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Viel wurde über Derridas Werk geschrieben, wenig über die Person. Benoît Peeters hat sich der Aufgabe gestellt: Auf Basis von Interviews mit über 100 Weggefährten und einer umfassenden Auswertung des Nachlasses ist die Lebensgeschichte eines der wichtigsten Philosophen des letzten Jahrhunderts entstanden. Natürlich schildert Benoît Peeters die zahlreichen Kontroversen, die der 1930 in Algerien geborene und 2004 in Paris gestorbene Philosoph führte. Selbstverständlich kommen seine philosophischen Ideen und Konzepte zur Sprache. Vor allem aber, und das macht diese Biographie so spannend, so…mehr

Produktbeschreibung
Viel wurde über Derridas Werk geschrieben, wenig über die Person. Benoît Peeters hat sich der Aufgabe gestellt: Auf Basis von Interviews mit über 100 Weggefährten und einer umfassenden Auswertung des Nachlasses ist die Lebensgeschichte eines der wichtigsten Philosophen des letzten Jahrhunderts entstanden. Natürlich schildert Benoît Peeters die zahlreichen Kontroversen, die der 1930 in Algerien geborene und 2004 in Paris gestorbene Philosoph führte. Selbstverständlich kommen seine philosophischen Ideen und Konzepte zur Sprache. Vor allem aber, und das macht diese Biographie so spannend, so atemberaubend, ließ sich Peeters von Fragen wie diesen leiten: »Was aß er? Wen liebte er? Welche waren seine Ängste, seine Sehnsüchte, seine Ticks und seine Verletzungen? Wer waren seine wirklichen Freunde?« Peeters sucht sie auf, die Freunde und die Feinde, reist, liest, wühlt in Archiven. Er rekonstruiert Werk, Leben und Wirkung eines ruhelosen Denkers, der »praktisch permanent gegen etwas oder jemanden Krieg führte«. Wer die Kämpfe und die Ideen Jacques Derridas wirklich verstehen will, kommt an diesem umfangreichen, materialgesättigten Buch nicht vorbei.- Mit zahlreichen bisher unveröffentlichten Fotografien aus dem Nachlass
Autorenporträt
Peeters, BenoîtBenoît Peeters, geboren 1956 in Paris, ist Autor von Romanen, Essays, Sachbüchern und Comics. Er hat Biographien über Hergé und Paul Valéry veröffentlicht. Derrida ist die erste umfassende Biographie über den französischen Kultphilosophen.

Brühmann, HorstHorst Brühmann, geboren 1951 in Borken, studierte Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main. Er war als Lehrbeauftragter an der Universität in Frankfurt am Main und Lektor im wissenschaftlichen Lektorat tätig. Heute arbeitet er hauptberuflich als Übersetzer für wissenschaftliche Texte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013

Einschluss ausgeschlossen

Der Mann, vor dem wir immer wieder gewarnt wurden - Benoît Peeters hat die Lebensgeschichte des Philosophen Jacques Derrida aufgeschrieben

Das Gute an Klassikern ist, dass sie wirklich allen gehören. Klassiker lassen sich nicht mehr durch einen Spezialisten monopolisieren, der eifersüchtig über die richtige Auslegung wacht. Klassiker wirken einfach zu weiträumig, als dass man sie noch in die Kleingeistigkeit des Besitzbürgers einsperren könnte. Auch deshalb enthält der zehntausendste Text über Nietzsche, Darwin oder Marx immer mehr Welt als der fünfte oder sechste Text über den Theoretiker einer künstlerischen Kleingruppe wie den Situationisten Guy Debord.

Im Fall des Philosophen Jacques Derrida kann man jetzt in der Biographie von Benoît Peeters den Aspekt der weiträumigen Wirkung des Klassikers wunderbar studieren. Peeters will ausdrücklich keine intellektuelle Biographie Derridas schreiben, weil intellektuelle Biographien immer davon ausgehen, dass ihre Protagonisten schon erwachsen sind, wenn sie anfangen. Derrida aber hatte eine Kindheit, genauso wie er sich in verworrene Liebesverhältnisse verstrickte, die, wie es sich für einen Klassiker gehört, auch in den berüchtigten französischen Präsidentenwahlkampf im Jahr 2002 hineinwirkten. Lionel Jospin, der im ersten Wahlgang 2002 Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen unterlegene Kandidat der Sozialisten, war der Ziehvater von Derridas unehelichem Sohn. Über die Mutter, die Lebenspartnerin Jospins, war Derrida im Wahlkampf auch in die Klatschpresse geraten. Dort wird er als eine "mediterrane Variante von Richard Gere, mit Diplomen dekoriert", vorgestellt.

