In einer bahnbrechenden, kontroversen Untersuchung entschlüsselt Robert Eisenman Jakobus - dessen Rolle im Neuen Testament unterschlagen wird - als den eigentlichen Kopf der religiösen Oppositionsgruppen in Jerusalem und als den geistigen Erben seines berühmten Bruders Jesus. Jakobus, nicht Petrus, war sein wirklicher Nachfolger in der frühchristlichen Bewegung. Robert Eisenman entlarvt in seiner umfangreichen Studie das Christentum des Paulus als eine Entstellung dessen, was Jesus und Jakobus gepredigt haben. Als Quelle dienen ihm die Qumran-Rollen, die Paulus-Briefe, die Apostelgeschichten, der Jakobus-Brief, ein kürzlich in Oberägypten gefundener frühchristlicher Text, die frühen historischen Quellen (Josephus und Eusebios) sowie die jüdische Überlieferung. Während Jakobus und seine Nachfolger, fanatische Anhänger von Moses' - alttestamentarischen - Lehren, militaristisch, nationalistisch und apokalyptisch orientiert waren, bezeichneten sich die von Paulus ins Leben gerufene Bewegung als pazifistisch, kosmopolitisch und vor allem glaubensbezogen. Letztere verstand sich nicht als politische Kraft. Paulus sympathisierte mit den römischen Herren, die Gemeinschaft der Urchristen in der Nachfolge Jesu bekämpfte dagegen die Besatzer mit allen Mitteln und nationalistischem Eifer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.1999Es grünt so grün, wenn Theorien blühen
Liegt Jesus in Spanien begraben? Robert Eisenman kennt den wahren Jakob
"Es ist vielleicht am besten, an dieser Stelle abzubrechen." Zu dieser Einsicht gelangt der Autor des anzuzeigenden Bandes, Professor Robert Eisenman von der California State University in Long Beach, leider erst nach quälenden knapp achthundert Seiten. Und "abbrechen" meint - ebenso bedauerlich - nicht Ende und Abschluss, sondern Zäsur: "Ein zweiter Band von ungefähr dem gleichen Umfang wie der vorliegende ist bereits fertig gestellt." Nun, wir werden ihn nicht auch noch lesen müssen.
Eisenman, in Deutschland vor allem durch sein zusammen mit Michael Wise verfasstes Buch "Jesus und die Urchristen" populär geworden, entfaltet - von "begründen" mag man kaum sprechen - in diesem Band seine seit 1983 vertretene und im Zusammenhang mit der Diskussion um die Texte aus Qumran stehende These einer mächtigen religiösen Strömung innerhalb des palästinischen Judentums im ersten Jahrhundert nach Christus, die einer der Brüder Jesu, Jakobus, angeführt habe. Diese Strömung unterscheide sich "vom Christentum, wie wir es mittlerweile kennen, erheblich". Jakobus, dem die altkirchliche Tradition den Beinamen "der Gerechte" verlieh und der von zwei anderen Trägern des gleichen Namens in der kirchlichen Tradition zu unterscheiden ist, steht nach Eisenman im "Mittelpunkt der sektiererischen volkstümlichen Agitation", die im Ersten Jüdischen Krieg und der Zerstörung Jerusalems 70 nach Christus gipfelte. Der Tod des Jakobus einige Jahre zuvor gehe auf das Konto seiner politisch-religiösen Feinde, einer Allianz aus Priesteraristokratie und Herodianern. Diesem Establishment sei übrigens der Apostel Paulus, der eingeschworene Feind des Jakobus, eng verbunden gewesen.
Dass wir von dieser wahren (Kriminal-)Geschichte von Judentum und Christentum im ersten Jahrhundert aus dem Neuen Testament so wenig erfahren, erklärt sich nach Eisenman aus dem Charakter dieser Quelle: Achtung, Geschichtsfälscher am Werk! So ist die dem Lukas zugeschriebene Apostelgeschichte trotz mancher Einseitigkeiten für die "orthodoxe" Wissenschaft eine der wichtigsten und informativsten Quellen für die Geschichte des frühesten Christentums, für Eisenman hingegen "eine der erfolgreichsten (und unverschämtesten) Umschreibaktionen aller Zeiten". Wie langweilig wäre die Wissenschaft, gäbe es nicht solche Skandale aufzudecken.
