Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert - eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman "Jahrestage" ist unter dem Titel "Kleines Adressbuch für Jerichow und New York" separat erhältlich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2018Gesines Geist
Amerika entdeckt Uwe Johnsons "Jahrestage"
NEW YORK, im November
Gute Bücher haben immer ihre Zeit. So sollte es jedenfalls sein. Der Markt für sie aber ist weniger unbestimmt. Da ist die Zeit für ein gutes Buch möglicherweise schnell vorbei. Oder noch gar nicht angebrochen. Und so ist es nicht ganz müßig zu fragen, warum Uwe Johnsons "Jahrestage" erstmals jetzt vollständig ins Englische übersetzt wurden, 48 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes, 35 nach Erscheinen des letzten und fünfzig Jahre nach der Zeit, in der dieser Roman spielt (zwischen dem 21. August 1967 und dem 20. August 1968). Was hat es damit auf sich?
Die Amerikaner haben, was Bücher angeht, immer schon einen immensen Exportüberschuss zu verzeichnen, während die Deutschen auf diesem Gebiet eher im unteren Mittelbereich liegen. Aus der aktuellen belletristischen Produktion wird sehr wenig für den englischsprachigen Markt übersetzt. Aus Gründen, die nicht immer durchschaubar sind, entdecken die Amerikaner dann aber plötzlich einen deutschsprachigen Klassiker für sich und sind selbst erstaunt, warum es so lange gedauert hat. Vor einigen Jahren war das Stefan Zweig. Davor Joseph Roth. Davor W. G. Sebald. Jetzt ist es Uwe Johnson.
Seine späte Würdigung durch die Amerikaner ist besonders rätselhaft, spielen doch seine "Jahrestage" in New York. Die "New York Times" hat eine der Hauptrollen. Vermutlich war einiges, wenn nicht vieles - die Schlagzeilen aus der "Times" sicher, die Dialoge wahrscheinlich - ursprünglich Englisch und wurde von Johnson ins Deutsche gebracht. Es nützte offenbar nichts, obwohl sich das Ganze deutlich kurzweiliger liest, als die Länge von mehr als zweitausend deutschen Seiten, die im Englischen auf 1720 schrumpften, vermuten lässt. Es gab Versuche, in den siebziger Jahren, in einer längst vergriffenen Ausgabe. Übersetzer und Verlag gaben damals auf, als Uwe Johnsons Schreibblockade das Erscheinen des letzten Bandes um mehr als ein Jahrzehnt verzögerte. Umso heroischer das Engagement des Verlags der "New York Review of Books" und aller Beteiligten für den neuen Anlauf und die vollständige Fassung. Immerhin neunhundert Seiten, so der Übersetzer Damion Searls, waren bisher nicht übersetzt, der Rest wurde gründlich überarbeitet.
Bei der Buchvorstellung im New Yorker Goethe-Institut wurde die Frage "warum jetzt?" weder gestellt noch beantwortet. Wahrscheinlich gibt es auch keine Antwort außer dieser: Der Verlag hat es eben jetzt gewagt. Damion Searls hat, neben vielen anderen Dingen, die er tat, eben jetzt die Übersetzung des Riesenwerks abgeschlossen, das am Abend in zwei broschierten Bänden im Schuber für dreißig Dollar verkauft wurde. Ein Schnäppchen. Dazu gibt es bis zum Ende des Monats ein Filmprogramm, unter anderem mit Margarethe von Trottas Verfilmung, eine Zeitung, eine Installation, eine Playlist mit Songs der Zeit, eine interaktive Wanderung durch das New York der Gesine Cresspahl, der Hauptfigur, alles produziert, arrangiert, organisiert vom Goethe-Institut. Großer Bahnhof also, aber doch - wer wird das Buch lesen, das hier "Anniversaries" heißt und von einem Autor stammt, den selbst in New York niemand kennt?
Die etwa sechzig Menschen, die ins Goethe-Institut gekommen waren, um den Übersetzer im Gespräch mit der Schriftstellerin Renata Adler und der Literaturwissenschaftlerin Liesl Schillinger zu hören, kauften zurückhaltend, aßen und tranken aber gern, was danach geboten wurde. Auch dafür wird das Goethe-Institut in New York geschätzt: Es gibt immer freie Drinks.
