Dieser Band ist die beste Einführung in das Werk Jacques Derridas. Umfassend, kenntnisreich und zugleich verständlich stellt Bennington Derridas Denken in seinem philosophiehistorischen wie zeitgenössischen Kontext vor. Dabei ist die Darstellung durchweg anschaulich und informativ. Begleitet wird dieser Text durch einen Beitrag Derridas, der auf dem letzten Drittel jeder Seite autobiographisehe Reflexionen mit Bezügen zur jeweiligen Darstellung seiner Theorie verbindet und dabei ein spannendes wie auch höchst dichtes Netz der Bezüge schafft. Vervollständigt wird der Band durch eine Bibliographie und ein ausführliches Curriculum vitae.
Jacques Derrida verführt und scheidet die Geister: nicht das schlechteste Kompliment für einen Denker, dessen grundlegendes Motiv seit Anbeginn offenkundig das »Dekonstruieren« scheinbarer Selbstverständlichkeiten ist. Die Verstörung, die von diesem Denken ausgeht, hat vielfache Namen: Staunen angesichts der Produktivität Derridas, Verblüffung ob seiner stilistischen Vielfalt, Irritation angesichts der Kühnheit dieses Denkers, sich in angestammte intellektuelle Besitzstände anderer zu begeben und die dort herrschenden unreflektierten Voraussetzungen aufzudecken, schließlich Befremden über ein Denken, das von Buch zu Buch mit sich selbst zu brechen, disziplinäre Grenzen und stilistische Differenzen zwischen Literatur und Philosophie nicht anzuerkennen scheint und stets woanders anzutreffen ist als dort, wo man es wähnte.
Das vorliegende Buch sucht das Rätsel »Derrida« zu entschlüsseln. Es wäre freilich kein Buch über Derrida, an dem Derrida selbst beteiligt war, würde es nicht zugleich wieder die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens klar vor Augen stellen.
Jacques Derrida verführt und scheidet die Geister: nicht das schlechteste Kompliment für einen Denker, dessen grundlegendes Motiv seit Anbeginn offenkundig das »Dekonstruieren« scheinbarer Selbstverständlichkeiten ist. Die Verstörung, die von diesem Denken ausgeht, hat vielfache Namen: Staunen angesichts der Produktivität Derridas, Verblüffung ob seiner stilistischen Vielfalt, Irritation angesichts der Kühnheit dieses Denkers, sich in angestammte intellektuelle Besitzstände anderer zu begeben und die dort herrschenden unreflektierten Voraussetzungen aufzudecken, schließlich Befremden über ein Denken, das von Buch zu Buch mit sich selbst zu brechen, disziplinäre Grenzen und stilistische Differenzen zwischen Literatur und Philosophie nicht anzuerkennen scheint und stets woanders anzutreffen ist als dort, wo man es wähnte.
Das vorliegende Buch sucht das Rätsel »Derrida« zu entschlüsseln. Es wäre freilich kein Buch über Derrida, an dem Derrida selbst beteiligt war, würde es nicht zugleich wieder die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens klar vor Augen stellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995Dekonstruktion der Destruktion
Jacques Derridas dunkle Archäologie des eigenen Denkens / Von Friedrich Kittler
In der Kolonie Algerien stand nicht eine Einheit von Wehrmacht oder SS. Trotzdem oder gerade deshalb griff Pétains Gesetz vom 3. Oktober 1940, das Juden aus Schule und Justiz ausschloß, härter durch als im besetzten Mutterland Frankreich. Im Oktober 1942 verwies das Gymnasium von Ben Aknun einen zwölfjährigen Quintaner der Schule. Was allerdings dessen Eltern und der jüdischen Gemeinde überhaupt, schon weil die Lehrer nicht minder betroffen waren, kaum Sorgen machte: Die Anzahl ausgeschlossener Lehrer und Gymnasiasten reichte hin, eine Privatschule aufzumachen. Nur ging der Zwölfjährige, ohne es seinen Eltern zu verraten, gar nicht hin. Er verbrachte die ganze angebliche Schulzeit mit Lesen und Fußball - und das auch noch, nachdem Eisenhowers Landungstruppen Algier am Nachmittag des 8. November 1942 befreit hatten. Denn die Rassengesetze eines Regimes, zu dem die Vereinigten Staaten diplomatische Beziehungen unterhielten und dessen Generäle Algerien noch unter dem Sternenbanner regierten, blieben elf weitere Monate in Kraft.