"Er ist gutaussehend, brillant, aber er ist verheiratet", heißt es über den Philosophen in einer Art Fotoroman. Derrida wird in diesem Wahlkampf zu einer Medienfigur, die sich komplett seiner Kontrolle entzieht. Er reagiert darauf überhaupt nicht souverän, was aber zwei Jahre vor seinem Tod sein Bild nicht mehr trüben kann. Und trotz der erwartbaren Plattheiten enthalten die Nachrichten noch genug Wahrheiten, so dass der Denker erkennbar bleibt. Denn der "kleine schwarze und sehr arabische Jude", der Derrida als Kind war, trägt von Anfang an so viel Schönheit in sich, dass einem beim Lesen der Kindheitspassagen ganz angst und bange wird um dieses hoffentlich gelingende Leben.

Peeters' Lebensbeschreibung überzeugt dadurch, dass er an den jeweiligen Lebensstationen Derridas nie versucht, das große Ganze und die Ikone Derrida darin zu entziffern. So wird die Biographie zu einer sachlichen Beschreibung einer überhaupt nicht selbstverständlichen Wahrheit. Scheitern, heißt diese Wahrheit, ist nur in den seltensten Fällen schön, schöner ist immer das Gelingen, und sei es nur das Gelingen eines Buches. Und vom Gelingen einiger der achtzig Bücher, die Derrida geschrieben hat, handeln die ruhigeren Passagen des Buches. Als Beruhigungsmittel taugen aber auch die gelungenen Bücher wie "Die Schrift und die Differenz" oder "Die Stimme und das Phänomen", die beide 1967 erscheinen, nicht. Dazu sind die Situationen, in die hinein Derrida seine Bücher schreibt, zu spannungsgeladen und seine Gegner zu wach. Immer wenn er ein Buch veröffentlicht, sitzt mindestens die halbe institutionelle Philosophie auf dem Sofa und nimmt es ihm übel.

Zum Glück, muss man nach der Lektüre der Biographie sagen, bleibt sie bei Derrida nicht dort sitzen, sondern wird aktiv. So wird 1988 der deutsche Philosoph Manfred Frank in der "Frankfurter Rundschau" die Befürchtung äußern, die jungen Deutschen könnten dem "neodarwinistischen" Faschismus oder Präfaschismus der französischen Internationale um Derrida in die Hände fallen. Da man damals selbst zu den jungen Deutschen zählte, denkt man unwillkürlich: Genau, Manfred Frank und die "Frankfurter Rundschau", auch das waren die achtziger Jahre. Und Derrida hat es geschafft, sie alle aus ihren grauen Amtszimmern zu locken und zum Reden zu bringen. Wahnsinn!

Jürgen Habermas wird zur selben Zeit in seinen Seminaren die Studenten vor dem Einfluss Derridas warnen, weil dessen Denken nihilistisch, obskurantistisch und politisch fragwürdig sei. Es ist aber keine deutsche Spezialität, auf Derridas Denken mit schroffer Unsachlichkeit zu reagieren. In Frankreich lesen ihm Prüfungskommissionen unter ironischem Witzeln seine eigenen Sätze vor, und eine amerikanische Professorin schreibt in den achtziger Jahren einen langen Brief an den damaligen französischen Minister für Industrie und Forschung, um vor dem intellektuellen Betrüger Derrida zu warnen. Der Minister beschränkte sich darauf, Derrida eine Kopie des Briefes zukommen zu lassen und ihm zu empfehlen, "niemals vor dieser Dame eine Treppe hinunterzugehen". Eine Empfehlung, der Derrida nur schwer nachkommen kann, weil überall, wo er auftaucht, solche Damen und Herren warten. Der Witz und das große Verdienst von Peeters' Buch ist aber, dass sie alle mit ihren Bedenken auch recht haben. Derridas Denken und seine Methode der Dekonstruktion misstrauen im Kern jeder institutionellen Wahrheitsversicherung und dem Arbeiten in abgeschlossenen Departments. Deshalb wird seine Philosophie, als sie in den siebziger Jahren in Amerika ankommt, den akademischen amerikanischen Feminismus befeuern und helfen, Cultural und Queer Studies an den Universitäten zu verankern. Derrida versucht immer, die Konfrontation von Behauptung und ihrer Negation zu umgehen. Er mag den direkten Weg der Konfrontation nicht, deshalb sucht er immer und überall das Gespräch. Im Alter wird er selbst mit Jürgen Habermas über die Zukunft Europas reden, und in seinen Einlassungen zum Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern versucht er vor allem, den Dualismus zu vermeiden.