Dass niemand nach Sinn und Zweck, dem öffentlichen Interesse und dem Zeitbezug fragte, sondern sich alle damit zufriedengaben, über ein Buch informiert zu werden, das in seiner Anlage einmalig und seiner Zeit voraus war, das von Deutschland, und zwar von beiden Teilen, ebenso handelt wie von New York in jener Zeit und von seiner stolzesten Zeitung und den Nachrichten dort, immer wieder aus dem Vietnam-Krieg - es spricht nichts dagegen, das für ein Zeichen der Reinheit des literarischen Interesses zu nehmen. "Auf Augenhöhe" mit Tolstoi nannte Searls das Kapitel, das während der Heuernte in Mecklenburg-Vorpommern spielt.
Und dann gab er den Zuhörern doch noch einen Hinweis darauf, was dieses Buch so wertvoll für einen Zeitgenossen macht - dass Gesine Cresspahl eine alleinerziehende Frau ist, eine Immigrantin, berufstätig und ständig aktuell über die Zeitläufte informiert und nachdenkend: Das ist eine großartige Frauenfigur, ein Vorbild, so Searls, umso mehr, als sie von einem Mann erfunden wurde. Das alte New York ersteht dadurch nicht wieder. Aber der Geist der Gesine Cresspahl ist angekommen.
VERENA LUEKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amerika entdeckt Uwe Johnsons "Jahrestage"
NEW YORK, im November
Gute Bücher haben immer ihre Zeit. So sollte es jedenfalls sein. Der Markt für sie aber ist weniger unbestimmt. Da ist die Zeit für ein gutes Buch möglicherweise schnell vorbei. Oder noch gar nicht angebrochen. Und so ist es nicht ganz müßig zu fragen, warum Uwe Johnsons "Jahrestage" erstmals jetzt vollständig ins Englische übersetzt wurden, 48 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes, 35 nach Erscheinen des letzten und fünfzig Jahre nach der Zeit, in der dieser Roman spielt (zwischen dem 21. August 1967 und dem 20. August 1968). Was hat es damit auf sich?
Die Amerikaner haben, was Bücher angeht, immer schon einen immensen Exportüberschuss zu verzeichnen, während die Deutschen auf diesem Gebiet eher im unteren Mittelbereich liegen. Aus der aktuellen belletristischen Produktion wird sehr wenig für den englischsprachigen Markt übersetzt. Aus Gründen, die nicht immer durchschaubar sind, entdecken die Amerikaner dann aber plötzlich einen deutschsprachigen Klassiker für sich und sind selbst erstaunt, warum es so lange gedauert hat. Vor einigen Jahren war das Stefan Zweig. Davor Joseph Roth. Davor W. G. Sebald. Jetzt ist es Uwe Johnson.
Seine späte Würdigung durch die Amerikaner ist besonders rätselhaft, spielen doch seine "Jahrestage" in New York. Die "New York Times" hat eine der Hauptrollen. Vermutlich war einiges, wenn nicht vieles - die Schlagzeilen aus der "Times" sicher, die Dialoge wahrscheinlich - ursprünglich Englisch und wurde von Johnson ins Deutsche gebracht. Es nützte offenbar nichts, obwohl sich das Ganze deutlich kurzweiliger liest, als die Länge von mehr als zweitausend deutschen Seiten, die im Englischen auf 1720 schrumpften, vermuten lässt. Es gab Versuche, in den siebziger Jahren, in einer längst vergriffenen Ausgabe. Übersetzer und Verlag gaben damals auf, als Uwe Johnsons Schreibblockade das Erscheinen des letzten Bandes um mehr als ein Jahrzehnt verzögerte. Umso heroischer das Engagement des Verlags der "New York Review of Books" und aller Beteiligten für den neuen Anlauf und die vollständige Fassung. Immerhin neunhundert Seiten, so der Übersetzer Damion Searls, waren bisher nicht übersetzt, der Rest wurde gründlich überarbeitet.
Bei der Buchvorstellung im New Yorker Goethe-Institut wurde die Frage "warum jetzt?" weder gestellt noch beantwortet. Wahrscheinlich gibt es auch keine Antwort außer dieser: Der Verlag hat es eben jetzt gewagt. Damion Searls hat, neben vielen anderen Dingen, die er tat, eben jetzt die Übersetzung des Riesenwerks abgeschlossen, das am Abend in zwei broschierten Bänden im Schuber für dreißig Dollar verkauft wurde. Ein Schnäppchen. Dazu gibt es bis zum Ende des Monats ein Filmprogramm, unter anderem mit Margarethe von Trottas Verfilmung, eine Zeitung, eine Installation, eine Playlist mit Songs der Zeit, eine interaktive Wanderung durch das New York der Gesine Cresspahl, der Hauptfigur, alles produziert, arrangiert, organisiert vom Goethe-Institut. Großer Bahnhof also, aber doch - wer wird das Buch lesen, das hier "Anniversaries" heißt und von einem Autor stammt, den selbst in New York niemand kennt?