Der Name des Gymnasiasten: Jacques Derrida, der Name der Autobiographie, die diese Geschichte endlich öffentlich macht: "Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida". Schon in der Spaltung, die einem englischen Freund die Theorie und dem eigenen Macintosh das "Rohmaterial" eines an Augustins "Bekenntnissen" gebrochenen Lebens überläßt, schreibt dieses Porträt die Exzentrik fort, bei der es einsetzt. Derrida hat die klassische Professorenlaufbahn französischer Universitäten nie durchlaufen (dürfen), aber Ausschlüsse, die ihn auch nach der Schulzeit trafen, nie zum Einschluß in eine Andersheit verkehrt. Derrida hat sich selbst in Zeiten der Polemik von der deutschen Philosophie nie abbringen lassen. Und die bestimmende Figur französischer Gegenwartsphilosophie ist er dadurch geworden, daß sein amerikanischer und europäischer Ruhm schließlich auf Frankreich rückwirkte.
Davon zeugt Benningtons Unternehmen, ",das Denken Derridas' so klar wie irgend möglich zu erklären und zu verstehen". Seine versprochene und erreichte Klarheit, die im gegebenen Fall ja nicht gerade gängig ist, heißt vorab: Brücken zu angelsächsischen Philosophien schlagen. Seine Zusammenfassungen und Rekonstruktionen sind immer dann brillant, wenn es um Paradoxien geht, denen in Derridas Analyse Sprechakte wie "ich verspreche" oder "ich schreibe" ihre Sender und Empfänger aussetzen. Weniger klar wird der Theoriebiograph, wenn er Derridas Arbeiten im Räumen jenseits von Ich und Du, nämlich einer zumal von Heidegger geprägten Geschichte, rekapituliert. Sprechakttheorie oder analytische Philosophie sind dann keine Hilfe mehr.
Bedenklich stimmt an Benningtons Versprechen, "das Denken Derridas hinreichend zu systematisieren, um ihm die Form einer interaktiven Software zu verleihen" und somit das eigene Buch nächstens durch einen Hypertext namens "Derridabase" zu ersetzen, schon die Tatsache, daß dieser Rekurs von Interpretation auf Informatik den Unentscheidbarkeitsbeweis Alan Turings, diesen Grundstein aller Informatik, mit Gödels Unvollständigkeitsbeweis verwechselt. Wie zentral Geschichte und Politik, damit aber auch hochtechnische Medien für Derrida geworden sind, welchen Weg er mithin - nach Benningtons Nachweis - seit der Sprachphilosophie seiner berühmten Frühschriften zurückgelegt hat, bezeugen zwei noch unübersetzte Bücher von 1994: "Les politiques de l'amitié" und "Force de loi".
Sicher, auch die Politiken der Freundschaft (in diesem bezeichnenden Plural) entfalten zunächst, aber mit allen Künsten der Sprechaktanalyse, nur die Vieldeutigkeit eines Aristoteles zugeschriebenen Satzes: "O Freunde, es gibt keinen Freund"/ "Wer Freunde hat, hat keinen Freund." Zugleich jedoch folgt das Buch in seiner kompakten Konstruktion diesem Satz in allen Bedeutungen und Deutungen, die er in der europäischen Geschichte nacheinander erfahren hat. Von Montaigne über Kant und Nietzsche bis zu Blanchots großem Nekrolog auf Foucault, also nachgerade begriffsgeschichtlich, entfaltet die Freundschaft ihre ethischen und politischen Implikationen. Politisch, nämlich auf den Begriff von Demokratie bezogen, sind vor allem zwei Fragen: erstens, weshalb Freunde bei aller Einzigartigkeit gezählt werden können, und zweitens, weshalb sie seit den Griechen, mehr noch aber seit der Französischen Revolution, am Modell von Brüdern gedacht worden sind. Stimmauszählung und Brüderlichkeit - damit ist nicht nur Derridas altes Thema vom Ausschluß der Schwestern wiederaufgenommen, sondern auch die europäische Geschichte seit 1789 auf eine Formel gebracht.