Wer die frühesten Quellen des Christentums so pauschal abwertet, muss dringend andere finden. Die Qumran-Texte, die nach Eisenman entgegen der vorherrschenden Ansicht auf Ereignisse des ersten Jahrhunderts nach Christus Bezug nehmen, stehen in dem vorliegenden Band, anders als in früheren Publikationen des Autors, nicht im Zentrum. Herangezogen werden vor allem altkirchliche und gnostische Traditionen über Jakobus, die Eisenman, wieder anders als die Mehrheit seiner Fachkollegen, nicht als Ausmalen und Fortspinnen einer entstehenden Jakobus-Legende, sondern als oft historisch zutreffende Nachrichten über seinen Helden wertet. Besondere Beachtung findet eine vielleicht aus dem dritten Jahrhundert stammende Schriftensammlung romanhaften Charakters, die nach ihrer Hauptfigur und dem angeblichen Verfasser, Klemens von Rom, in der Forschung etwas salopp als "Pseudo-Klementinen" bezeichnet und zu den Apokryphen, den "verborgenen Büchern" des Neuen Testaments, gerechnet wird. Zur Entfaltung eines historischen Panoramas von Palästina im ersten Jahrhundert wird darüber hinaus vielfach der jüdische Historiker Flavius Josephus benutzt, in dessen "Jüdischen Altertümern" im zwanzigsten Buch über den Tod des Jakobus berichtet wird.
Gewiss: Wer nach Jakobus fragt - anders als Eisenman behauptet, ist das allerdings schon einigen Wissenschaftlern zuvor "in den Sinn gekommen" -, muss über die wenigen Notizen, die sich in den Schriften des Neuen Testaments finden, hinausgehen. Und was spätere Quellen überliefern, ist deshalb nicht zwangsläufig falsch, sondern verdient die ernsthafte Aufmerksamkeit des Historikers. Der im Neuen Testament erhaltene Jakobus-Brief wird - übrigens nicht allein - von Eisenmann für echt gehalten, bietet jedoch wenig, das für eine Biographie seines vorgeblichen Verfassers verwertbar wäre. Sehr berechtigt ist auch die Frage, warum eine für die Geschichte des frühen Christentums offenbar wichtige Gestalt nur so beiläufig und punktuell erwähnt wird, wie das in den neutestamentlichen Schriften der Fall ist. Hier ist Quellenkritik als Tendenzkritik gefordert, allerdings nicht als pauschale Verdammung. Anlass zu Fragen gibt auch das Schweigen des Neuen Testaments zu der bedeutenden religiösen Gruppe der Essener, der wir vermutlich einen großen Teil der in Qumran gefundenen Texte verdanken.
Doch entwickelt sich in dem vorliegenden Band aus solchen berechtigten Anstößen und Fragen keine sorgfältige und zielstrebig voranschreitende historisch orientierte Analyse der Quellen. Vielmehr ist eine kaum zu bändigende Kombiniersucht das wichtigste Werkzeug dieses Historikers, der durchaus weit gefächertes Wissen besitzt, aber damit nicht umzugehen versteht. Was zählt, ist die schnelle Sensation. Eisenman selbst spricht von "wahren Entdeckerfreuden" und "verblüffenden Erkenntnissen" und will die lückenhaften Quellen "deduktiv auffüllen". Er fragt nach dem "eigentlich Gemeinten", das "sich direkt unter der Oberflächenstruktur der Texte verbirgt". Das wäre methodisch akzeptabel, würde die postulierte Quellenkritik nachvollziehbar vorgestellt. Das ist jedoch nirgends der Fall; man hat im Gegenteil den Eindruck, dass das Bild von den geschichtlichen Vorgängen schon fertig war, ehe die Quellen wirklich gewürdigt wurden. Eisenmans Widerspruch zur geläufigen Datierung der Pseudo-Klementinen liest sich etwa so: "Doch in diesem Punkt irren die Experten einfach. Dazu lässt sich schlicht nichts anderes sagen." Was soll man dazu nun sagen? Wo gar nichts anderes mehr hilft, und das ist oft der Fall in diesem voluminösen, an Wiederholungen überreichen Buch, wird einfach dekretiert.