Die etwa sechzig Menschen, die ins Goethe-Institut gekommen waren, um den Übersetzer im Gespräch mit der Schriftstellerin Renata Adler und der Literaturwissenschaftlerin Liesl Schillinger zu hören, kauften zurückhaltend, aßen und tranken aber gern, was danach geboten wurde. Auch dafür wird das Goethe-Institut in New York geschätzt: Es gibt immer freie Drinks.
Dass niemand nach Sinn und Zweck, dem öffentlichen Interesse und dem Zeitbezug fragte, sondern sich alle damit zufriedengaben, über ein Buch informiert zu werden, das in seiner Anlage einmalig und seiner Zeit voraus war, das von Deutschland, und zwar von beiden Teilen, ebenso handelt wie von New York in jener Zeit und von seiner stolzesten Zeitung und den Nachrichten dort, immer wieder aus dem Vietnam-Krieg - es spricht nichts dagegen, das für ein Zeichen der Reinheit des literarischen Interesses zu nehmen. "Auf Augenhöhe" mit Tolstoi nannte Searls das Kapitel, das während der Heuernte in Mecklenburg-Vorpommern spielt.
Und dann gab er den Zuhörern doch noch einen Hinweis darauf, was dieses Buch so wertvoll für einen Zeitgenossen macht - dass Gesine Cresspahl eine alleinerziehende Frau ist, eine Immigrantin, berufstätig und ständig aktuell über die Zeitläufte informiert und nachdenkend: Das ist eine großartige Frauenfigur, ein Vorbild, so Searls, umso mehr, als sie von einem Mann erfunden wurde. Das alte New York ersteht dadurch nicht wieder. Aber der Geist der Gesine Cresspahl ist angekommen.
VERENA LUEKEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein literarischer Triumph - das ist Uwe Johnsons Jahrestage. Nicht nur wegen der Qualität dieses knapp 2000 Seiten umfassenden Romans 'in vier Lieferungen', sondern auch in biografischer Hinsicht: Nachdem die ersten drei Bände von 1970 bis 1973 erschienen waren, dauerte es zehn qualvolle Jahre, bis 1983 der Abschlussband fertig war. Pflichtlektüre für Literaturliebhaber.« Wiener Zeitung 20130810
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Gesines Gedanken
Charly Hübner und Caren Miosga haben erstmals Uwe Johnsons detailvernarrten
Jahrhundertroman „Jahrestage“ vollständig als Hörbuch eingesprochen.
2024 wird ein Uwe-Johnson-Gedenkjahr. Im kommenden Februar vor vierzig Jahren starb der Schriftsteller in seinem Haus in England, mit nur 49 Jahren – das beschädigte Herz. Mit seinem zwischen 1970 und 1983 entstandenen Romankoloss, dem vierbändigen, 1700 Seiten schweren „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ hat er ein Jahrhundertwerk vorgelegt. Im kommenden Juli vor neunzig Jahren wiederum wurde Johnson in Cammin, dem heutigen Kamień Pomorski, geboren. Seine Jugend- und Studienzeit verbrachte er nach dem Krieg in Mecklenburg-Vorpommern.
In jenem Landstrich also, in dem er später sein fiktives Ostseedorf Jerichow ansiedelte, dessen Geschichte von den Dreißigerjahren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Familie Cresspahl erzählt wird. Und in dem sich auch das Landestheater Neustrelitz befindet, das ihm in dieser Spielzeit eine Veranstaltungsreihe widmet. Mit dabei: Charly Hübner und Caren Miosga. Der in Neustrelitz geborene Schauspieler und die Fernsehjournalistin stellen ihre Lesung von Johnsons Opus magnum vor, die gerade bei DAV erschienen ist. Und zwar zum ersten Mal in voller Länge, nachdem sich 1995/96 Max Volkert Martens schon einmal daran gesetzt und eine um gut die Hälfte gekürzte Version eingesprochen hatte. Diese dauerte 40, die aktuelle Lesung nun knapp 74 Stunden. Dank der außerordentlichen Leistung von Charly Hübner, der den weitaus größten Part zu bewältigen hatte, ein Wurf, mit dem er sich in die Geschichte des Hörbuchs einschreiben dürfte. Fortan wird man seinen Namen in einem Atemzug mit den Hörbuch-Monumenten von Peter Matić („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) und Wolfram Berger („Der Mann ohne Eigenschaften“) nennen.
