossen handelt und gefährliche Abenteuer besteht. Sein Herr dagegen hält den freien Willen hoch, in der Praxis aber schlummert er am Straßenrand ein und lässt sich treiben. Der Fatalismus steht ihm ins ruhige Gesicht geschrieben.
Einige Jahre vor der Französischen Revolution entstanden, hatte der Roman soziale Brisanz: Diderot unterläuft die Standesgrenzen, der Diener ist hier meist der Bestimmende. Jacques' Liebe zum unaufhörlichen Gespräch resultiert im Übrigen aus einem Knebel-Trauma. Er wuchs bei den Großeltern auf, ganz kleinen Händlern, die tagelang kein Wort sprachen, außer "Hüte zu verkaufen!" (die Großmutter) und "Ein Sou!" (der Großvater). Und dazwischen Jacques, "mit dem Knebel in dem Mund", damit er nur kein Schwätzer werde. "Diesem verfluchten Knebel verdanke ich meinen unbezwingbaren Rededrang." Das ist ein starkes Bild. Wo Knebel war, soll Literatur werden.
WOLFGANG SCHNEIDER
Denis Diderot: "Jacques der Fatalist und sein Herr".
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit fünf Unterhaltungen von Hans Magnus Enzensberger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014. 430 S., geb., 29,90 [Euro].
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