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Nach der Revolution ziehen Jakow und Marussja mit ihrer kleinen Familie nach Moskau. Während Marussja der neuen Regierung vertraut, erkennt Jakow bald die Missstände. Unter Stalin wird er nach Sibirien verbannt. Seine Frau lässt sich scheiden, auch der Sohn wendet sich von ihm ab, und seine Enkelin Nora sieht er nur einmal als Kind. Sie, die ein bewegtes Leben führen wird - Bühnenbildnerin, alleinerziehend, georgische Liebschaft - lernt ihren Großvater erst aus seinen Liebesbriefen an die Großmutter kennen. Angeregt durch den Briefwechsel ihrer eigenen Großeltern hat Ljudmila Ulitzkaja einen…mehr

Produktbeschreibung
Nach der Revolution ziehen Jakow und Marussja mit ihrer kleinen Familie nach Moskau. Während Marussja der neuen Regierung vertraut, erkennt Jakow bald die Missstände. Unter Stalin wird er nach Sibirien verbannt. Seine Frau lässt sich scheiden, auch der Sohn wendet sich von ihm ab, und seine Enkelin Nora sieht er nur einmal als Kind. Sie, die ein bewegtes Leben führen wird - Bühnenbildnerin, alleinerziehend, georgische Liebschaft - lernt ihren Großvater erst aus seinen Liebesbriefen an die Großmutter kennen. Angeregt durch den Briefwechsel ihrer eigenen Großeltern hat Ljudmila Ulitzkaja einen Roman geschrieben, der die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert aus unmittelbarer Nähe erzählt.
Autorenporträt
Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2020 den Siegfried Lenz Preis sowie 2023 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und den Günter-Grass-Preis.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Es ist nicht das Leben, von dem sie geträumt haben. Marussja, Jakow, ihr Sohn Genrich, dessen Tochter Nora und die anderen haben Träume. Jedoch können sie nur Bruchteile davon verwirklichen; ein herbeigesehntes Familienleben findet kaum statt. Die Erzählung beginnt mit dem Tod von Noras Großmutter Marussja und endet an dem Punkt, an dem Nora Briefe ihrer Großeltern zum ersten Mal liest. Ljudmila Ulitzkaja hat einen Briefwechsel ihrer eigenen Großeltern zu einem Roman vor dem Hintergrund russischer und sowjetischer Geschichte verarbeitet. Sie wechselt Briefe mit Erzählung ab und geht dabei nicht chronologisch vor. Anhand der fiktiven Familiengeschichte entsteht eine Jakobsleiter, die die Autorin selbst als Leiter der Erkenntnis beschreibt. Die jüdische, sowjetische sowie russische Kultur spielen in der Sinnsuche der Protagonisten ebenso eine Rolle wie wechselnde Ideologien und Staatsdoktrin. Jakow wird etwa mehrfach verbannt und für viele Jahre von Frau und Kind getrennt. Die anfangs häufigen und innigen Briefe werden seltener, nüchterner. Briefmarken, so Jakow, halten keine Ehe zusammen. Ulitzkajas Blick für die kleinen Dinge macht die großen angesprochenen Themen aus der Nähe erfahrbar. Eine Familien- und Landesgeschichte, die unmittelbar zum Nachdenken anregt.