Würde man täglich an die acht Stunden hören, wäre man nach zehn Tagen mit Johnsons Werk fertig, das vor dem Hintergrund des Holocaust um die Thematik von Erinnern und Vergessen, Schuld und Verantwortung kreist und gleichermaßen Provinzgeschichte, Familienchronik, Zeit-, Medien- und historischer Roman ist. Man könnte sich freilich auch ein Jahr lang jeden Tag einen der 366 Tageseinträge anhören und so den „Jahrestagen“ womöglich am gerechtesten werden.
Es ist die 1933 in Jerichow geborene und seit 1961 in New York lebende, alleinerziehende Mutter Gesine Cresspahl, die hier vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 auf ihre problematische Herkunft blickt und gleichzeitig dank der täglichen Lektüre der New York Times, mit der sie „wie mit einer Person“ Umgang pflegt, die eigene Gegenwart reflektiert: vom Vietnamkrieg über den Rassismus in ihrer Wahlheimat bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. Das Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart prägt den Roman ebenso wie dessen besondere Erzählhaltung, über die es einmal heißt: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“ Johnson gab über sein Schreiben die beredte Auskunft, ihm werde von „seinen Leuten“ deutlich „vorgesprochen“. Insofern hat Holger Helbig, Inhaber der Uwe-Johnson-Professur an der Universität Rostock, recht, wenn er im Booklet anführt, die „Jahrestage“ seien von Anfang an eine Geschichte gewesen, die nicht nur aufgeschrieben wurde, um gelesen, sondern auch, um gehört zu werden.
Es ist daher schlüssig, dass der Regisseur Wolfgang Stockmann in Hübner und Miosga zwei Sprecher ins Studio geholt hat. Indem sie Johnsons kunstvoll arrangierten Chor der Stimmen gemeinsam zu Gehör bringen, bekommt die Aufnahme eine Energie und Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht. Von Caren Miosga, die nicht nur, aber auch die Zitate aus der „Tante Times“ vorträgt, erwartet man den typischen Nachrichtenton. Den aber liefert sie gerade nicht. Stattdessen moduliert sie wie eine Schauspielerin. Mitunter auch an Stellen, wo es gar nicht nötig wäre, so etwa, wenn sie bei Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald“, das „Bestie“ noch eigens betont. Einen besseren Interpreten für die „Jahrestage“ als Charly Hübner wiederum kann man sich nicht vorstellen.
Hübner sucht seine Projekte gezielt aus und ist dabei seiner Heimat oft eng verbunden. Jahrelang war er der Kommissar Sascha Bukow im Rostocker „Polizeiruf 110“, über die mecklenburgische Punkband Feine Sahne Fischfilet drehte er den Dokumentarfilm „Wildes Herz“. Dass er sich nun Uwe Johnsons angenommen hat, ist nur folgerichtig. Als Sohn Mecklenburgs ist ihm dessen Sound nicht fremd, die plattdeutschen Passagen der „Jahrestage“ beherrscht er sowieso. Er liest unaufgeregt und souverän, manchmal blitzt der Schelm durch. Er erschließt dieses Riesenwerk einem neuen Publikum.
Angesichts eines wachsenden Antisemitismus ist „Jahrestage“ kein aus der Zeit gefallener Roman, sondern immer noch beklemmend aktuell. Darin benennt Johnson das Mindeste, was man tun kann. Nämlich: „Wenigstens mit Kenntnis zu leben.“
FLORIAN WELLE
Uwe Johnson:
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine
Cresspahl.
Ungekürzte Lesung
mit Charly Hübner
und Caren Miosga.
73 Stunden und
53 Minuten. DAV,
Berlin 2023, 60 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Charly Hübner und Caren Miosga haben erstmals Uwe Johnsons detailvernarrten
Jahrhundertroman „Jahrestage“ vollständig als Hörbuch eingesprochen.
2024 wird ein Uwe-Johnson-Gedenkjahr. Im kommenden Februar vor vierzig Jahren starb der Schriftsteller in seinem Haus in England, mit nur 49 Jahren – das beschädigte Herz. Mit seinem zwischen 1970 und 1983 entstandenen Romankoloss, dem vierbändigen, 1700 Seiten schweren „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ hat er ein Jahrhundertwerk vorgelegt. Im kommenden Juli vor neunzig Jahren wiederum wurde Johnson in Cammin, dem heutigen Kamień Pomorski, geboren. Seine Jugend- und Studienzeit verbrachte er nach dem Krieg in Mecklenburg-Vorpommern.