Wie sehr diese Züge seines nicht binären oder nicht bipolaren Denkens mit seiner Biographie zu tun haben, beschreibt Peeters in den einleitenden Kapiteln zu Kindheit und Jugend. Als Derrida am 15. Juli 1930 in El Biar, einem Stadtteil von Algier, geboren wird, wächst er in eine Familie jüdischer Einwanderer hinein, die lange vor der französischen Kolonialmacht aus Spanien nach Algerien gekommen sind. Die Franzosen werden die Juden von Anfang an als ihre Helfer betrachten und so von den Muslimen trennen, mit denen sie vorher zusammengelebt hatten. Vor dem französischen Antisemitismus schützt sie das nicht. Für Derrida wird das existentiell, als ihm 1942 von der Vichy-Regierung der Schulbesuch verboten wird, weil er Jude ist. In Algerien werden die Rassengesetze wesentlich schärfer angewandt als im französischen Mutterland. Derrida soll daraufhin am selbstorganisierten Unterricht der entlassenen jüdischen Lehrer teilnehmen, fühlt sich aber auch da nicht wohl, weil ihm der jüdische Corpsgeist auf die Nerven geht.

Er habe dort gemerkt, notiert er später, dass er zur Gemeinschaft nicht geschaffen sei. Seine Zeit verbringt er, die Schule schwänzend, mit arabischen Tagedieben in Parks oder mit Freunden im Kino. Sein spätes Buch "Schurken" wird verschlüsselt Erfahrungen dieser Zeit verarbeiten und seine Sympathie für ebendie Schurken, die das "Straßenpflaster treten", philosophisch reflektieren.

Sein Ausschluss aus der Schule wird aber traumatisch bleiben, weil zudem auch erst ein halbes Jahr, nachdem die Amerikaner Algier befreit hatten, das Schulverbot für Juden aufgehoben wird. Als der dunkle Jude, der Derrida ist, kann er sich auf keine Form der Verwaltung verlassen, und das prägt auch seinen Umgang mit den französischen Institutionen, nachdem er in Paris zum Elitestudenten an der École normal supérieure geworden ist.