Politiken der Freundschaft besagen demgegenüber, das Verfahren der Dekonstruktion, wie Derrida es im Anschluß an Heideggers Destruktion der Ontologie entwickelt hat, auf Grundbegriffe des Sozialen anzuwenden. Dem Kalkül, und das heißt der Technik, im Begriff der Freundschaft tritt die Anrufung einer unberechenbaren Chance entgegen; der Blutsverwandtschaft am Ursprung von Begriffen wie Volk, Rasse, Nation widersetzt sich die Fernstenliebe Nietzsches. Die Dekonstruktion leistet also Widerstand, allerdings eher methodologischen als humanistischen. Denn als Rahmenbedingung, damit Dekonstruktion überhaupt stattfinden kann, benennt ein Meister aller schreibbaren Vieldeutigkeiten unvermittelt schroff das nicht zu planende, aber desto dringlichere Ereignis einer kommenden Demokratie.
Diese Dringlichkeit begründet Derrida, bei allem Zweifel an der Möglichkeit von Geschichtsschreibung, historischer denn je: politisch mit dem Ende des Kalten Krieges, philosophisch mit der Notwendigkeit, außer der jüdisch-christlichen Herkunft auch den Islam zu denken, technologisch schließlich mit der Computerisierung aller Kommunikation. Wohl zum erstenmal stellt sich die Frage, ob philologische Mikrologie als Stil von Derridas Büchern solchen "Mutationen" überhaupt nachkommt. Wohl zum erstenmal auch verläßt sein Denken auf lange Strecken den angestammten Raum philosophisch-literarischer Texte. Um den Begriff der Freundschaft an dem der Feindschaft (auch und gerade im staatlich-militärischen Wortsinn) zu schärfen, steht im Zentrum von "Politiques d'amitié" eine eingehende Lektüre Carl Schmitts, die als Weg vom "Begriff des Politischen" bis zur "Theorie des Partisanen" zugleich den europäischen Bürger- und Weltkriegen folgt. Der Theoretiker des Ausnahmezustands und der Entscheidung ist nicht umsonst beim Namen gerufen worden. "Force de loi", fast gleichzeitig mit "Politiques de l'amitié" erschienen, versammelt zwei Vorträge über Recht und Entscheidung, die bei aller manifesten Bezugnahme auf Walter Benjamin zugleich die Auseinandersetzung mit dessen Briefpartner Schmitt fortführen. Denn was Derrida an Benjamins Aufsatz "Zur Kritik der Gewalt" unerträglich nennt, sind seine Affinitäten zur Entscheidung bei Schmitt oder auch zur Destruktion bei Heidegger. Und in der Tat: Daß das Recht im schwindelnden Augenblick seiner Setzung nie auf anderem Recht, sondern nur auf Kampf und Gewalt beruhen kann, ist der Sachverhalt des Ausnahmezustandes noch einmal. Es ist aber auch der Sachverhalt, den Heideggers Gedanke der Seinsgeschichte voraussetzt: Erst wenn die höchsten Begriffe der Philosophie, statt für zeitlos zu gelten, der Geschichte, und das heißt einem "Gigantenkampf um die Wesenheiten", entsprungen sind, kann das Denken einen anderen Sinn von Sein überhaupt stiften.
Diesen Anspruch auf Stiftung hat Derridas Denken nie erhoben, aber bei seinen Lektüren doch immer schon voraussetzen müssen. Ohne die These, daß die höchsten Begriffe der Philosophie in geregelter epochaler Abfolge immer wieder von anderen Bestimmungen ersetzt worden sind, hätten Dekonstruktionen, die die notwendige Vieldeutigkeit solcher Bestimmungen ja entfalten sollen, keinen Spielraum. In den Affinitäten zwischen Benjamin, Schmitt und Heidegger trifft Derrida, mit anderen Worten, auf die dunkle Archäologie seines eigenen Denkens.
