Jakob von Gunten ist der dritte, meistdiskutierte und avantgardistischste Roman Walsers. Er schrieb ihn 1908 in Berlin. Drei Jahre zuvor hatte der Autor eine Dienerschule besucht, deren eigentümliches Milieu er auf das im Roman dargestellte Knabeninstitut Benjamenta übertragen hat. Jakob von Gunten war Robert Walser der liebste unter seinen Romanen. Walter Benjamin nannte dieses Tagebuch eines Internatszöglings »eine ganz ungewöhnliche zarte Geschichte, in der die reine und rege Stimmung des genesenden Lebens liegt«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.03.2008Märchenhaft verdrehte Welt
Robert Walser: „Jakob von Gunten”
Es ist die alte Geschichte, vieltausendfach erzählt. Ein Knabe verlässt Vater und Mutter – und zieht in die Fremde. Es ist aber auch eine Geschichte, wie sie noch keiner erzählt hat. Denn Jakob von Gunten geht nicht in die weite Welt hinaus, sondern ins Innere einer höchst merkwürdigen Anstalt. Er will nicht das Fürchten lernen, sondern das Gehorchen. Er phantasiert nicht über das Märchenthema „Wenn ich König wär”. Wenn er Diener würde, wären alle seine Wünsche erfüllt. Denn die Reichen sind in Wahrheit die Armen, „die Verhungerten”. Also möchte Jakob mit allem Eifer das Gegenteil werden: „ein echtes Gottes-Werk, ein Nichts, ein Diener”.
Das Institut Benjamenta ist eine Schule für Domestiken, doch bald merkt Jakob, dass es zwar Lehrer gibt an dieser Schule, aber dass unergründlich bleibt, was sie überhaupt unterrichten. „Man lernt hier gar nichts”, stellt der Schüler fest, doch das kann seinen Lerneifer nicht bremsen. Er ist nicht unzufrieden mit dieser rätselhaften Schule, an der man nichts lernt, sondern, im Gegenteil, bis zur Benommenheit glücklich. Und er weiß: Das ist jene Art Glück, die von der Verrücktheit nicht weit entfernt ist.
Auf seiner Lebensirrfahrt, die 1956 in einer Schweizer Heilanstalt endete, hat der Dichter Robert Walser immer wieder, wie in stiller Panik, die Wohnorte gewechselt und die Berufe. Er hat auch eine Dienerschule besucht und als Diener gearbeitet, und also ist der Tagebuch-Roman „Jakob von Gunten” (erschienen 1909) gewiss auch ein Erfahrungsbericht. Doch alles Erlebte erscheint hier spukhaft verwandelt: Das Institut Benjamenta gehört, wie Kafkas Schloss und Thomas Manns Zauberberg, zu den wahrhaft verwunschenen, unvergesslichen Orten der deutschen Literatur. Seine Gesetze sind die einer märchenhaft verkehrten und verdrehten Welt, in der die Diener die heimlichen, unheimlichen Herren sind, und das schon Jahrzehnte vor Genet, vor Beckett, vor Bernhard.
Und wie an allen Märchenorten, so weiß man auch im Institut Benjamenta niemals genau, wo der Zauber aufhört und das Grauen anfängt. Denn der Schrecken hat hier keine großen, dramatischen Auftritte, sondern kommt, wie ein Diener, leise durch die Seitentür.
Die seltsamsten Lebewesen in der hochseltsamen Lehranstalt, das sind nicht die Lehrer und auch nicht die Schüler. Das sind die Wörter. „Man irrt sich stets, wenn man große Worte in den Mund nimmt”, schreibt Jakob von Gunten in sein Tagebuch, und das ist ein literarischer Befehl, den der Dichter Walser mit dezenter Perfektion befolgt. Seine Sprache lärmt nicht, dröhnt nicht, macht kein Theater. Die Sätze flüstern, als wollten sie kein Geheimnis unnötig verraten. Die Sätze tänzeln eher, als dass sie fest auftreten würden. Es ist eine Art Zehenspitzenprosa, die Robert Walser schreibt – also fast ein Ebenbild von gekonnter Dienerschaft. In der sich die Meisterschaft listig verbirgt.