CORD RIECHELMANN

Benoît Peeters: "Jacques Derrida. Eine Biographie". Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Suhrkamp, 935 Seiten, 39,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Benoît Peeters' voluminöse Biografie des französischen Philosophen Jacques Derrida hat den Rezensenten Christof Forderer beeindruckt. Er schätzt das Werk als "angenehm erzählt und gut dokumentiert". Einen leichten Einstieg in das so subtile wie sperrige Denken des Philosophen bietet es in seinen Augen allerdings nicht. Die Zusammenfassungen von Derridas Werken, die der Autor liefert, scheinen ihm nicht die Stärke des Buchs zu sein. Diese sieht er vielmehr in der genauen zeit- und kulturgeschichtlichen Beschreibung der Milieus, Begegnungen und Begebenheiten, die Derridas Leben prägten. Verständlich wird für Forderer insbesondere der innere Antrieb des Denkers aus einem biografisch begründeten Gefühl der Nichtzugehörigkeit.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Es denkt sich
gut im Stress
Der Pariser Essayist Benoît Peeters hat
die erste große Biografie über den
Philosophen Jacques Derrida verfasst
VON JOSEPH HANIMANN
Es war zu erwarten, auch mit der strengsten Textimmanenz vertreibt man keine Autorenvita. Vom Philosophen Jacques Derrida war lange Zeit nicht einmal ein Foto bekannt. Neun Jahre nach seinem Tod liegt nun die erste Biografie vor. Das verlangt eine Erklärung, die der Biograf in der Einleitung seines dicken Buchs liefert. So sehr der Philosoph stets aus den Texten heraus dachte und selbst das Anekdotische seines Gegenstands noch in Textmotive umwandelte, habe auch er ein Privatleben und vor allem ein enormes Privatarchiv gehabt, schreibt Benoît Peeters.
  Derrida hob alles auf, bis hin zu den Zettelchen, die seine Kollegen Bourdieu und Balibar ihm an die Bürotür hefteten. Ein Teil dieses Materials liegt bei der University of California in Irvine, der andere im Institut Mémoire de l’édition contemporaine in Caen. Wohin mit all dieser Information, wenn nicht in eine Biografie? - meint der Pariser Essayist Peeters, der zusätzlich gut hundert Zeugen befragt hat. Er versagt sich aber, das Genre der Biografie neu zu erfinden. Kein formales Mimikry, verspricht er, sondern ein Buch, das einfach die Geschichte eines Lebens und die eines Denkens erzählt. Das Ergebnis ist eine beachtliche Fleißarbeit. Geburt 1930 und Kindheit im jüdischen Bürgermilieu von Algier, Ausschluss des zwölfjährigen Judenkinds 1942 aus dem Staatsgymnasium und Wiedereingliederung nach Aufhebung der antisemitischen Maßnahmen, frühe Gide-, Rousseau- und Nietzsche-Lektüre, Unschlüssigkeit des Abiturienten zwischen Philosophie und Literatur werden ausführlich, aber ohne Umständlichkeit dargestellt. Mit den Internatsjahren in Paris begann die klassische Erfahrung französischer Eliteförderung: Lernen im grauen Einheitskittel von frühmorgens bis abends in der Vorbereitungsklasse zum Eintritt in die École Normale Supérieure (ENS). Der Biograf hebt in diesem Zusammenhang pointiert die Mischung aus Methodenstrenge und Zufall hervor. Wäre Derrida 1949 in der Vorbereitungsklasse des Lycée Henri-IV und nicht des Gymnasiums Louis-le-Grand gelandet, wäre er durch den dort lehrenden Jean Beaufret sofort mit dem für ihn später so wichtigen Philosophen Heidegger konfrontiert worden statt mit Alain oder Gabriel Marcel. Jedenfalls wurde während jener Jahre im Dauerstress oft nah am Nervenzusammenbruch schon ein Wesenszug Derridas sichtbar: eine innere Gespanntheit, halb aus hoher Selbstanforderung, halb aus Angst vor dem Unvorhersehbaren, das ihn als verpasstes Flugzeugs oder verlegtes Buch auch später stets nervös machen konnte.
  Die ersten Berufsjahre als Lehrer in Le Mans, ab 1960 in Paris erzählt Peeters weitgehend monografisch aus Briefen und späteren Erinnerungstexten, mit kurzen Nebenblicken auf die Zeitgeschichte. Manches dazu hätte man gern etwas genauer erfahren. Welcher Art war der Kontakt während des Militärdiensts in Algerien zu dem ebenfalls dort diensttuenden Pierre Bourdieu? Hat ihn der Austausch über den Sechs-Tage-Krieg dem Philosophen Emmanuel Levinas wirklich näher gebracht? Politisch neigte Derrida nie zur radikalen Positionierung. Er verstand sich links, vermied aber die Diskussion mit den Kommunisten. Der Befreiungskrieg in Algerien betraf ihn persönlich. Er ließ jedoch nur verhalten durchblicken, dass ihm ein Algerien unter Einschluss der Algerienfranzosen lieber gewesen wäre. Bei den Protestmärschen der Studentenbewegung 1968 marschierte er eher halbherzig mit.
