Benjamin Ferencz - Der Mann, der SS-Generäle jagte, Opfer entschädigte und für den Weltfrieden kämpft
Es war ein Sensationsfund: Der Jurist Ben Ferencz entdeckte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ordner mit minutiös aufbereiteten SS-Ereignismeldungen - eine Chronik des Massenmords. Der daraus folgende Einsatzgruppenprozess in Nürnberg, in dem Ben Ferencz mit gerade einmal 27 als Chefankläger auftrat, gilt als größter Mordprozess der Geschichte. Auch später prägte er wichtige Etappen der Zeitgeschichte an vorderster Front, von der Wiedergutmachungspolitik der BRD bis zum Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Philipp Gut hat Gespräche mit Ben Ferencz geführt und lässt anhand der Biografie dieses faszinierenden Jahrhundertzeugen die Geschichte des 20. Jahrhunderts lebendig werden.
»Der Portraitierte äußerte gegenüber seinem Biographen die Ho nung, dass dieses Buch die Leser 'informieren, unterhalten und inspirieren' wird. Das tut es auf jeden Fall. Benjamin Ferencz ist ein Vorbild.« br.de
Basierend auf persönlichen Gesprächen mit Ben Ferencz
Es war ein Sensationsfund: Der Jurist Ben Ferencz entdeckte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ordner mit minutiös aufbereiteten SS-Ereignismeldungen - eine Chronik des Massenmords. Der daraus folgende Einsatzgruppenprozess in Nürnberg, in dem Ben Ferencz mit gerade einmal 27 als Chefankläger auftrat, gilt als größter Mordprozess der Geschichte. Auch später prägte er wichtige Etappen der Zeitgeschichte an vorderster Front, von der Wiedergutmachungspolitik der BRD bis zum Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Philipp Gut hat Gespräche mit Ben Ferencz geführt und lässt anhand der Biografie dieses faszinierenden Jahrhundertzeugen die Geschichte des 20. Jahrhunderts lebendig werden.
»Der Portraitierte äußerte gegenüber seinem Biographen die Ho nung, dass dieses Buch die Leser 'informieren, unterhalten und inspirieren' wird. Das tut es auf jeden Fall. Benjamin Ferencz ist ein Vorbild.« br.de
Basierend auf persönlichen Gesprächen mit Ben Ferencz
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2020Anwalt
der Ermordeten
Philipp Gut porträtiert Ben Ferencz, der 1946
die SS-Einsatzgruppen vor Gericht brachte
VON KNUD VON HARBOU
Wenn jetzt der Gerichtssaal 600 im Nürnberger Justizpalast, bekannt als Ort des NS-Hauptkriegsverbrecherprozesses 1945, nur noch als Museum fungiert, fehlt darin bislang ein Stück Erinnerung. Denn hier trat in einem der Nachfolgeprozesse gegen die SS-Einsatzgruppen als Chefankläger Ben Ferencz auf. Dieser damals erst 27-jährige Jurist sollte hier wie auch später bei der Abwicklung der Restitution geraubten jüdischen Vermögens, bei Schadensersatzforderungen von Zwangsarbeitern gegen die deutsche Industrie, der Wiedergutmachung an Israel, Rechtsgeschichte schreiben. Hierzulande ist Ferencz, der gerade 100 Jahre alt geworden ist, weitgehend unbekannt. Dem wollte der Schweizer Journalist und Buchautor Philipp Gut abhelfen.
Zuvor hatte Ferencz in seinen „Benny Stories“ im Internet in Form von Tagebüchern Auskunft über sein Leben gegeben, der Autor ergänzte das durch Interviews. Im März 1920 im damals noch ungarischen Siebenbürgen geboren, wuchs Ferencz nach Emigration seiner Familie in ärmlichsten Verhältnissen in New York auf. Und fiel schon auf der Schule auf, mühelos schlossen sich diverse Abschlüsse als Sozialwissenschaftler und als Jurist an der Harvard Law School an. Dort arbeitete er einem Professor zu, der bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt über NS-Kriegsverbrechen forschte und damit einen Themenschwerpunkt setzte, dem sich Ferencz Zeit seines Lebens verpflichtet fühlte.
