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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2008

Wie ’68 wirklich war
Uwe Johnsons „Jahrestage”, gelesen als Chronik eines unruhigen Jahres / Von Rolf Michaelis
Ist das wirklich erst vierzig Jahre her, dass Studenten, „Ho – Ho – Ho – Tschi – Minh” und „Amis raus aus Vietnam!” rufend durch die Straßen zogen, dass die sozialistischen „Bruderstaaten” in die verbündete Tschechoslowakei einmarschierten, um Dubceks Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” blutig niederzuschlagen, dass der Studentenführer Rudi Dutschke auf offener Straße in Berlin niedergeschossen wurde, dass Studenten Frankreich fast unregierbar machten und in Amerika der Präsidenten-Kandidat Robert F. Kennedy und der führende Kopf der Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King, ermordet wurden? Was für ein Jahr.
Und was für eine Erzählung, „Jahrestage”. Uwe Johnson nennt die Tageskapitel vom 21. 8. 1967 bis zum 20. 8. 1968 – bewusst – nicht Roman, sondern betont, im Untertitel, „Aus dem Leben von Gesine Cresspahl”, den Charakter eines epischen Fragments, das er zu erweitern gedachte. „Jahrestage”: Das ist Gegenwart der Tage eines Jahres, gelebt zu Ende der sechziger Jahre in New York. Das heißt aber auch – Vergangenheit erinnerter Tage. Das Gedächtnis feiert Jahrestage. Das Tagebuch der in Ostdeutschland geborenen, jetzt in New York lebenden Bankangestellten Gesine Cresspahl, das diese Erzählung auch ist, beginnt am 21. August 1967 und endet am 20. August 1968, dem Tag, an dem ein todgeweihter Sozialismus, diktatorisch und mit Waffengewalt, dem „Prager Frühling” ein blutiges Ende bereitet. „Nicht ich bin es”, erklärte Johnson 1983, als endlich der vierte und letzte Band der Erzählung erscheinen konnte, „nicht ich bin es, der den Roman mit dem 20. August 1968 auf ein Theaterdonner-Ende hinauslaufen lässt. Das tut die Wirklichkeit, die ich mir nun einmal eingehandelt habe . . . durch den Einsatz mit einem ersten Kapitel für den 21. August 1967. Als ich das anfing, hatte ich ja keinerlei Ahnung, was die Zukunft bescheren würde.”
Schon während der Arbeit an dem schon Ende der sechziger Jahre begonnenen Buch, die sich durch eine zehn Jahre währende Schreibblockade bis 1983 hinzog, hat Johnson das Geständnis gemacht: „Da ist mir von der sogenannten Realität etwas geschenkt worden” – und er meint damit die Parallelität (und den Kontrast) der Ereignisse in der mecklenburgischen Gemeinde Jerichow, wo Gesine Cresspahl 1933 geboren wurde und die Sowjet-Armee in den Nachkriegsjahren 1945/46 bei den Agrarkapitalisten und Kleinbauern den Sozialismus – mit Gewalt – einzuführen gedenkt, und dem Versuch der Sozialisten in der CSSR 1967/68, diese Staatsform auf humane und demokratische Weise den Menschen nahezubringen.
So kommt es zu einer ständigen Parallele – Musiker würden von „Engführung” reden – zwischen den Zeitschichten einer Erzählung, die sowohl im Deutschland der späten Weimarer Republik und beginnenden Nazi-Zeit von 1930 bis 1939 wie in Amerika während des Vietnam-Kriegs spielt, und die zudem als transatlantische Engführung erkennen lässt: dass der demokratische Protest gegen eine verbrecherisch handelnde Regierung in den USA die Revolte in Deutschland gegen Muff und Reform-Unwillen einer Großen Koalition befeuert.
Wenn man sieht, wie bei uns derzeit die „68er” geschmäht oder wie ihnen, verschämt, Kränzchen gewunden werden, dann kann man in Versuchung kommen, „Jahrestage” – ein Buch, das als Zeitroman, als Familienroman, Heimatroman, ja auch als verschwiegener Liebesroman gelesen worden ist, einmal als Chronik der laufenden Ereignisse zur unruhigen Zeit 1967/68 zu entziffern. Da fallen, von heute aus gesehen, sofort die Parallelen auf zwischen Amerika im Vietnam- und Irak-Krieg. Lügen damals und jetzt. Gründet das irrwitzige Abenteuer von George W. Bush und seinen dem militärisch-industriellen Komplex auch finanziell hörigen Neokonservativen auf Verleugnung der Wirklichkeit, so lesen wir schon bei Johnson am 1. 9. 67: „Der amerikanische Befehlshaber in Südvietnam sagt: Die Nordvietnamesen lügen. Radio Hanoi gibt die amerikanischen Verluste . . . für die ersten sechs Monate dieses Jahres mit 110 000 an. Er sagt: Es sind 37 038.”