Fast auf jeder Seite finden sich solche nicht belegten und belegbaren Behauptungen, dazu auch viel schlicht Halbwahres oder Falsches, Kurz- und Fehlschlüsse, gewagte Etymologien und schwankende Begriffsbrücken und viel antiker Klatsch, der mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun hat. Ein "kumulativer" Beweis lässt sich so nicht führen. Es gibt keine außerbiblischen Überlieferungen über Jesus? Falsch. Paulus behauptet, in "ständigem mystisch-visionären Kontakt" mit Christus zu stehen? Wo? Gewissen ist bei Paulus "eine beschönigende Umschreibung für das Gesetz". Beide Größen werden beim Apostel gerade differenziert. Der erste christliche Märtyrer Stephanus, den Eisenman für eine literarische Fiktion hält, als "archetypischer Heidenchrist"? Die Apostelgeschichte stellt ihn offensichtlich als (Griechisch sprechenden) Juden dar. Wenigstens einem Fachlektor hätte auffallen können, dass der Erste Tempel in Jerusalem gerade nicht "unter David begonnen" wurde (man lese 2 Samuel 7), die Quellenangabe "im Mischna Sanhedrin, dem talmudischen Traktat", vorsichtig gesagt, ungewöhnlich ist oder dass etwa das weisheitliche Buch Jesus Sirach nicht "von einem Enkel des Mannes, dessen Namen es trägt", sondern von diesem selbst verfasst und dann vom Enkel mit einem Vorwort versehen und ins Griechische übersetzt wurde.
Durch die von Eisenman vorgenommenen waghalsigen bis haltlosen Identifikationen reduziert sich das uns namentlich bekannte antike Personal radikal. Geschwind ist jeder jedes anderen Freund oder Feind, Beweise scheinen überflüssig. So ist Lucius von Kyrene (Apg 13,1) in Wahrheit Lukas, der Autor von Evangelium und Apostelgeschichte. Der bei Paulus im Philipperbrief erwähnte Epaphroditus soll mit dem gleichnamigen Sekretär Neros und Domitians identisch sein - und nach Ausweis des Registers dazu noch ein Bruder Senecas. Der bei Flavius Josephus begegnende Zelotenführer Simon ist "der entmythologisierte Simon (Petrus) des Neuen Testaments". Der ebenfalls von Josephus als sein zeitweiliger Lehrer erwähnte Eremit Bannus ist Jakobus. Da Jakobus, der Sohn des Zebedäus und "Jakobus maior" der kirchlichen Tradition, "wahrscheinlich nie existiert hat", "wäre es ohne weiteres möglich", dass in Santiago de Compostela die Gebeine des Bruders Jesu liegen. Und der rätselhafte Spitzensatz dieser "Beweiskette" lautet: "Wer und was Jakobus auch immer war, der und das war auch Jesus." Liegt Jesus also in Spanien begraben?
Es ist vielleicht am besten, an dieser Stelle abzubrechen.
HERMUT LÖHR
Robert Eisenman: "Jakobus, der Bruder von Jesus". Der Schlüssel zum Geheimnis des Frühchristentums und der Qumran-Rollen. Aus dem Amerikanischen von Ditte und Giovanni Bandini. C. Bertelsmann Verlag, München 1998. 905 S., Abb., geb., 58,- DM.
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Liegt Jesus in Spanien begraben? Robert Eisenman kennt den wahren Jakob
"Es ist vielleicht am besten, an dieser Stelle abzubrechen." Zu dieser Einsicht gelangt der Autor des anzuzeigenden Bandes, Professor Robert Eisenman von der California State University in Long Beach, leider erst nach quälenden knapp achthundert Seiten. Und "abbrechen" meint - ebenso bedauerlich - nicht Ende und Abschluss, sondern Zäsur: "Ein zweiter Band von ungefähr dem gleichen Umfang wie der vorliegende ist bereits fertig gestellt." Nun, wir werden ihn nicht auch noch lesen müssen.
Eisenman, in Deutschland vor allem durch sein zusammen mit Michael Wise verfasstes Buch "Jesus und die Urchristen" populär geworden, entfaltet - von "begründen" mag man kaum sprechen - in diesem Band seine seit 1983 vertretene und im Zusammenhang mit der Diskussion um die Texte aus Qumran stehende These einer mächtigen religiösen Strömung innerhalb des palästinischen Judentums im ersten Jahrhundert nach Christus, die einer der Brüder Jesu, Jakobus, angeführt habe. Diese Strömung unterscheide sich "vom Christentum, wie wir es mittlerweile kennen, erheblich". Jakobus, dem die altkirchliche Tradition den Beinamen "der Gerechte" verlieh und der von zwei anderen Trägern des gleichen Namens in der kirchlichen Tradition zu unterscheiden ist, steht nach Eisenman im "Mittelpunkt der sektiererischen volkstümlichen Agitation", die im Ersten Jüdischen Krieg und der Zerstörung Jerusalems 70 nach Christus gipfelte. Der Tod des Jakobus einige Jahre zuvor gehe auf das Konto seiner politisch-religiösen Feinde, einer Allianz aus Priesteraristokratie und Herodianern. Diesem Establishment sei übrigens der Apostel Paulus, der eingeschworene Feind des Jakobus, eng verbunden gewesen.