BENJAMIN HENRICHS
Robert Walser Foto: SV-Bilderdienst
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Robert Walser: „Jakob von Gunten”
Es ist die alte Geschichte, vieltausendfach erzählt. Ein Knabe verlässt Vater und Mutter – und zieht in die Fremde. Es ist aber auch eine Geschichte, wie sie noch keiner erzählt hat. Denn Jakob von Gunten geht nicht in die weite Welt hinaus, sondern ins Innere einer höchst merkwürdigen Anstalt. Er will nicht das Fürchten lernen, sondern das Gehorchen. Er phantasiert nicht über das Märchenthema „Wenn ich König wär”. Wenn er Diener würde, wären alle seine Wünsche erfüllt. Denn die Reichen sind in Wahrheit die Armen, „die Verhungerten”. Also möchte Jakob mit allem Eifer das Gegenteil werden: „ein echtes Gottes-Werk, ein Nichts, ein Diener”.
Das Institut Benjamenta ist eine Schule für Domestiken, doch bald merkt Jakob, dass es zwar Lehrer gibt an dieser Schule, aber dass unergründlich bleibt, was sie überhaupt unterrichten. „Man lernt hier gar nichts”, stellt der Schüler fest, doch das kann seinen Lerneifer nicht bremsen. Er ist nicht unzufrieden mit dieser rätselhaften Schule, an der man nichts lernt, sondern, im Gegenteil, bis zur Benommenheit glücklich. Und er weiß: Das ist jene Art Glück, die von der Verrücktheit nicht weit entfernt ist.
Auf seiner Lebensirrfahrt, die 1956 in einer Schweizer Heilanstalt endete, hat der Dichter Robert Walser immer wieder, wie in stiller Panik, die Wohnorte gewechselt und die Berufe. Er hat auch eine Dienerschule besucht und als Diener gearbeitet, und also ist der Tagebuch-Roman „Jakob von Gunten” (erschienen 1909) gewiss auch ein Erfahrungsbericht. Doch alles Erlebte erscheint hier spukhaft verwandelt: Das Institut Benjamenta gehört, wie Kafkas Schloss und Thomas Manns Zauberberg, zu den wahrhaft verwunschenen, unvergesslichen Orten der deutschen Literatur. Seine Gesetze sind die einer märchenhaft verkehrten und verdrehten Welt, in der die Diener die heimlichen, unheimlichen Herren sind, und das schon Jahrzehnte vor Genet, vor Beckett, vor Bernhard.
Und wie an allen Märchenorten, so weiß man auch im Institut Benjamenta niemals genau, wo der Zauber aufhört und das Grauen anfängt. Denn der Schrecken hat hier keine großen, dramatischen Auftritte, sondern kommt, wie ein Diener, leise durch die Seitentür.
Die seltsamsten Lebewesen in der hochseltsamen Lehranstalt, das sind nicht die Lehrer und auch nicht die Schüler. Das sind die Wörter. „Man irrt sich stets, wenn man große Worte in den Mund nimmt”, schreibt Jakob von Gunten in sein Tagebuch, und das ist ein literarischer Befehl, den der Dichter Walser mit dezenter Perfektion befolgt. Seine Sprache lärmt nicht, dröhnt nicht, macht kein Theater. Die Sätze flüstern, als wollten sie kein Geheimnis unnötig verraten. Die Sätze tänzeln eher, als dass sie fest auftreten würden. Es ist eine Art Zehenspitzenprosa, die Robert Walser schreibt – also fast ein Ebenbild von gekonnter Dienerschaft. In der sich die Meisterschaft listig verbirgt.
BENJAMIN HENRICHS
Robert Walser Foto: SV-Bilderdienst
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»Das Buch, von den Herausgebern Peter Utz und Karl Wagner in der Berner Ausgabe mit Anmerkungen, Kommentaren und Abbildungen versehen, ist vielleicht noch immer der beste Einstieg in die skurrile Welt dieses einzigartigen Autors.« Klaus Bellin neues deutschland 20221018