Und so weiter mit Verschleierung der Wahrheit. Uwe Johnson beginnt jedes Tageskapitel mit Nachrichten aus der New York Times, die seine Hauptfigur Gesine Cresspahl jeden Morgen studiert. Ihr fällt auf, dass die Zeitung auf Seite eins das Foto eines abgeschossenen US-Flugzeugs bringt, die „vierzig” toten Amerikaner aber „auf der sechsten Seite” versteckt, „verstellt von Neuigkeiten aus Jerusalem”. Ein andermal lesen wir: „Die amtlichen Toten der Amerikaner stehen heute auf der zwölften Seite, sieben Zeilen ohne Zusammenhang mit den Nachrichten darüber. ,Ein Mann aus Long Island unter den Toten‘ sagt die Überschrift. In der Meldung sind es dann achtundzwanzig.”
Was vor vierzig Jahren noch möglich war und den damals in New York als Verlagslektor arbeitenden Johnson verstörte, ist nun vorbei: Damals wurden in Deutschland die Neonazis der NPD mit 8,8 Prozent in die Bremer Bürgerschaft gewählt, und in Amerika wurde im August 1967 der Naziführer George Lincoln Rockwell von einem Konkurrenten erschossen – und sollte auf einem „militärischen Ehrenfriedhof” beigesetzt werden. Auf den „Nationalfriedhof” von Virginia kam er nur deshalb nicht, „weil die Polizei nicht das Hakenkreuz vom Leichenwagen nehmen wollte” . . . Weitere sechs Friedhöfe haben die Leiche . . . zurückgewiesen, nun hat die Partei ihn verbrannt und steht Wache neben der Asche.”
Die Schrecken der mörderischen Nazi-Zeit sitzen so tief in Johnson, dass in die „Jahrestage” selbst der Maler-Dichter aus Wiedensahl, der von 1832 bis 1908 gelebt hat, nur als „der große deutsche Antisemit Wilhelm Busch” Aufnahme findet. Johnson hat der von ihm verehrten Schriftsteller-Kollegin Margret Boveri, deren Erinnerungen er herausgegeben hat, nie verzeihen mögen, dass sie im Dritten Reich publiziert hat. Der Moralist Johnson, der es sich auch mit anderen Zeitgenossen schwer gemacht hat, kann den Blick nicht abwenden von politisch-moralischen Sündenfällen: „Theodor Heuss – der hatte 1933 Hitler abstützen helfen mit dem Ermächtigungsgesetz, das die Weimarer Republik um die Ecke brachte . . . Der Staatsverräter, der hierzulande Staatspräsident war.”
Was geht in Johnson, was geht in seiner Hauptfigur Gesine Cresspahl vor, die oft auf dem Kinderspielplatz in New York mit Emigranten-Müttern sitzt, die deutsche Vernichtungslager überlebt haben („Mrs. Ferwalter: Die Ärzte nennen ihr Fett . . . am ganzen Leibe einen Ausdruck des KZ-Syndroms”), wenn sie 1968 lesen müssen, im Prozess gegen einen Beamten des Auswärtigen Amtes, einen adeligen Herrn von Hahn, „angeklagt der Mitschuld am Tod von dreißigtausend bulgarischen und griechischen Juden”, tritt als Zeuge auf, auch ein „ehemals in leitender Funktion beschäftigter Kollege beim Außenministerium der Nazis . . . Kiesinger, Beruf: Bundeskanzler. Solche Silberhaarigen haben das Vertrauen der Westdeutschen . . . Chef der sogenannten Christlichen Demokraten, der während der Herrschaft der Faschisten blind, taub und lahm gewesen ist.”
Wie sollte man nicht verstehen, was Gesine Cresspahl ihrer Tochter Marie sagt: „Aber in Deutschland möchte ich nicht noch einmal leben”? Gegen solchen Ekel hilft auch nicht die Erinnerung an den tapferen Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen, „einen der wenigen im Amt, die von Anfang an die Verbrechen der Nazis für gerichtlich erfassbar hielten und erfassten . . . Ohne ihn hätte es den Prozess über Auschwitz von 1963 bis 1965 nicht gegeben.”
Moralist? Ja – aber er sieht auf die Welt mit beiden Augen. Da lesen wir über das KZ Flossenbürg: „Boshafte Tötungen von Juden waren an der Tagesordnung, Einspritzungen von Gift” – doch bleibt uns nicht die Mitteilung erspart, die Gesine Cresspahl entsetzt, ein amerikanischer Soldat habe aus Vietnam „ein Foto geschickt, da hat er so eine Kette von abgeschnittenen Ohren von Vietkongs schräg über der Schulter”.