Derrida erklärt seine entschiedene Solidarität mit der Aufklärung und stellt sich "die schwierige und dunkle Frage" nach einer Dekonstruktion, die keine Destruktion im Wortsinn Heideggers oder Benjamins wäre. Ihr ausdrückliches Ziel ist zudem die Lektüre nicht eines Textes (wie sie Derridas Verfahren so oft als Grenze vorgehalten wird), sondern einer historischen Konfiguration. Am Ende von "Force de loi" steht mit der archäologischen Frage, was jüdisches und deutsches Denken unmittelbar vor der Heraufkunft des Nationalsozialismus verbunden hat, zugleich die politische zur Entscheidung, was diese Philosophien selber zu Komplizen der Ereignisse gemacht hat.
Diese zweite Frage erfährt keine Antwort. Die Dekonstruktion darf philosophische Texte nicht, wie Foucaults Diskursanalyse es unternommen hat, im Archiv der Akten, Kriegspläne und Blaupausen versinken lassen. Ebensowenig aber darf sie auch, wie Heidegger das immer offengehalten hat, noch den Zweiten Weltkrieg in einer philosophisch gestifteten Geschichte des Seins aufgehen lassen. Deshalb schließlich kann die Dekonstruktion zeitgenössische Rahmenbedingungen von Theorien zwar durchweg nur in Klammersätzen streifen oder eben rahmen, aber auch alles vermeiden, was Identifikation mit dem Schicksal oder Aggressor hieße. Die Geschichte, die Derrida zu schreiben vermeidet, bleibt zugleich unbestimmt und offen.
Bestimmtheit gibt es nur gegenüber Ereignissen. Das eine Ereignis, das in "Politiques de l'amitié" unzweideutig als Zäsur markiert wird, heißt Nietzsche. Das andere, das in "Force de loi" Heidegger und sogar Benjamin den Vorwurf möglicher Komplizenschaft zuzieht, heißt Endlösung. Denn obwohl die Endlösung in Derridas Analyse den Einsatz all dessen radikalisiert hat, was Benjamins "Gewalt"-Aufsatz bekämpfte - Kommunikationstechnik, Staatsgewalt, Polizeigeheimnis -, bleibt der Ausnahmezustand doch eine mögliche Gemeinsamkeit. Um sie zu denken, verabschiedet die Dekonstruktion, für einmal oder überhaupt, ihr Bestehen auf dem Unberechenbaren, Einzigartigen, Unentscheidbaren; sie optiert für das Allgemeine der Erkenntnis, Repräsentation, Formalisierung.
So aber kehrt, gerade im Eingedenken der Endlösung und eines nicht genannten Gymnasiums, auch die andere Seite des Zweiten Weltkriegs wieder: Turings Computer als Formalisierung alles Berechenbaren. Ohne Computer, sagte Derrida einmal, keine Dekonstruktion. Ohne Demokratie, verkünden seine letzten Bücher, erst recht keine. Aber sind Computer und Demokratie zwei Namen des Selben?
"Jacques Derrida". Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994. 413 S., geb., 68,- DM.
Jacques Derrida: "Les politiques de l'amitié suivi de L'oreille de Heidegger." Editions Galilée, Paris 1994. 424 S., geb., 198,- FF.
Jacques Derrida: "Force de loi". Le ,Fondement mystique de l'autorité.' Editions Galilée, Paris 1994. 150 S., geb., 135,- FF.
