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Jahrhundertwende in Berlin, London, Wien, Paris, Petersburg - Aufbruch in ein neues Zeitalter oder drohender Niedergang? Franz Herre erzählt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, das zugleich ein neues Jahrtausend einläutet, wie die Zeitgenossen die Wende zum 20. Jahrhundert erlebten.

Produktbeschreibung
Jahrhundertwende in Berlin, London, Wien, Paris, Petersburg - Aufbruch in ein neues Zeitalter oder drohender Niedergang? Franz Herre erzählt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, das zugleich ein neues Jahrtausend einläutet, wie die Zeitgenossen die Wende zum 20. Jahrhundert erlebten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.1999

Now we know
How many holes it takes to fill the Albert Hall

Franz Herre: Jahrhundertwende 1900. Untergangsstimmung und Fortschrittsglauben. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998. 288 Seiten, 44,- Mark.

Der Wunsch, zum bevorstehenden Millennium mit einer Besonderheit präsent zu sein, dürfte die meisten Buchverlage beschäftigt haben. Für die Deutsche Verlags-Anstalt fügte es sich günstig, dass hier ein Plan, ein Thema und ein Autor passend zusammentrafen. Welcher Leser dann dazu passt, ist eine andere Frage. Franz Herre, nahmhafter Biograph kaiserlicher Habsburger und Hohenzollern, auch des Prinzen Eugen, Metternichs und Moltkes, hat diesmal vom Personen- zum Stadtporträt gewechselt. Sein Buch unternimmt eine Besichtigung der europäischen Hauptstädte Berlin, London, Paris, Wien und St. Petersburg zur vorigen Jahrhundertwende.

Dem Zeitgeist und dem Genius Loci zugeordnet, schildert Herre die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und technisch-zivilisatorischen Verhältnisse in den Metropolen der Großmächte, wobei er jedes der fünf Kapitel als Kurve anlegt, beginnend im fortschrittsgläubigen Aufschwung und endend mit einem Textbeispiel kulturpessimistischer Untergangsvision (Nietzsche, H.G. Wells, Marcel Proust, Karl Kraus, Nikolai Berdjajew). - Die Anfänge: Bejubelte Militärparade Unter den Linden - Empire-Überschwang beim sechzigjährigen Regierungsjubiläum der Queen Viktoria - Triumphale Weltausstellung in Paris - "Ringstraßenglück" und Walzerseligkeit in Wien - Zarenkrönung im Kreml, die allerdings unheilvoll endet, weil beim Volksfest im Gedränge um Freikost und Freibier über tausend Menschen in die Gräben eines riesigen Exerzierplatzes stürzen und totgetrampelt werden.

Alle treten auf.

Zwischen Großmachtgefüge und Zerfallsprozess, zwischen Hybris und Kassandraruf schlägt das europäische Pendel immer heftiger aus. Die Staaten paktieren, und sie bedrohen einander in wechselnder Formation. Spürbar und greifbar wird das bei Herre erst zuletzt, im Epilog, den er der internationalen Friedensbewegung und den beiden mehr oder weniger scheinheilig absolvierten Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 widmet; bis 1914 vom britischen Außenminister Edward Grey der berühmte Satz gesagt wird: "In ganz Europa gehen die Lichter aus . . ." Zuvor liest man die Darstellung ziemlich enttäuscht und fragt sich, wer oder was diesem kenntnisreichen Buch eigentlich fehlt.