Ja, da gibt es die Emigrantin Mrs. Blumenroth, die seit dem KZ die Angst verfolgt, dort „unfruchtbar gemacht worden zu sein”, aber es lebt in „Jahrestagen” auch Gesines Schulfreundin Anita Gantlik, der nach der „Vergewaltigung durch drei Rotarmisten” als „Spätfolge ewige Unfruchtbarkeit” bescheinigt wird. Wir lesen, dass „die Sowjets einem ihrer Schriftsteller den Prozess machen, weil er protestierte dagegen, dass Schriftstellern ein Prozess gemacht wurde” – aber auch, dass der amerikanische Dramatiker LeRoi Jones zu zweieinhalb Jahren Staatsgefängnis und 1000 Dollar Strafe verurteilt wurde, weil er, vielfach verfolgt, zwei Revolver illegal in seinem Auto hatte.
Hier formuliert kein Autor der Beliebigkeit, des Sowohl-als-auch. Hier zwingt uns ein Mensch seinen unbestechlichen Blick auf die Ungeheuerlichkeiten, Ungerechtigkeiten des Lebens auf.
Davor bleibt keiner sicher. Über den Kollegen und Nachbarn im Suhrkamp-Verlag lesen wir, was damals dem Verleger (beider Autoren) Siegfried Unseld Pein bereitete, „was aber in der New York Times stand: ,Der 38-jährige Dichter teilte . . . einem Publikum von Studenten und Professoren mit, dass ihn kürzlich ein dreiwöchiger Aufenthalt in Cuba überzeugt habe davon, dass das cubanische Volk ein Bewusstsein von Freude, bedeutungsvoll und tieferem Sinn‘.” Und wenig später folgt der Eintrag: „In Cuba wird an Personen über 13 Jahre keine Milch mehr ausgegeben; hoffentlich ist dies nicht ein Leibgetränk des Dichters Enzensberger.”
Man sieht: Wie man auch in das Universum dieser großen Erzählung „Jahrestage” hineinkommt – es sind hier immer neue Entdeckungen zu machen. Ein Grund mehr, dieses Werk als aufklärerisches Lesebuch über unsere Zeit zu entdecken, ein Werk, das die Illustrierte Stern vor vierzig Jahren schmähte („Für jeden, der Langeweile zu kultivieren vermag, ist dies ein ungeheuer spannendes Buch”), während der Kritiker Günter Blöcker in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schon damals schrieb: „Johnson lässt mit diesem Band alle der mit ihm angetretenen Autoren seiner Generation hinter sich zurück.”
Wäre das Jahr 2008 nicht Anlass, sich dieser großen Erzählung noch einmal zuzuwenden? Wie aktuell ist sie in vielem, wenn man nur darauf sehen will! Orakelt da nicht schon 1967 ein amerikanischer „Kriegsminister” von einer „Mauer von Stacheldraht, Landminen und eleganter Elektronik”? Was ist geworden aus der Mauer durch Jerusalem, aus der Berliner Mauer, was wird aus der Mauer der Israelis durch palästinensisches Gebiet? Unschuldige Tote. Schande für alle politischen Maurer.
Und ist der unter Literaten vertraute, politische Schnack, den die „Jahrestage” in sich aufgenommen und festgehalten haben, nicht längst – höchst gegenwärtig: „Was machen die Chinesen?”
Wer aber Uwe Johnsons „Jahrestage” nun tatsächlich noch einmal lesen will – und es ist ein Vergnügen – sollte nie vergessen, aus welcher Gesinnung, Moral, Erzähl-Perspektive hier gesprochen wird: „Ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewusst hat.”
Rolf Michaelis, geboren 1933 in Schwäbisch Hall, lebt als Autor und Journalist in Hamburg. Im Jahr 1983 veröffentlichte er sein „Kleines Adressbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman ,Jahrestage‘ ” im Suhrkamp Verlag.
Ein Moralist, der auf die Welt mit beiden Augen sieht
Ist dieser politische Schnack nicht längst höchst gegenwärtig?
George Lincoln Rockwell, 1918 geboren, gründete 1959 die „American Nazi Party”. Am 25. August 1967 wurde er von einem Konkurrenten vor einem Waschsalon erschossen. Uwe Johnson berichtet auch von der Farce um die Beisetzung. Foto: Lee Lockwood/Time & Life Pictures/Getty Image
Uwe Johnson, 1974, „Jahrestage” 1-3 waren erschienen. Foto: Brigitte Friedrich
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2017