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Jacques Derridas dunkle Archäologie des eigenen Denkens / Von Friedrich Kittler
In der Kolonie Algerien stand nicht eine Einheit von Wehrmacht oder SS. Trotzdem oder gerade deshalb griff Pétains Gesetz vom 3. Oktober 1940, das Juden aus Schule und Justiz ausschloß, härter durch als im besetzten Mutterland Frankreich. Im Oktober 1942 verwies das Gymnasium von Ben Aknun einen zwölfjährigen Quintaner der Schule. Was allerdings dessen Eltern und der jüdischen Gemeinde überhaupt, schon weil die Lehrer nicht minder betroffen waren, kaum Sorgen machte: Die Anzahl ausgeschlossener Lehrer und Gymnasiasten reichte hin, eine Privatschule aufzumachen. Nur ging der Zwölfjährige, ohne es seinen Eltern zu verraten, gar nicht hin. Er verbrachte die ganze angebliche Schulzeit mit Lesen und Fußball - und das auch noch, nachdem Eisenhowers Landungstruppen Algier am Nachmittag des 8. November 1942 befreit hatten. Denn die Rassengesetze eines Regimes, zu dem die Vereinigten Staaten diplomatische Beziehungen unterhielten und dessen Generäle Algerien noch unter dem Sternenbanner regierten, blieben elf weitere Monate in Kraft.
Der Name des Gymnasiasten: Jacques Derrida, der Name der Autobiographie, die diese Geschichte endlich öffentlich macht: "Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida". Schon in der Spaltung, die einem englischen Freund die Theorie und dem eigenen Macintosh das "Rohmaterial" eines an Augustins "Bekenntnissen" gebrochenen Lebens überläßt, schreibt dieses Porträt die Exzentrik fort, bei der es einsetzt. Derrida hat die klassische Professorenlaufbahn französischer Universitäten nie durchlaufen (dürfen), aber Ausschlüsse, die ihn auch nach der Schulzeit trafen, nie zum Einschluß in eine Andersheit verkehrt. Derrida hat sich selbst in Zeiten der Polemik von der deutschen Philosophie nie abbringen lassen. Und die bestimmende Figur französischer Gegenwartsphilosophie ist er dadurch geworden, daß sein amerikanischer und europäischer Ruhm schließlich auf Frankreich rückwirkte.
Davon zeugt Benningtons Unternehmen, ",das Denken Derridas' so klar wie irgend möglich zu erklären und zu verstehen". Seine versprochene und erreichte Klarheit, die im gegebenen Fall ja nicht gerade gängig ist, heißt vorab: Brücken zu angelsächsischen Philosophien schlagen. Seine Zusammenfassungen und Rekonstruktionen sind immer dann brillant, wenn es um Paradoxien geht, denen in Derridas Analyse Sprechakte wie "ich verspreche" oder "ich schreibe" ihre Sender und Empfänger aussetzen. Weniger klar wird der Theoriebiograph, wenn er Derridas Arbeiten im Räumen jenseits von Ich und Du, nämlich einer zumal von Heidegger geprägten Geschichte, rekapituliert. Sprechakttheorie oder analytische Philosophie sind dann keine Hilfe mehr.
Bedenklich stimmt an Benningtons Versprechen, "das Denken Derridas hinreichend zu systematisieren, um ihm die Form einer interaktiven Software zu verleihen" und somit das eigene Buch nächstens durch einen Hypertext namens "Derridabase" zu ersetzen, schon die Tatsache, daß dieser Rekurs von Interpretation auf Informatik den Unentscheidbarkeitsbeweis Alan Turings, diesen Grundstein aller Informatik, mit Gödels Unvollständigkeitsbeweis verwechselt. Wie zentral Geschichte und Politik, damit aber auch hochtechnische Medien für Derrida geworden sind, welchen Weg er mithin - nach Benningtons Nachweis - seit der Sprachphilosophie seiner berühmten Frühschriften zurückgelegt hat, bezeugen zwei noch unübersetzte Bücher von 1994: "Les politiques de l'amitié" und "Force de loi".