Wohl nicht zufällig beorderte ihn das Armee-Hauptquartier, in deren Nachhut er die Invasion in der Normandie erlebte, in die juristische Abteilung. Schon Ende 1943 planten die Alliierten, deutsche Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Im Januar 1944 nahm die United Nations War Crimes Commission ihre Arbeit auf, unter ihrem Schirm entstand die Judge Advocate Section der 3. US-Armee. „Obwohl wir Beweise für Millionen von Morden haben, ist bislang keine einzige Person verurteilt worden“, beklagte Ferencz. Er hatte freie Hand, wo auch immer Kriegsverbrecher aufzuspüren. Zunächst gelang ihm das bei Tatbeteiligten der Lynchjustiz an alliierten Piloten, nach Befreiung der KZ sicherte er sofort Beweise für die Massenmorde. Sehr plastisch wird das absolute Grauen vor Augen geführt, dem sich das Ermittlungsteam gegenübersah. General Patton weigerte sich, ein solches Lager überhaupt zu betreten. Man ahnt die schier gigantische Anforderung, diese Verbrechen inmitten eines unbeschreiblichen Chaos gerichtsverwertbar zu strukturieren. Ferencz wurde nur von vier Soldaten ohne sonstige Hilfsmittel begleitet.
Gewiss, viele Berichte über die Befreiung der KZ kennen wir, nicht aber die Anordnung, ohne Ausrüstung schnellstmöglich Beweise zu finden. Schließlich waren die Nürnberger Prozesse schon für November 1945 terminiert. Wohl auch um die Authentizität seiner Tagebücher zu unterstreichen, greift der Autor Episoden von Ferencz auf, wie er in einem Hotel der halbnackten Marlene Dietrich begegnete oder in Flossenbürg im Bett des letzten Lagerkommandanten schlief. Dem Leser wäre mehr an den Umständen der Beweissicherung gelegen, statt an solchen Anekdoten. Bei seiner Recherche tauchte er an allen Orten auf, die in den Nürnberger Prozessen eine Rolle spielen sollten, einschließlich der Deponien des Kunstraubs von Göring und Hitler in Schloss Aschbach und in der Salzmine von Altaussee. Ferencz erfüllte nicht nur die Bestimmung des Kontrollratsgesetztes Nr. 10, das die Rechtsgrundlage für die Verfolgung von NS-Verbrechen bildete, sondern seine Ermittlungen bildeten zugleich den zentralen Fokus der Anklageschriften in Nürnberg. Nahezu alle dieser Verbrechen sind mittlerweile von der Forschung gut aufgearbeitet, so ist vieles über die Tathergänge hinreichend bekannt.
Bereits zu Weihnachten 1945 war Ferencz wieder in New York, seine Aufgabe schien gelöst zu sein. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg endete mit dem Urteilsspruch am 1. Oktober 1946. Das Internationale Militärgericht wurde aufgelöst, an seine Stelle traten amerikanische Militärgerichte, die zwischen Dezember 1946 und April 1949 zwölf Nachfolgeprozesse führten. Die US-Ankläger wollten gewissermaßen ein repräsentatives Spektrum von hochrangigen NS-Tätern zur Rechenschaft ziehen. Als Chef der neu geschaffenen Ermittlungsbehörde hatte Telford Taylor erneut Ben Ferencz als Mitarbeiter im Blick. Er war einverstanden, wusste aber nicht, wo anfangen mit der Suche nach Befehlsabläufen, Tatorten der Vernichtung.
Nirgends fand man eine Dokumentation darüber, nur durch Zufall tauchte im Archiv des Auswärtigen Amts eine Kopie über Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen und des Reichssicherheitshauptamts auf. Sie war schlicht überschrieben mit „Ereignismeldung UdSSR“. Akribisch wurde darin jedes Detail festgehalten. Ferencz war der Erste, der mit der Dimension des Massenmords konfrontiert wurde: „… addierte ich die Zahl derer, die ermordet wurden. Als ich eine Million erreichte, hörte ich auf zu zählen“. Er stieg zum Chefankläger des bis dahin umfangreichsten Mordverfahrens der Geschichte auf, zugleich war es sein erster Prozess. Es galt, etwa 3000 Mitglieder der Einsatzgruppen zu überführen, doch aus Platzmangel im Gerichtssaal entschied man sich nur für eine Auswahl von 24 ranghohen Beschuldigten. Unter ihnen die Befehlshaber der vier Einsatzgruppen. Die Anklage stützte sich dabei auf zwei völlig neue völkerrechtliche Straftatbestände, Verbrechen gegen die Menschheit und Genozid. Ihr Gegenstand war allerdings nicht der flüchtigen Bekanntschaft mit einem der juristischen Urheber geschuldet, die Diskussion in der Fachliteratur bestand schon vorher und wird Ferencz nicht entgangen sein.