© BÜCHERmagazin, Melanie Schippling

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017

Das
falsche
Leben
Die russische Schriftstellerin
Ludmilja Ulitzkaja nennt ihre
Familiengeschichte eine „Jakobsleiter“.
Doch sie ist eine reichlich
wackelige Angelegenheit
VON HANS-PETER KUNISCH
Der neue Roman von Ludmilja Ulitzkaja ist eine Familiengeschichte. Sie beginnt mit einem Idyll: mit der nicht ganz einfachen, aber von einer redseligen Bilderbuch-Hebamme in die Wege geleiteten Geburt eines jungen Moskauers in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Jurik wird der einzige Sohn der Ich-Erzählerin Nora bleiben. Ungefähr zu selben Zeit stirbt ihre Großmutter Marussja, zu der sie den Kontakt verloren hat. In Marussjas Nachlass findet Nora leidenschaftliche Briefe ihres Großvaters Jakow Ossetzki an seine Frau. Am Ende des Buches aber ist klar, dass ausgerechnet Marussja für das in mehrfacher Hinsicht katastrophale Schicksal Jakows verantwortlich war. Marussja und beider Sohn Genrich hatten Jakow verraten. Sie hatten mit dafür gesorgt, dass er viele Jahre in Stalins Verbannung und Lagern zubringen musste.
Im Jahr 2015 erschien in Deutschland „Die Kehrseite des Himmels“, eine Reihe von essayistisch-autobiografischen Erzählungen, in denen Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren und in Moskau aufgewachsen, schon von Jakow Ulitzki, Marussja und anderen realen Familienmitgliedern erzählt. Lange hatte Ulitzkaja den Brief- und Tagebuch-Fund im Nachlass der Großmutter nicht angerührt; auch aus Furcht, Ungemütliches zu erfahren. Erst kurz vor der Geburt des eigenen Enkels wagte sie, die Schriftten zu lesen. Der Enkel konnte daraufhin keinen anderen Namen erhalten als Jakob. Und der Großvater wurde nun zur Hauptfigur des weitgehend autobiografischen Familienromans „Jakobsleiter“.
Die biblische Leiter, die der Patriarch Jakob in der Bibel erblickt, reicht vom Himmel bis zur Erde. Bei Ulitzkaja steht sie für eine Verbindung der Generationen, die alles andere als sicher ist. Der Titel wirkt deshalb wie eine Beschwörung. Dabei hatte das Zusammenkommen von Marussja Kerns und Jakow Ossetzki, den genealogischen Gründergestalten des Romans, stilvoll begonnen: an der Wende zum 20. Jahrhundert, als das Kiewer Judentum noch weitgehend ungestört leben konnte. Das Pogrom von 1905 war eine erste, mörderische Erinnerung an das notorisch ungewisse Schicksal. Doch noch konnte Jakow Ossetzki, Sohn eines vermögenden Getreidehändlers, unbeeinträchtigt Ökonomie studieren und sich nebenbei dem Klavierspiel und verschiedenen europäischen Sprachen intensiv zu widmen. Karl Marx zum Beispiel, lernte Jakow früh, wurde von seinen russischen Übersetzern geradezu versteckt.
In einem Rachmaninow-Konzert erblickt dieser junge Mann Marussja Kerns, die kapriziöse Tochter eines ebenfalls jüdischen, aus dem schweizerischen La Chaux-de-Fonds eingewanderten Uhrmachers. Finanziell sind die Kerns schlechter gestellt, aber nach einer Zufallsbekanntschaft mit einer fröbelianischen Reformpädagogin kann Marussja Tanz studieren.
Gleich anfangs changiert Ulitzkaja munter zwischen historischen Zeiten und gesellschaftlichen Ebenen. Noras Leben als Bühnenbildnerin in den Siebziger Jahre, mitsamt mit georgischem Geliebten, hat wenig mit den Tagebüchern des Jakow Ossetzki gemein, Noras Schulzeit in den Fünfziger und Sechziger Jahren wenig mit der Welt ihrer Großmutter um 1910. Und nicht immer greift die wohl beabsichtigte Kontrastwirkung. Manchmal ergibt sich eher der Eindruck, sich in einem noch nicht fein genug abgestimmten, stilistischen wie thematischen Nebeneinander zu bewegen. Gerade im eröffnenden Hebammen-Kapitel gibt es eine Menge ordentlich übersetzter Floskeln, die auf einen altmodischen Schmöker gefasst machen.
Die Fährte ist jedoch falsch. Je länger die Erzählung fortgeht, desto eindringlicher widmet sich Ulitzkaja dem Leben ihrer Protagonisten. Spätestens wenn Jakow Ossetzkis Briefe aus Verbannung und Lagerleben präsentiert werden, gewinnt der Roman eine Panorama-Qualität, die einer „Great Russian Novel“ würdig wäre.