In jenem Landstrich also, in dem er später sein fiktives Ostseedorf Jerichow ansiedelte, dessen Geschichte von den Dreißigerjahren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Familie Cresspahl erzählt wird. Und in dem sich auch das Landestheater Neustrelitz befindet, das ihm in dieser Spielzeit eine Veranstaltungsreihe widmet. Mit dabei: Charly Hübner und Caren Miosga. Der in Neustrelitz geborene Schauspieler und die Fernsehjournalistin stellen ihre Lesung von Johnsons Opus magnum vor, die gerade bei DAV erschienen ist. Und zwar zum ersten Mal in voller Länge, nachdem sich 1995/96 Max Volkert Martens schon einmal daran gesetzt und eine um gut die Hälfte gekürzte Version eingesprochen hatte. Diese dauerte 40, die aktuelle Lesung nun knapp 74 Stunden. Dank der außerordentlichen Leistung von Charly Hübner, der den weitaus größten Part zu bewältigen hatte, ein Wurf, mit dem er sich in die Geschichte des Hörbuchs einschreiben dürfte. Fortan wird man seinen Namen in einem Atemzug mit den Hörbuch-Monumenten von Peter Matić („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) und Wolfram Berger („Der Mann ohne Eigenschaften“) nennen.
Würde man täglich an die acht Stunden hören, wäre man nach zehn Tagen mit Johnsons Werk fertig, das vor dem Hintergrund des Holocaust um die Thematik von Erinnern und Vergessen, Schuld und Verantwortung kreist und gleichermaßen Provinzgeschichte, Familienchronik, Zeit-, Medien- und historischer Roman ist. Man könnte sich freilich auch ein Jahr lang jeden Tag einen der 366 Tageseinträge anhören und so den „Jahrestagen“ womöglich am gerechtesten werden.
Es ist die 1933 in Jerichow geborene und seit 1961 in New York lebende, alleinerziehende Mutter Gesine Cresspahl, die hier vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 auf ihre problematische Herkunft blickt und gleichzeitig dank der täglichen Lektüre der New York Times, mit der sie „wie mit einer Person“ Umgang pflegt, die eigene Gegenwart reflektiert: vom Vietnamkrieg über den Rassismus in ihrer Wahlheimat bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. Das Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart prägt den Roman ebenso wie dessen besondere Erzählhaltung, über die es einmal heißt: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“ Johnson gab über sein Schreiben die beredte Auskunft, ihm werde von „seinen Leuten“ deutlich „vorgesprochen“. Insofern hat Holger Helbig, Inhaber der Uwe-Johnson-Professur an der Universität Rostock, recht, wenn er im Booklet anführt, die „Jahrestage“ seien von Anfang an eine Geschichte gewesen, die nicht nur aufgeschrieben wurde, um gelesen, sondern auch, um gehört zu werden.
Es ist daher schlüssig, dass der Regisseur Wolfgang Stockmann in Hübner und Miosga zwei Sprecher ins Studio geholt hat. Indem sie Johnsons kunstvoll arrangierten Chor der Stimmen gemeinsam zu Gehör bringen, bekommt die Aufnahme eine Energie und Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht. Von Caren Miosga, die nicht nur, aber auch die Zitate aus der „Tante Times“ vorträgt, erwartet man den typischen Nachrichtenton. Den aber liefert sie gerade nicht. Stattdessen moduliert sie wie eine Schauspielerin. Mitunter auch an Stellen, wo es gar nicht nötig wäre, so etwa, wenn sie bei Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald“, das „Bestie“ noch eigens betont. Einen besseren Interpreten für die „Jahrestage“ als Charly Hübner wiederum kann man sich nicht vorstellen.
Hübner sucht seine Projekte gezielt aus und ist dabei seiner Heimat oft eng verbunden. Jahrelang war er der Kommissar Sascha Bukow im Rostocker „Polizeiruf 110“, über die mecklenburgische Punkband Feine Sahne Fischfilet drehte er den Dokumentarfilm „Wildes Herz“. Dass er sich nun Uwe Johnsons angenommen hat, ist nur folgerichtig. Als Sohn Mecklenburgs ist ihm dessen Sound nicht fremd, die plattdeutschen Passagen der „Jahrestage“ beherrscht er sowieso. Er liest unaufgeregt und souverän, manchmal blitzt der Schelm durch. Er erschließt dieses Riesenwerk einem neuen Publikum.
Angesichts eines wachsenden Antisemitismus ist „Jahrestage“ kein aus der Zeit gefallener Roman, sondern immer noch beklemmend aktuell. Darin benennt Johnson das Mindeste, was man tun kann. Nämlich: „Wenigstens mit Kenntnis zu leben.“
FLORIAN WELLE
Uwe Johnson:
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine
Cresspahl.
Ungekürzte Lesung
mit Charly Hübner
und Caren Miosga.
73 Stunden und
53 Minuten. DAV,
Berlin 2023, 60 Euro.
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