Unverständlich bleibt die breite Schilderung der Tathergänge, das Massaker von Babyn Jar 1941 nahe Kiew etwa dürfte Lesern dieses Buches hinlänglich bekannt sein. Gleiches gilt für die Argumentation der Verteidigung mit „Putativnotwehr“ und „Putativnotstand“, sind sie doch Gegenstand eines jeden Artikels über die Nürnberger Prozesse. Wohl um den Leser von derlei juristischer Dogmatik zu entlasten, werden Episoden wie ein drohender Flugzeugabsturz eingefügt, was diese Biografie entwertet. Verurteilt wurden letztlich nur 136 Mitglieder der Einsatzgruppen, die 150 Tonnen Gerichtsunterlagen verschwanden in den USA, eine deutsche Ausgabe der Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion sollte bis 2011 auf sich warten lassen.
Kaum bekannt hingegen dürften die großen Verdienste von Ben Ferencz im Zusammenhang mit der Rückerstattung von jüdischen Vermögenswerten sein, die während des Dritten Reichs konfisziert worden waren. Als Generaldirektor der Jewish Restitution Successor Organization war er Dreh- und Angelpunkt der Abwicklungen seitens privater wie nationaler Forderungen. 1956 endete seine Tätigkeit, sie ist bis heute schlecht dokumentiert. Daran ändert auch Philipp Guts Arbeit nichts. Eine Ausnahme bleibt das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel. Wieder in den USA, widmete Ferencz sich als Anwalt etlichen Komplexen wie der Zwangsarbeit bei den I.G. Farben, Krupp, AEG, Siemens, Rheinmetall. Problemstellungen erfährt man hier notgedrungen nur ausschnitthaft. 1970 wechselte er erneut, zusammen mit Telford Taylor setzte er sich vehement für die Anwendung der „Nürnberger-Prinzipien“ in Bezug auf den für ihn illegalen Vietnam-Angriffskrieg ein. Die Erhaltung eines Weltfriedens ist sein Hauptziel, eine Erfüllung bedeutete für ihn die von ihm mitbetriebene Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag 2002.
Der Reiz des Buches liegt im Zugang zu nachgezeichnetem autobiografischem Erleben von Ben Ferencz, nicht im Ablauf mehr oder weniger doch bekannter Fakten. Auf jeden Fall ist es gelungen, diese außergewöhnliche Persönlichkeit ins Rampenlicht zu holen, einen ähnlichen Zeugen tiefster historischer Einschnitte, faktisch und juristisch, dürfte es nicht mehr geben.
Ferencz, heute 100 Jahre alt,
sicherte als Soldat Beweise
in den gerade befreiten KZ
Wenig bekannt ist sein Verdienst
bei der Rückerstattung
von jüdischem Vermögen
Philipp Gut:
Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für die Gerechtigkeit.
Piper Verlag,
München 2020.
352 Seiten, 24 Euro.
„… addierte ich die Zahl derer, die ermordet wurden.
Als ich eine Million erreichte, hörte ich auf zu zählen.“ Ben Ferencz auf einem
undatierten Foto in einem US-Jeep. Foto: Ben Ferencz / picture alliance /dpa
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der Ermordeten
Philipp Gut porträtiert Ben Ferencz, der 1946
die SS-Einsatzgruppen vor Gericht brachte
VON KNUD VON HARBOU
Wenn jetzt der Gerichtssaal 600 im Nürnberger Justizpalast, bekannt als Ort des NS-Hauptkriegsverbrecherprozesses 1945, nur noch als Museum fungiert, fehlt darin bislang ein Stück Erinnerung. Denn hier trat in einem der Nachfolgeprozesse gegen die SS-Einsatzgruppen als Chefankläger Ben Ferencz auf. Dieser damals erst 27-jährige Jurist sollte hier wie auch später bei der Abwicklung der Restitution geraubten jüdischen Vermögens, bei Schadensersatzforderungen von Zwangsarbeitern gegen die deutsche Industrie, der Wiedergutmachung an Israel, Rechtsgeschichte schreiben. Hierzulande ist Ferencz, der gerade 100 Jahre alt geworden ist, weitgehend unbekannt. Dem wollte der Schweizer Journalist und Buchautor Philipp Gut abhelfen.