Auch die anfangs fast vernachlässigt wirkende Dramaturgie entfaltet sich erst nach einiger Zeit. Im letzten Drittel des Romans tut sie es indessen umso mehr. Der sich ständig vergrößernde Konflikt zwischen der parteitreuen, proletarisch-launischen Bohèmienne Marussja und dem untadelig-klug-geduldigen Bildungsbürger Jakow schürt die Spannung auf den Ausgang der Geschichte. Marussja bleibt immer auf ihren Eigennutz bedacht, fühlt sich als in ihrer Wirkung unzulässig eingeschränkte Schönheit, zumal sie älter und reizbarer wird.
Jakow hingegen kann noch aus der sibirischen Verbannung Geld nach Hause schicken, weil er nebenbei als Klavier- und Sprachlehrer arbeitet. Und doch hat er ständig das Gefühl, Marussja und dem Sohn durch seine politische Geradlinigkeit Unrecht angetan zu haben. Eine Empfindung, die die beiden Prinzipienlosen teilen. Geschickt führt Ulitzkaja ihre Leser zur familiengeschichtlich peinigenden Erkenntnis, dass Gattin und Sohn (der also Ulitzkajas Vater war) den Mann verrieten. Als Jakow wieder einmal frei gelassen werden könnte, lässt Marussja, die ihn nie besucht hatte, sich scheiden, ohne dass sie es ihrem Mann je etwas von ihrem Vorsatz mitgeteilt hätte. Nicht einmal das nimmt Jakow ihr übel. Nur in seinem literarisch-philosophischen Anspruch bleibt er unnachgiebig. Entschlossen analytisch zerpflückt er angeblich erhebende Polit-Lektüre, von der Marussja ihm vorschwärmt.
Kompromisslos zeigt Ulitzkaja, was das Sowjetsystem aus Menschen machte, die zu schwach waren, ihm zu widerstehen. Aber denen, die sich wehrten, ging es zumindest nach außen hin noch schlechter. Selbst hochbegabte Sonderlinge wie der Mathematiker Vitja, Juriks Vater, den Nora früh geheiratet hatte, um als Schülerin zu provozieren, schaffen es nicht, an Parteikungeleien vorbei zu leben. Dass es Sohn Jurik nach der Wende gelingt, nach New York zu emigrieren, ist gut für ihn. Doch dort gerät der junge Musiker in Heroin- und andere Abhängigkeiten. Am Ende muss er nach Moskau zurückgebracht werden, schafft es, sich von Drogen zu befreien, heiratet eine andere ehemalige Abhängige, und sein 2011 geborener Sohn setzt die Jakobsleiter fort.
Der Roman ist Ulitzkajas persönlichstes Buch, aber es ist nicht strikt autobiografisch. Indem sie ihr Nora, ihr Alter Ego, zur Bühnenbildnerin macht, gewinnt sie nicht nur die Theaterwelt als Handlungsfeld, sondern auch Distanz. Die Briefe von Jakow, habe sie, erzählte Ulitzkaja in einem Interview, teils im Wortlaut belassen, teils verändert. Für Wahrheits- und Authentizitätssucher ist ein solches Verfahren immer etwas unbefriedigend. Aber auch hier gilt der Satz, den Ulitzkaja ihrem Roman „Daniel Stein“ (2009) voranstellte: „Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit.“
Am Anfang steht ein Fund
von Briefen und Tagebüchern.
Darf man ihn öffnen?
Ob mit Prinzipien oder
ohne: Es kommt immer
Schuld dabei heraus
Ljudmila Ulitzkaja:
Jakobsleiter. Roman.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser-Verlag,
München 2017. 602 Seiten.
26 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Jakobsleiter" erklärt Rezensent Hans-Peter Kunisch, ist einer dieser Romane, in die man sich hineinlesen muss, von deren Beginn man sich nicht täuschen und nicht abschrecken lassen darf, denn Spannung entwickelt sich erst in der zweiten Hälfte des Romans und erst dann versteht man auch, worum es im Kern geht, ermuntert der Rezensent: ein Mann und eine Frau, ein Ehepaar und ihr Konflikt, beide Opfer des Sowjetsystems, wenn auch auf verschiedene Weise: Er ist politisch, ideologisch und philosophisch ein unverrückbarer Intellektueller. Sie ist eine parteihörige, egozentrische "proletarisch-launische Bohèmienne" und Verräterin ihres Ehemanns, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt. Beide haben ihr Vorbild in den Großeltern Ulitzkajas, erfahren wir. Doch im großen Ganzen geht es der Autorin mehr um "literarische Wahrhaftigkeit" als geschichtliche Realität. Ein spannendes, aufschlussreiches und nachdrückliches Buch, das nach und nach eine regelrechte "Panorama-Qualität" entfaltet, so der überzeugte Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2017