Dass wir von dieser wahren (Kriminal-)Geschichte von Judentum und Christentum im ersten Jahrhundert aus dem Neuen Testament so wenig erfahren, erklärt sich nach Eisenman aus dem Charakter dieser Quelle: Achtung, Geschichtsfälscher am Werk! So ist die dem Lukas zugeschriebene Apostelgeschichte trotz mancher Einseitigkeiten für die "orthodoxe" Wissenschaft eine der wichtigsten und informativsten Quellen für die Geschichte des frühesten Christentums, für Eisenman hingegen "eine der erfolgreichsten (und unverschämtesten) Umschreibaktionen aller Zeiten". Wie langweilig wäre die Wissenschaft, gäbe es nicht solche Skandale aufzudecken.
Wer die frühesten Quellen des Christentums so pauschal abwertet, muss dringend andere finden. Die Qumran-Texte, die nach Eisenman entgegen der vorherrschenden Ansicht auf Ereignisse des ersten Jahrhunderts nach Christus Bezug nehmen, stehen in dem vorliegenden Band, anders als in früheren Publikationen des Autors, nicht im Zentrum. Herangezogen werden vor allem altkirchliche und gnostische Traditionen über Jakobus, die Eisenman, wieder anders als die Mehrheit seiner Fachkollegen, nicht als Ausmalen und Fortspinnen einer entstehenden Jakobus-Legende, sondern als oft historisch zutreffende Nachrichten über seinen Helden wertet. Besondere Beachtung findet eine vielleicht aus dem dritten Jahrhundert stammende Schriftensammlung romanhaften Charakters, die nach ihrer Hauptfigur und dem angeblichen Verfasser, Klemens von Rom, in der Forschung etwas salopp als "Pseudo-Klementinen" bezeichnet und zu den Apokryphen, den "verborgenen Büchern" des Neuen Testaments, gerechnet wird. Zur Entfaltung eines historischen Panoramas von Palästina im ersten Jahrhundert wird darüber hinaus vielfach der jüdische Historiker Flavius Josephus benutzt, in dessen "Jüdischen Altertümern" im zwanzigsten Buch über den Tod des Jakobus berichtet wird.
Gewiss: Wer nach Jakobus fragt - anders als Eisenman behauptet, ist das allerdings schon einigen Wissenschaftlern zuvor "in den Sinn gekommen" -, muss über die wenigen Notizen, die sich in den Schriften des Neuen Testaments finden, hinausgehen. Und was spätere Quellen überliefern, ist deshalb nicht zwangsläufig falsch, sondern verdient die ernsthafte Aufmerksamkeit des Historikers. Der im Neuen Testament erhaltene Jakobus-Brief wird - übrigens nicht allein - von Eisenmann für echt gehalten, bietet jedoch wenig, das für eine Biographie seines vorgeblichen Verfassers verwertbar wäre. Sehr berechtigt ist auch die Frage, warum eine für die Geschichte des frühen Christentums offenbar wichtige Gestalt nur so beiläufig und punktuell erwähnt wird, wie das in den neutestamentlichen Schriften der Fall ist. Hier ist Quellenkritik als Tendenzkritik gefordert, allerdings nicht als pauschale Verdammung. Anlass zu Fragen gibt auch das Schweigen des Neuen Testaments zu der bedeutenden religiösen Gruppe der Essener, der wir vermutlich einen großen Teil der in Qumran gefundenen Texte verdanken.