Zuvor hatte Ferencz in seinen „Benny Stories“ im Internet in Form von Tagebüchern Auskunft über sein Leben gegeben, der Autor ergänzte das durch Interviews. Im März 1920 im damals noch ungarischen Siebenbürgen geboren, wuchs Ferencz nach Emigration seiner Familie in ärmlichsten Verhältnissen in New York auf. Und fiel schon auf der Schule auf, mühelos schlossen sich diverse Abschlüsse als Sozialwissenschaftler und als Jurist an der Harvard Law School an. Dort arbeitete er einem Professor zu, der bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt über NS-Kriegsverbrechen forschte und damit einen Themenschwerpunkt setzte, dem sich Ferencz Zeit seines Lebens verpflichtet fühlte.
Wohl nicht zufällig beorderte ihn das Armee-Hauptquartier, in deren Nachhut er die Invasion in der Normandie erlebte, in die juristische Abteilung. Schon Ende 1943 planten die Alliierten, deutsche Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Im Januar 1944 nahm die United Nations War Crimes Commission ihre Arbeit auf, unter ihrem Schirm entstand die Judge Advocate Section der 3. US-Armee. „Obwohl wir Beweise für Millionen von Morden haben, ist bislang keine einzige Person verurteilt worden“, beklagte Ferencz. Er hatte freie Hand, wo auch immer Kriegsverbrecher aufzuspüren. Zunächst gelang ihm das bei Tatbeteiligten der Lynchjustiz an alliierten Piloten, nach Befreiung der KZ sicherte er sofort Beweise für die Massenmorde. Sehr plastisch wird das absolute Grauen vor Augen geführt, dem sich das Ermittlungsteam gegenübersah. General Patton weigerte sich, ein solches Lager überhaupt zu betreten. Man ahnt die schier gigantische Anforderung, diese Verbrechen inmitten eines unbeschreiblichen Chaos gerichtsverwertbar zu strukturieren. Ferencz wurde nur von vier Soldaten ohne sonstige Hilfsmittel begleitet.
Gewiss, viele Berichte über die Befreiung der KZ kennen wir, nicht aber die Anordnung, ohne Ausrüstung schnellstmöglich Beweise zu finden. Schließlich waren die Nürnberger Prozesse schon für November 1945 terminiert. Wohl auch um die Authentizität seiner Tagebücher zu unterstreichen, greift der Autor Episoden von Ferencz auf, wie er in einem Hotel der halbnackten Marlene Dietrich begegnete oder in Flossenbürg im Bett des letzten Lagerkommandanten schlief. Dem Leser wäre mehr an den Umständen der Beweissicherung gelegen, statt an solchen Anekdoten. Bei seiner Recherche tauchte er an allen Orten auf, die in den Nürnberger Prozessen eine Rolle spielen sollten, einschließlich der Deponien des Kunstraubs von Göring und Hitler in Schloss Aschbach und in der Salzmine von Altaussee. Ferencz erfüllte nicht nur die Bestimmung des Kontrollratsgesetztes Nr. 10, das die Rechtsgrundlage für die Verfolgung von NS-Verbrechen bildete, sondern seine Ermittlungen bildeten zugleich den zentralen Fokus der Anklageschriften in Nürnberg. Nahezu alle dieser Verbrechen sind mittlerweile von der Forschung gut aufgearbeitet, so ist vieles über die Tathergänge hinreichend bekannt.
Bereits zu Weihnachten 1945 war Ferencz wieder in New York, seine Aufgabe schien gelöst zu sein. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg endete mit dem Urteilsspruch am 1. Oktober 1946. Das Internationale Militärgericht wurde aufgelöst, an seine Stelle traten amerikanische Militärgerichte, die zwischen Dezember 1946 und April 1949 zwölf Nachfolgeprozesse führten. Die US-Ankläger wollten gewissermaßen ein repräsentatives Spektrum von hochrangigen NS-Tätern zur Rechenschaft ziehen. Als Chef der neu geschaffenen Ermittlungsbehörde hatte Telford Taylor erneut Ben Ferencz als Mitarbeiter im Blick. Er war einverstanden, wusste aber nicht, wo anfangen mit der Suche nach Befehlsabläufen, Tatorten der Vernichtung.