Das Flickwerk unseres Lebens
Ljudmila Ulitzkaja macht aus ihrer Familiengeschichte einen Roman über die vergangenen hundert Jahre in Russland

"Manche Leute kaufen sich zerfetzte Jeans, wir flicken sie", sagte Ljudmila Ulitzkaja 2015 in einem Moskauer Radio-Interview. Ihr damals im russischen Original und nun auch auf Deutsch erschienener Roman "Die Jakobsleiter" soll solch ein "Flickwerk" sein. Vor Jahren fand diese Doyenne der russischen Literatur fünfhundert Briefe ihrer Großeltern aus den Jahren 1911 bis 1954. Daraus entstand ein sechshundertseitiges Familienepos, dessen Handlungsstränge hundert Jahre russisch-sowjetischer Geschichte umspannen, kein autobiographischer Roman, wie die Schriftstellerin betont, denn viele Lücken konnten nur mit Fiktion gefüllt werden.

Ähnlich wie Ulitzkaja erbt ihre Protagonistin Nora, eine junge Bühnenbildnerin und Mutter eines wenige Wochen alten Sohnes, im Winter 1975 eine Kiste mit Briefen. Sie gehören zum überaus bescheidenen Nachlass ihrer gerade verstorbenen erzkommunistischen Großmutter Marussja, zu der Nora schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Die Briefe wirken wie Entwicklerflüssigkeit und Fixierbad in der Fotografie: Aus den latenten Bildern, den weißen Flecken der Familie, lösen sich plötzlich Figuren und Schicksale heraus, die vor allem Noras Großvater Jakow Ossetzki betreffen. Hatte Ulitzkaja in ihrem letzten Roman den russischen Achtundsechzigern ein Denkmal gesetzt, so ist dieser Roman der bürgerlichen Intelligenzija der Gründerjahre der Sowjetunion gewidmet.

Jakow und Marussja stammen aus Kiew und erleben als junge Juden die Pogrome und Diskriminierungen in den letzten Jahren des Zarismus. Marussja entkommt dem kleinbürgerlichen Milieu einer Uhrmacherfamilie über eine Ausbildung zur Fröbel-Kindergärtnerin. Sie begeistert sich für Ausdruckstanz und studiert dazu in Moskau. Jakow, der sie in allem unterstützt, wird auf Wunsch des Vaters Wirtschaftswissenschaftler, obwohl seine Leidenschaft der Musik gilt. Es ist eine auch im Sexuellen moderne Form des Miteinanders, getragen von Respekt und Leidenschaft. Die Einführung antijüdischer Quoten an den russischen Universitäten zwingt Jakow, sich den Studienabschluss mit einer zweijährigen Verpflichtung in der zaristischen Armee zu erdienen, die erste ernste Probe ihrer Liebe. Wie viele säkulare Juden begrüßen beide die Revolution und engagieren sich im neuen Staat.

Doch Marussjas Karriere gerät ins Stocken, moderner Tanz gilt bald als dekadent, der 1915 geborene Sohn Genrich erweist sich als schwierig, die Umstände im Bürgerkrieg und der jungen Sowjetunion sind es ohnehin. Anfang der dreißiger Jahre gerät Jakow, der sich als Verwaltungsspezialist in Moskau einen Namen machen konnte, in die Fänge des Regimes. Seine bürgerliche Herkunft tut ihr Übriges. Er wird für mehrere Jahre verbannt. Die Ehe besteht diese Prüfung nicht, kurz vor seiner Entlassung lässt sich Marussja, die ihm nicht in die Verbannung gefolgt war, scheiden. Auch der Kontakt zum herangewachsenen Sohn bricht ab. Als Kind eines "Volksfeindes" muss Genrich den Traum von einer Karriere in der Luftfahrt begraben. Mit kurzen Unterbrechungen verbringt Jakow die Jahre bis zu seinem Tod 1955 in stalinistischen Lagern. Seine letzte Verurteilung 1948 erfolgt im Zusammenhang mit den antisemitischen Prozessen, er hatte für das Jüdische Antifaschistische Komitee Berichte zur Lage im Nahen Osten verfasst.

Ein einziges Mal, 1954, begegnen sich Großvater und Enkelin. Jakow trifft die damals Zehnjährige und seinen Sohn auf der Durchreise aus dem Lager an seinen letzten Wohnort in der Provinz. Für Moskau erhält der einstige GULag-Häftling keine Aufenthaltserlaubnis. Nora, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, bildet den zweiten, den, wenn man so will, zeitgenössischen Erzählstrang. Von ihrer Großmutter nach der unangepassten Heldin Ibsens benannt, heiratet sie ihren Klassenkameraden Vitja, ein autistisches Zahlengenie, mit dem sie nie zusammenlebt, der aber Vater ihres Sohnes Jurik wird. Ihre Liebe gilt dem georgischen Theaterregisseur Tengis, der in Tiflis Familie hat, sich jedoch auch nach der Trennung von seiner Frau nie so ganz für Nora entscheidet. Um sie, bei der aus Liebe Freundschaft und aus Freundschaft Liebe wird, schart sich aber bald eine wachsende globale Patchwork-Familie.