Es treten doch alle auf: vom Kaiser Franz Joseph bis Oscar Wilde, von Cecil Rhodes bis Richard Strauss, von Toulouse-Lautrec bis Rasputin. Es kommt doch alles vor: Kaiser Wilhelms Flottenpolitik und die "Rinnsteinkunst", der Burenkrieg und die Gründung der Labour Party, die Affäre Dreyfus und Frankreichs Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat, der Panslawismus und das "stadtsozialistische" Reformwerk des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, der Petersburger "Blutsonntag" vom Januar 1905 und Tolstois Erlösungslehre von der Nächstenliebe. Weniges ist im Einzelnen einzuwenden. Vielleicht, dass Alfred Kerr dazugehört hätte, wenn ausführlich von Gerhart Hauptmann und dem Berliner Bühnen-Naturalismus die Rede ist; vielleicht, dass Disraeli nicht nur "Imperialist" war, sondern auch ein bedeutender innenpolitischer Reformer, und ganz sicher dies: Es mag nicht falsch sein, London und Petersburg jeweils als "Reichshauptstadt" zu bezeichnen, einen Mangel an sprachlicher Sensibilität verrät es auf jeden Fall.

Insgesamt jedoch mangelt es dem Buch an jener erzählerischen Dynamik, die durch Neugier entsteht. Neugier - ein Ur-Impuls der Geschichtsschreibung, ganz gleich, ob einer eigene Forschung oder bereits Erforschtes präsentiert. Hat sich Franz Herre die Ranke-Frage gestellt? Will er wissen, "wie es eigentlich gewesen"? Ach nein, er weiß ja schon alles. Sogar, wie lang, hoch und breit das Londoner Parlamentsgebäude ist, wie viele Orgelpfeifen es in der Royal Albert Hall gibt und wie viele Hektar feudalen Grundbesitz in ganz England, wer in der Westminster Abbey und wer in der St.-Pauls-Kathedrale einen Grab- oder Gedenkstein hat, wie viele elektrische Bogenlampen Paris besitzt und wie viel Millionen Kilogramm Fleisch und Fisch jährlich in den Markthallen verkauft werden. Erdkundebuch oder Reiseführer? Der Charme des Originals liegt da eindeutig bei Baedeker, den es um 1900 längst auch schon gab.

Besonders bieder wirkt Herres Text in den Anekdoten und Pikanterien. Ob die verwitwete Queen vielleicht doch nicht so prüde gelebt hat, wie das nach ihr benannte viktorianische Zeitalter vermuten lässt? Und dann Paris - der Cancan, das "Moulin Rouge", die "Folies Bergère": ". . . zum Vergnügen nicht allein der Pariser, sondern auch der Deutschen, die für Augenblicke das traute Heim und die züchtige Hausfrau hinter sich gelassen und sich in das Babel des Pläsiers hineingewagt haben."

Stadteinwärts.

Dem Leser erscheint es, und das ist ganz und gar nicht voyeuristisch gemeint, als ob die Fenster in den Metropolen nur stadteinwärts geöffnet wären (London betreffend, allerdings auch stadteinwärts ins Empire) - kaum einsehbar aus der Nachbarschaft. Spärlich sind die Zeitzeugnisse aus dem Ausland, selten der Blick über den Grenzzaun. Die erwähnten Wahl-Pariser, wie Chagall, Picasso, Le Corbusier oder Gertrude Stein, die zeitweise Exilierten und Emigrierten, wie Zola in England, Trotzki in Wien, Lenin in Genf, haben jedenfalls gewusst, wo die Freiheit begrenzt und die Freizügigkeit fast unbegrenzt war.

In Herres Darstellung vermisst man (trotz demokratischer Messlatte) die Dimension des Blicks von heute auf ein Jahrhundert, an dessen Beginn Passzwang unbekannt war, in dessen Mitte für Hunderttausende das Überleben vom Pass abhing und an dessen Ende Pässe entbehrlich werden auf diesem nun touristisch durchgepflügten, administrativ zusammengenieteten Kontinent. Man vermisst ebenso unsere Blickerfahrung auf gebaute, zerstörte und wieder aufgebaute Avenuen, Prospekte und Boulevards. Mit solchen Sichtschneisen zwischen die Zeilen gelegt, hätte das Buch über Europa vielleicht ein europäisches Buch werden können.

CORONA HEPP

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