Sicher, auch die Politiken der Freundschaft (in diesem bezeichnenden Plural) entfalten zunächst, aber mit allen Künsten der Sprechaktanalyse, nur die Vieldeutigkeit eines Aristoteles zugeschriebenen Satzes: "O Freunde, es gibt keinen Freund"/ "Wer Freunde hat, hat keinen Freund." Zugleich jedoch folgt das Buch in seiner kompakten Konstruktion diesem Satz in allen Bedeutungen und Deutungen, die er in der europäischen Geschichte nacheinander erfahren hat. Von Montaigne über Kant und Nietzsche bis zu Blanchots großem Nekrolog auf Foucault, also nachgerade begriffsgeschichtlich, entfaltet die Freundschaft ihre ethischen und politischen Implikationen. Politisch, nämlich auf den Begriff von Demokratie bezogen, sind vor allem zwei Fragen: erstens, weshalb Freunde bei aller Einzigartigkeit gezählt werden können, und zweitens, weshalb sie seit den Griechen, mehr noch aber seit der Französischen Revolution, am Modell von Brüdern gedacht worden sind. Stimmauszählung und Brüderlichkeit - damit ist nicht nur Derridas altes Thema vom Ausschluß der Schwestern wiederaufgenommen, sondern auch die europäische Geschichte seit 1789 auf eine Formel gebracht.
Politiken der Freundschaft besagen demgegenüber, das Verfahren der Dekonstruktion, wie Derrida es im Anschluß an Heideggers Destruktion der Ontologie entwickelt hat, auf Grundbegriffe des Sozialen anzuwenden. Dem Kalkül, und das heißt der Technik, im Begriff der Freundschaft tritt die Anrufung einer unberechenbaren Chance entgegen; der Blutsverwandtschaft am Ursprung von Begriffen wie Volk, Rasse, Nation widersetzt sich die Fernstenliebe Nietzsches. Die Dekonstruktion leistet also Widerstand, allerdings eher methodologischen als humanistischen. Denn als Rahmenbedingung, damit Dekonstruktion überhaupt stattfinden kann, benennt ein Meister aller schreibbaren Vieldeutigkeiten unvermittelt schroff das nicht zu planende, aber desto dringlichere Ereignis einer kommenden Demokratie.
Diese Dringlichkeit begründet Derrida, bei allem Zweifel an der Möglichkeit von Geschichtsschreibung, historischer denn je: politisch mit dem Ende des Kalten Krieges, philosophisch mit der Notwendigkeit, außer der jüdisch-christlichen Herkunft auch den Islam zu denken, technologisch schließlich mit der Computerisierung aller Kommunikation. Wohl zum erstenmal stellt sich die Frage, ob philologische Mikrologie als Stil von Derridas Büchern solchen "Mutationen" überhaupt nachkommt. Wohl zum erstenmal auch verläßt sein Denken auf lange Strecken den angestammten Raum philosophisch-literarischer Texte. Um den Begriff der Freundschaft an dem der Feindschaft (auch und gerade im staatlich-militärischen Wortsinn) zu schärfen, steht im Zentrum von "Politiques d'amitié" eine eingehende Lektüre Carl Schmitts, die als Weg vom "Begriff des Politischen" bis zur "Theorie des Partisanen" zugleich den europäischen Bürger- und Weltkriegen folgt. Der Theoretiker des Ausnahmezustands und der Entscheidung ist nicht umsonst beim Namen gerufen worden. "Force de loi", fast gleichzeitig mit "Politiques de l'amitié" erschienen, versammelt zwei Vorträge über Recht und Entscheidung, die bei aller manifesten Bezugnahme auf Walter Benjamin zugleich die Auseinandersetzung mit dessen Briefpartner Schmitt fortführen. Denn was Derrida an Benjamins Aufsatz "Zur Kritik der Gewalt" unerträglich nennt, sind seine Affinitäten zur Entscheidung bei Schmitt oder auch zur Destruktion bei Heidegger. Und in der Tat: Daß das Recht im schwindelnden Augenblick seiner Setzung nie auf anderem Recht, sondern nur auf Kampf und Gewalt beruhen kann, ist der Sachverhalt des Ausnahmezustandes noch einmal. Es ist aber auch der Sachverhalt, den Heideggers Gedanke der Seinsgeschichte voraussetzt: Erst wenn die höchsten Begriffe der Philosophie, statt für zeitlos zu gelten, der Geschichte, und das heißt einem "Gigantenkampf um die Wesenheiten", entsprungen sind, kann das Denken einen anderen Sinn von Sein überhaupt stiften.