In den Briefen unserer Großeltern stecke, so die Autorin, die eigentliche Wahrheit, eine jenseits von Geschichtsbüchern, eine vom Leben und Schicksal. Wer seinen Platz in der Welt finden wolle, müsse verstehen, dass er nur ein Glied in einer langen Kette sei, die uns mit allen Menschen verbinde. Wie in Russland, so habe es auch in Deutschland eine schweigende Generation gegeben, in deren Sprachlosigkeit sich die in die Familien einbrechenden Greuel jener Zeiten als stummes Echo wiederfinden. Aus Jakows Briefen tritt ein Mensch hervor, der allen Widrigkeiten seines Lebens einen zuweilen fast skurril anmutenden optimistischen Wissensdrang entgegenstellt, während Marussja zur ideologischen Fanatikerin wird, um die zerbrochenen Träume von Liebe, Glück und einer Bühnenkarriere zu kompensieren. Irgendetwas, so die studierte Genetikerin Ulitzkaja, geben sie an ihre Nachkommen weiter, musikalisches Talent oder die Manie, Aufgabenlisten zu schreiben.

Doch so recht bricht die zunehmend spröde anmutende und schließlich ganz abreißende Korrespondenz der Großeltern das Schweigen nicht auf, ausgerechnet ihre Figuren bleiben in diesem sonst so lebensprallen Buch irgendwie statisch. Selbst hinter der munter erzählten Emanzipationsgeschichte Noras, die von einem rebellischen Hippie der sechziger Jahre zur lebensklugen Frau und gefeierten Künstlerin wird, scheint sich eine andere Erzählung zu verstecken, so als fände ein Teil des Stückes nicht auf, sondern hinter der Bühne statt. Der Leser kann nur ahnen, warum aus so vielen Theaterprojekten Noras nichts wird, während die Bilder aus der New Yorker Musik- und Junkie-Szene überaus greifbar erscheinen.

Vielleicht ist die Balance zwischen Distanz und Nähe in einem Roman über die Großeltern, denen man nie begegnet ist, eine ganz eigene Kunst, besonders dann, wenn sich ihre Schicksale in die eigene DNA eingebrannt haben, wie es in der Sowjetunion gang und gebe war. Die bitterste Wahrheit ihrer Familie findet Nora am Ende nicht in den Briefen der Großeltern. Sie liest sie in den Archiven des sowjetischen Geheimdienstes, in der Akte ihres Großvaters.

SABINE BERKING

Ljudmila Ulitzkaja:

"Jakobsleiter". Roman.

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2017. 608 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Geschichten über Geschichten, wie sie nur das Leben zu erfinden vermag. Verworrene, tragische, tröstliche, rätselhafte, allzumenschliche - von Liebe und Verrat, von Einsamkeit und Solidarität, von Mut und Feigheit. Ljudmila Ulitzkaja erzählt sie souverän, mit Empathie, Respekt und fein dosiertem Humor ... Einmal mehr ist ihr ein großartiges, im weitesten Sinne aufklärerisches Buch gelungen, das faktenreich die fatale Verflechtung von kleiner und großer Geschichte vorführt." Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 11.10.17

"Kompromisslos zeigt Ulitzkaja, was das Sowjetsystem aus Menschen machte, die zu schwach waren, um ihm zu widerstehen ... Der Roman ist Ulitzkajas persönlichstes Buch." Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 10.10.17

"So viele Schicksale, so viele Epochen - und die Autorin bündelt sie alle auf überzeugende Weise zu einem grandiosen Erzählstrom, der uns Russland tiefer verstehen lässt." Monika Melchert, Sächsische Zeitung, 02.09.17

"Ein extrem sinnlicher Roman ... Unter dem Strich fasziniert und schockiert Ulitzkajas Buch wegen der unglaublichen Härten, durch die sich die Figuren quälen. Die Lektüreeindrücke graben sich garantiert tief ins Bewusstsein ein." Ulf Heise, MDR Kultur, 29.08.17