  Besondere Aufmerksamkeit widmet der Biograf dem Verhältnis Derridas zu seinen intellektuellen Zeitgenossen. Den vier Jahre älteren Foucault lernte er als Student in dessen Vorlesung kennen und unterhielt zu ihm freundschaftliche Beziehungen, bis die beiden 1972 sich über seine Auslegung von Foucaults „Geschichte des Wahnsinns“ zerstritten. Auch Louis Althusser begegnete er früh, war während dessen psychischen Krisen an der ENS sein Stellvertreter und hielt dann im Schatten von Althussers berühmtem Marx-Seminar bescheiden seinen Kurs über Heidegger und die Frage des Seins. Vom Psychoanalytiker Jacques Lacan wandte er sich nach kurzer Annäherung wegen dessen Egomanie bald wieder ab. Die Verärgerung von Claude Lévi-Strauss wegen einer Stelle im Buch „Grammatologie“ nahm er bedauernd zur Kenntnis. Den „Anti-Ödipus“ von den Kollegen Deleuze und Guattari legte er ratlos aus der Hand. Über Heidegger erfahren wir, dass er willens und wiederholt nahe dran war, den Herrn Derrida einmal persönlich kennen zu lernen, den Termin aber immer wieder verschob.
  Detailliert wirddas Auftauchen einzelner Kernbegriffe nachgezeichnet wie jener der „différance“ – mit „a“ – bei einem Vortrag 1959 im normannischen Schloss Cérisy-la-Salle oder jener der „Dekonstruktion“ im Aufsatz „L’écriture avant la lettre“ 1965. Das Wort, gestand er später, sei ihm spontan eingefallen, um Heideggers Ausdrücke „Destruktion“ und „Abbau“ wiederzugeben, und er sei über den großen Erfolg dann selber erstaunt gewesen. Wie eng der Begriff jedoch im Austausch mit dem in Amerika lehrenden Paul de Man entwickelt wurde, ist aus der Biografie eher zu erraten als klar zu ersehen. Auch dass Derrida und Hans-Georg Gadamer sich nach dem misslungenen Dialog 1981 bis zum Treffen 1988 in Heidelberg nicht mehr begegneten, ist nicht ganz richtig.
  Die Werketappen des Vielschreibers werden chronologisch von Monat zu Monat nachgezeichnet und zu den übrigen Lebensepisoden diskret in Beziehung gesetzt. Der besorgte Familienvater im abgelegenen Vorstadthaus bei Paris, der Frauenverführer, der zwischen Paris und Amerika pendelnde Professor, der 1981 in Prag in eine so absurde wie für ihn traumatische Politaffäre verwickelte und verhaftete Vortragsreisende – all diese Erscheinungen wirken wie Abziehbilder einer Figur, die sich vor allem der philosophischen Horizonterweiterung zwischen Heidegger, Freud und Artaud verschrieben hat. In dem von Peeters zusammengetragenen Konvolut schimmert hinter der etwas spröden Brillanz der Begriffsarbeit eine Persönlichkeit durch, auf die kameradschaftlich Verlass sein konnte, wenn es drauf ankam, die menschlich aber mitunter auch versagte. Derrida war einer der ersten, der nach Althussers Ermordung seiner Frau 1980 zur Stelle war und sich um einen Anwalt bemühte, um dem Kollegen das Gefängnis zu ersparen. Er hat den Internierten dann auch regelmäßig besucht. Die Beziehung zur Philosophin Sylviane Agacinski und der mit ihr gezeugte Sohn haben ihn hingegen bis zuletzt überfordert und dadurch zu heiklen Situationen geführt.
  Man braucht von einer Biografie nicht unbedingt eine abschließende Einschätzung zu erwarten. Die vorliegende Arbeit sammelt Spuren zum Wesentlichen wie zum Anekdotischen – Derridas Vorliebe in Sachen Kleidung und Essen, seine Rauchgewohnheiten, sein berechnender, aber nie knausriger Umgang mit Geld. Es entsteht das Bild eines Mannes, der uns auch jäh zu berühren vermag, wenn er etwa, von Krebs und Chemotherapie schon stark gezeichnet, zwei Monate vor seinem Tod im August 2004 auf einem Kolloquium in Rio de Janeiro drei Stunden lang spricht und dann aufhört mit dem Satz: „Es gäbe noch vieles zu sagen, doch ich möchte Sie nicht ermüden“.
  Fürs Verständnis der Figur wie auch der letzten Blütezeit französischer Gegenwartsphilosophie ist dieses Buch fortan unverzichtbar, und im Übersetzer hat es den am besten ausgewiesenen Kenner des Fachs gefunden.
Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 935 Seiten, 39,95 Euro.
Früh schon zeichnete ihn
eine besondere innere
Gespanntheit aus
Jacques Derrida (1930-2004) hob jeden Zettel auf. Für seine Derrida-Biografie hat Benoît Peeters im Nachlass recherchiert und Zeitgenossen befragt.
FOTO: AFP
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»Dass Derrida einer der kompliziertesten Denker seiner Zeit war, dass einige Werke ... sogar als unlesbar gelten, all das zeichnet Benoît Peeters in seiner Biografie genau und hervorragend nach. Weil er sich nicht in den unendlichen Windungen des Derridaschen Denkens und nicht in dessen sprachlichen Volten verliert, ist das Buch auch für Nicht-Derrida-Experten äußerst lesenswert.« Artur Boelderl ORF 20130811