Die Woche mit Frau Cresspahl
Zeit und Zeitung berühren sich: Uwe Johnsons "Jahrestage" wiedergelesen

Es gibt nichts Älteres, heißt es, als die Zeitung von gestern. Doch das kommt darauf an. Als der Schriftsteller Uwe Johnson im Sommersemester 1979 Gastdozent für Poetik an der Universität Frankfurt war, erzählte er von seiner Zeit in New York und der Suche nach Material. Während seine Kollegen - Johnson war Angestellter eines Schulbuchverlags - auf einen Schlüsselroman im Verlagswesen hoffen, grast er 1966 und 1967 New York und dessen unmittelbare Umgebung nach etwas ab, wovon er selbst nicht weiß, was es sein kann. "Fast war das vereinbarte Jahr vorüber", als Johnson am 12. April 1967 auf Gesine Cresspahl stößt: "Ob sie wohl in Restaurants in ihrem Mantel sitzt? die Brille im Haar traegt?". In der nächsten Woche habe er sie dienstags in Richtung Sixth Avenue gehen sehen. "Meine Damen und Herren, Sie werden mir vorhalten, sicherlich sei ich der einzige gewesen auf der ganzen 42. Strasse [...] einer Gesine Cresspahl zu begegnen". Doch keine andere aus seinem erzählerischen Kosmos habe dort gehen können und nirgendwo hätte das "Mecklenburger Kind, aufgewachsen eine Stunde Fußweg von der Ostsee" anders wohnen können als am Riverside Drive an der Westküste Manhattans, dort wo Johnson selbst lebte.

Dank der Rockefeller Foundation blieb Johnson noch bis zum August 1968 in New York. Vom 29. Januar an schrieb er an den "Jahrestagen", die (undatiert) am 20. August 1967 an der Küste New Jerseys beginnen und am 20. August 1968 mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei enden. Keine seiner Figuren und ihre Erinnerungen hat der in Vorpommern und Mecklenburg aufgewachsene Schriftsteller damit so genau erkundet wie Gesine Cresspahl - bekannt aus Johnsons 1959 veröffentlichtem Roman "Mutmassungen über Jakob" und der Erzählung "Osterwasser", erschienen 1964.