Doch entwickelt sich in dem vorliegenden Band aus solchen berechtigten Anstößen und Fragen keine sorgfältige und zielstrebig voranschreitende historisch orientierte Analyse der Quellen. Vielmehr ist eine kaum zu bändigende Kombiniersucht das wichtigste Werkzeug dieses Historikers, der durchaus weit gefächertes Wissen besitzt, aber damit nicht umzugehen versteht. Was zählt, ist die schnelle Sensation. Eisenman selbst spricht von "wahren Entdeckerfreuden" und "verblüffenden Erkenntnissen" und will die lückenhaften Quellen "deduktiv auffüllen". Er fragt nach dem "eigentlich Gemeinten", das "sich direkt unter der Oberflächenstruktur der Texte verbirgt". Das wäre methodisch akzeptabel, würde die postulierte Quellenkritik nachvollziehbar vorgestellt. Das ist jedoch nirgends der Fall; man hat im Gegenteil den Eindruck, dass das Bild von den geschichtlichen Vorgängen schon fertig war, ehe die Quellen wirklich gewürdigt wurden. Eisenmans Widerspruch zur geläufigen Datierung der Pseudo-Klementinen liest sich etwa so: "Doch in diesem Punkt irren die Experten einfach. Dazu lässt sich schlicht nichts anderes sagen." Was soll man dazu nun sagen? Wo gar nichts anderes mehr hilft, und das ist oft der Fall in diesem voluminösen, an Wiederholungen überreichen Buch, wird einfach dekretiert.
Fast auf jeder Seite finden sich solche nicht belegten und belegbaren Behauptungen, dazu auch viel schlicht Halbwahres oder Falsches, Kurz- und Fehlschlüsse, gewagte Etymologien und schwankende Begriffsbrücken und viel antiker Klatsch, der mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun hat. Ein "kumulativer" Beweis lässt sich so nicht führen. Es gibt keine außerbiblischen Überlieferungen über Jesus? Falsch. Paulus behauptet, in "ständigem mystisch-visionären Kontakt" mit Christus zu stehen? Wo? Gewissen ist bei Paulus "eine beschönigende Umschreibung für das Gesetz". Beide Größen werden beim Apostel gerade differenziert. Der erste christliche Märtyrer Stephanus, den Eisenman für eine literarische Fiktion hält, als "archetypischer Heidenchrist"? Die Apostelgeschichte stellt ihn offensichtlich als (Griechisch sprechenden) Juden dar. Wenigstens einem Fachlektor hätte auffallen können, dass der Erste Tempel in Jerusalem gerade nicht "unter David begonnen" wurde (man lese 2 Samuel 7), die Quellenangabe "im Mischna Sanhedrin, dem talmudischen Traktat", vorsichtig gesagt, ungewöhnlich ist oder dass etwa das weisheitliche Buch Jesus Sirach nicht "von einem Enkel des Mannes, dessen Namen es trägt", sondern von diesem selbst verfasst und dann vom Enkel mit einem Vorwort versehen und ins Griechische übersetzt wurde.
Durch die von Eisenman vorgenommenen waghalsigen bis haltlosen Identifikationen reduziert sich das uns namentlich bekannte antike Personal radikal. Geschwind ist jeder jedes anderen Freund oder Feind, Beweise scheinen überflüssig. So ist Lucius von Kyrene (Apg 13,1) in Wahrheit Lukas, der Autor von Evangelium und Apostelgeschichte. Der bei Paulus im Philipperbrief erwähnte Epaphroditus soll mit dem gleichnamigen Sekretär Neros und Domitians identisch sein - und nach Ausweis des Registers dazu noch ein Bruder Senecas. Der bei Flavius Josephus begegnende Zelotenführer Simon ist "der entmythologisierte Simon (Petrus) des Neuen Testaments". Der ebenfalls von Josephus als sein zeitweiliger Lehrer erwähnte Eremit Bannus ist Jakobus. Da Jakobus, der Sohn des Zebedäus und "Jakobus maior" der kirchlichen Tradition, "wahrscheinlich nie existiert hat", "wäre es ohne weiteres möglich", dass in Santiago de Compostela die Gebeine des Bruders Jesu liegen. Und der rätselhafte Spitzensatz dieser "Beweiskette" lautet: "Wer und was Jakobus auch immer war, der und das war auch Jesus." Liegt Jesus also in Spanien begraben?
Es ist vielleicht am besten, an dieser Stelle abzubrechen.
HERMUT LÖHR
Robert Eisenman: "Jakobus, der Bruder von Jesus". Der Schlüssel zum Geheimnis des Frühchristentums und der Qumran-Rollen. Aus dem Amerikanischen von Ditte und Giovanni Bandini. C. Bertelsmann Verlag, München 1998. 905 S., Abb., geb., 58,- DM.
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