Diesen Anspruch auf Stiftung hat Derridas Denken nie erhoben, aber bei seinen Lektüren doch immer schon voraussetzen müssen. Ohne die These, daß die höchsten Begriffe der Philosophie in geregelter epochaler Abfolge immer wieder von anderen Bestimmungen ersetzt worden sind, hätten Dekonstruktionen, die die notwendige Vieldeutigkeit solcher Bestimmungen ja entfalten sollen, keinen Spielraum. In den Affinitäten zwischen Benjamin, Schmitt und Heidegger trifft Derrida, mit anderen Worten, auf die dunkle Archäologie seines eigenen Denkens.
Derrida erklärt seine entschiedene Solidarität mit der Aufklärung und stellt sich "die schwierige und dunkle Frage" nach einer Dekonstruktion, die keine Destruktion im Wortsinn Heideggers oder Benjamins wäre. Ihr ausdrückliches Ziel ist zudem die Lektüre nicht eines Textes (wie sie Derridas Verfahren so oft als Grenze vorgehalten wird), sondern einer historischen Konfiguration. Am Ende von "Force de loi" steht mit der archäologischen Frage, was jüdisches und deutsches Denken unmittelbar vor der Heraufkunft des Nationalsozialismus verbunden hat, zugleich die politische zur Entscheidung, was diese Philosophien selber zu Komplizen der Ereignisse gemacht hat.
Diese zweite Frage erfährt keine Antwort. Die Dekonstruktion darf philosophische Texte nicht, wie Foucaults Diskursanalyse es unternommen hat, im Archiv der Akten, Kriegspläne und Blaupausen versinken lassen. Ebensowenig aber darf sie auch, wie Heidegger das immer offengehalten hat, noch den Zweiten Weltkrieg in einer philosophisch gestifteten Geschichte des Seins aufgehen lassen. Deshalb schließlich kann die Dekonstruktion zeitgenössische Rahmenbedingungen von Theorien zwar durchweg nur in Klammersätzen streifen oder eben rahmen, aber auch alles vermeiden, was Identifikation mit dem Schicksal oder Aggressor hieße. Die Geschichte, die Derrida zu schreiben vermeidet, bleibt zugleich unbestimmt und offen.
Bestimmtheit gibt es nur gegenüber Ereignissen. Das eine Ereignis, das in "Politiques de l'amitié" unzweideutig als Zäsur markiert wird, heißt Nietzsche. Das andere, das in "Force de loi" Heidegger und sogar Benjamin den Vorwurf möglicher Komplizenschaft zuzieht, heißt Endlösung. Denn obwohl die Endlösung in Derridas Analyse den Einsatz all dessen radikalisiert hat, was Benjamins "Gewalt"-Aufsatz bekämpfte - Kommunikationstechnik, Staatsgewalt, Polizeigeheimnis -, bleibt der Ausnahmezustand doch eine mögliche Gemeinsamkeit. Um sie zu denken, verabschiedet die Dekonstruktion, für einmal oder überhaupt, ihr Bestehen auf dem Unberechenbaren, Einzigartigen, Unentscheidbaren; sie optiert für das Allgemeine der Erkenntnis, Repräsentation, Formalisierung.
So aber kehrt, gerade im Eingedenken der Endlösung und eines nicht genannten Gymnasiums, auch die andere Seite des Zweiten Weltkriegs wieder: Turings Computer als Formalisierung alles Berechenbaren. Ohne Computer, sagte Derrida einmal, keine Dekonstruktion. Ohne Demokratie, verkünden seine letzten Bücher, erst recht keine. Aber sind Computer und Demokratie zwei Namen des Selben?
"Jacques Derrida". Ein Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994. 413 S., geb., 68,- DM.
Jacques Derrida: "Les politiques de l'amitié suivi de L'oreille de Heidegger." Editions Galilée, Paris 1994. 424 S., geb., 198,- FF.
Jacques Derrida: "Force de loi". Le ,Fondement mystique de l'autorité.' Editions Galilée, Paris 1994. 150 S., geb., 135,- FF.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main