Die uns heute entfernt erscheinende Gegenwart des Romans wird von Gesine Cresspahls Lektüre der "New York Times" organisiert. Nur vordergründig aber ist Johnson ein Chronist des New York der späten sechziger Jahre, denn Zeit ist auf vielfältigere Weise das Thema der "Jahrestage": als Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit, als von einem Kalender gerahmtes Erinnern, als Abgleich von Erfahrungen und Nachrichten. Die stammen zwar aus den Jahren 1967/68; das sich zu ihnen in Bezug setzen aber, wie Erinnerung wellengleich in die Gegenwart spült, ist zeitlos oder zumindest teilweise zeitunabhängig. So wie es auch andere Zeit-Romane sind, James Joyce' "Ulysses" mit der auf den 16. Juni 1904 konzentrierten Handlung und Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway". Clarissa Dalloways Erinnerungen werden an einem Mittwoch im Juni des Jahres 1923 immer wieder durch Begegnungen und sensorische Wahrnehmungen ausgelöst. Im zuerst "Die Stunden" genannten Buch untersucht Woolf das Verhältnis unterschiedlicher Zeitmodelle. Das regelmäßige Geläut des Big Ben rahmt Dalloways Gedankenstrom, die aus den Angeln gehobene Tür des dritten Satzes setzt Erinnerungen frei, etwa die an ihre Jugendliebe Sally Seton. Aber es kann, wie im Fall des "Kriegszitterers" Septimus Warren Smith, ebenso die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs vergegenwärtigen, mit katastrophalen Folgen.

Ähnlich kann man die "Jahrestage" lesen: als Untersuchungsanordnung unterschiedlich erlebter Zeiten, als Versuch, eine Biographie zu organisieren. Dazu passt die zweite Funktion der Zeitungslektüre. Für Gesine Cresspahl, das erfahren die Leser bereits am 22. August 1967, ist die Zeitung Partnerin eines stillen Zwiegesprächs, ein bereits geschriebenes Tagebuch. So wie andere eines schreiben, liest sie das "Grey Old Lady" genannte Blatt "wie ein Gespräch mit jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit" und jener Skepsis, die man sonst einer "ausgedachten, nicht verwandten" Tante zuteilwerden lässt. Cresspahl selbst wird zur Chronistin Jerichows, ihrer Heimatstadt, indem sie ihrer Tochter von den Ereignissen in ihrer Heimat berichtet und sie zum Teil als Tondokumente festhält. Der Erzähler aber thematisiert sich als derjenige, der Gesine und ihre Tochter Marie ein Jahr lang beobachten darf und so die "Jahrestage" festhält.

Wer sie heute liest, findet sich unwillkürlich aufgefordert, die eigene Gegenwart mit den Tagen jener Jahre zu vergleichen. Johnson muss diese Möglichkeit, sein Buch im selben Rhythmus zu lesen, in dem er es schrieb, vor Augen gestanden haben. Eine tageweise Lektüre zum fünfzigsten Jubiläum der Jahrestage erlaubt, noch nicht alles wissen zu müssen, zu Beginn die vielen Ebenen noch nicht durchschaut zu haben und Johnson beispielsweise am 21. August 1967 noch unterstellen zu dürfen, er setze das Wort "Neger" strategisch ein und übersetzte nicht nur "negroe", weil es eben in der "New York Times" so stand. Es ist das Medium liberaler Weißer, durch das sich Johnson wie Cresspahl Zugang zur amerikanischen Gegenwart zu verschaffen suchen, ihr "sehepunckt" (Chladenius).

Die "sehepunckte" der Leserin heute aber können und sollen variieren. Dessen war Johnson, der sehr souverän über seine erzählerischen Mittel verfügte, gewiss. Er schrieb aus dem Tag heraus, nicht für ihn, und er durfte mit Lesern rechnen, für die das, wovon er erzählte, schon lange vergangen sein würde. Wer heute, nach einem halben Jahrhundert, zu den "Jahrestagen" greift, begegnet trotzdem nicht einer völlig entlegenen Welt. Darum ist ihre Lektüre auch ein Versuch herauszufinden, inwiefern uns nicht fremd ist, was schon so lange zurückliegt und sich durch Zeitung und Tagebuch an seine Zeit gebunden hatte. Schon nach wenigen Einträgen weiß die heutige Leserin: Der Roman legt immer wieder Fährten aus, gibt Hinweise, ohne sie zu Ende zu führen, verlangt detektivische Aufmerksamkeit und ist zugleich ein ästhetischer Genuss durch den Erinnerungsstrom, den er auslöst. Zeit und Zeitung haben sich in keinem Roman der Literaturgeschichte so folgenreich berührt wie in diesem.

BIRTE FÖRSTER.

Die Autorin, Historikerin in Darmstadt, wird sich von heute an in ihrem Blog "Die Woche mit Frau Cresspahl" auf faz.net/jahrestage jeden Samstag auf die Wege der "Jahrestage" Uwe Johnsons begeben.

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