Nirgends fand man eine Dokumentation darüber, nur durch Zufall tauchte im Archiv des Auswärtigen Amts eine Kopie über Mordaktionen der SS-Einsatzgruppen und des Reichssicherheitshauptamts auf. Sie war schlicht überschrieben mit „Ereignismeldung UdSSR“. Akribisch wurde darin jedes Detail festgehalten. Ferencz war der Erste, der mit der Dimension des Massenmords konfrontiert wurde: „… addierte ich die Zahl derer, die ermordet wurden. Als ich eine Million erreichte, hörte ich auf zu zählen“. Er stieg zum Chefankläger des bis dahin umfangreichsten Mordverfahrens der Geschichte auf, zugleich war es sein erster Prozess. Es galt, etwa 3000 Mitglieder der Einsatzgruppen zu überführen, doch aus Platzmangel im Gerichtssaal entschied man sich nur für eine Auswahl von 24 ranghohen Beschuldigten. Unter ihnen die Befehlshaber der vier Einsatzgruppen. Die Anklage stützte sich dabei auf zwei völlig neue völkerrechtliche Straftatbestände, Verbrechen gegen die Menschheit und Genozid. Ihr Gegenstand war allerdings nicht der flüchtigen Bekanntschaft mit einem der juristischen Urheber geschuldet, die Diskussion in der Fachliteratur bestand schon vorher und wird Ferencz nicht entgangen sein.
Unverständlich bleibt die breite Schilderung der Tathergänge, das Massaker von Babyn Jar 1941 nahe Kiew etwa dürfte Lesern dieses Buches hinlänglich bekannt sein. Gleiches gilt für die Argumentation der Verteidigung mit „Putativnotwehr“ und „Putativnotstand“, sind sie doch Gegenstand eines jeden Artikels über die Nürnberger Prozesse. Wohl um den Leser von derlei juristischer Dogmatik zu entlasten, werden Episoden wie ein drohender Flugzeugabsturz eingefügt, was diese Biografie entwertet. Verurteilt wurden letztlich nur 136 Mitglieder der Einsatzgruppen, die 150 Tonnen Gerichtsunterlagen verschwanden in den USA, eine deutsche Ausgabe der Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion sollte bis 2011 auf sich warten lassen.
Kaum bekannt hingegen dürften die großen Verdienste von Ben Ferencz im Zusammenhang mit der Rückerstattung von jüdischen Vermögenswerten sein, die während des Dritten Reichs konfisziert worden waren. Als Generaldirektor der Jewish Restitution Successor Organization war er Dreh- und Angelpunkt der Abwicklungen seitens privater wie nationaler Forderungen. 1956 endete seine Tätigkeit, sie ist bis heute schlecht dokumentiert. Daran ändert auch Philipp Guts Arbeit nichts. Eine Ausnahme bleibt das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel. Wieder in den USA, widmete Ferencz sich als Anwalt etlichen Komplexen wie der Zwangsarbeit bei den I.G. Farben, Krupp, AEG, Siemens, Rheinmetall. Problemstellungen erfährt man hier notgedrungen nur ausschnitthaft. 1970 wechselte er erneut, zusammen mit Telford Taylor setzte er sich vehement für die Anwendung der „Nürnberger-Prinzipien“ in Bezug auf den für ihn illegalen Vietnam-Angriffskrieg ein. Die Erhaltung eines Weltfriedens ist sein Hauptziel, eine Erfüllung bedeutete für ihn die von ihm mitbetriebene Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag 2002.
Der Reiz des Buches liegt im Zugang zu nachgezeichnetem autobiografischem Erleben von Ben Ferencz, nicht im Ablauf mehr oder weniger doch bekannter Fakten. Auf jeden Fall ist es gelungen, diese außergewöhnliche Persönlichkeit ins Rampenlicht zu holen, einen ähnlichen Zeugen tiefster historischer Einschnitte, faktisch und juristisch, dürfte es nicht mehr geben.
Ferencz, heute 100 Jahre alt,
sicherte als Soldat Beweise
in den gerade befreiten KZ
Wenig bekannt ist sein Verdienst
bei der Rückerstattung
von jüdischem Vermögen
Philipp Gut:
Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für die Gerechtigkeit.
Piper Verlag,
München 2020.
352 Seiten, 24 Euro.
„… addierte ich die Zahl derer, die ermordet wurden.
Als ich eine Million erreichte, hörte ich auf zu zählen.“ Ben Ferencz auf einem
undatierten Foto in einem US-Jeep. Foto: Ben Ferencz / picture alliance /dpa
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»Dieses Buch über einen Helden der Gerechtigkeit, der so gut wie alles im blutigsten aller Jahrhunderte gesehen hat, ist eine ebenso aufrüttelnde wie spannende Geschichtsstunde, die auch heute ins Mark trifft.« Der Tagesspiegel 20200313