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Produktdetails
  • ScriptOralia
  • Verlag: Narr
  • Seitenzahl: 397
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 574g
  • ISBN-13: 9783823344858
  • Artikelnr.: 27684329
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.1999

Räuspern und Rauschen
Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei James Joyce

Wenn die Deutsche Forschungsgemeinschaft an einer Universität einen Sonderforschungsbereich einrichtet, der fast so lange dauern kann, wie ein Menschenkind bis zur Pubertät braucht, so müssen in beiden Fällen die Ergebnisse nicht zwangsläufig brillant sein. Denn oft läßt sich soviel Bedeutendes zu einem Gegenstandsbereich über so lange Zeit hin gar nicht sagen. Erstes Opfer solch kollektiven Angriffs auf das Unwissen ist dann nicht unbedingt die Wahrheit, wohl aber die Originalität. Doch entstehen auf diesen Großbaustellen der Forschung gelegentlich auch Leuchttürme, die durch ihr Licht Neues im Bekannten aufleuchten lassen.

An der Universität Freiburg arbeitete über ein Jahrzehnt der Sonderforschungsbereich "Mündlichkeit und Schriftlichkeit". Die Fragestellung entstammt unserer elektronischen Kultur, der Marshall McLuhan einst die Flucht aus der Gutenberg-Galaxie, mithin eine Rückkehr zur Mündlichkeit geweissagt hat. Erst daraus entstand eine geschärfte Wahrnehmung für jene oralen Galaxien, die vor dem Buch existierten, und für das Wechselverhältnis von Schrift und Sprechen überhaupt. In literarischen Werken, die sich dem Alltag anzunähern suchen, wird man füglich mit einer besonders brisanten Mischung aus Mündlichem und Schriftlichem rechnen können.

Ein Paradebeispiel ist das Werk von James Joyce, in dem immer wieder anhand einzelner Textstellen nach solchen Spielweisen und Transformationen gesucht wurde. Der Aufgabe einer systematischen Durchleuchtung des Joyceschen OEuvre unter dieser Fragestellung hat sich nun der emeritierte Freiburger Anglist Willi Erzgräber unterzogen. Der Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß in einem literarischen Werk das Mündliche ja auch etwas Geschriebenes ist, folglich den Gesetzen einer fingierten Mündlichkeit unterliegt. Das Mündliche ist eine Konstruktion im geschriebenen Werk. Aber auch die Schriftlichkeit - der Bezug zu anderen Texten etwa - kann auf komplexe Art fingiert sein. Wie kein anderer hat Joyce es verstanden, diese komplizierten Wechselbeziehungen zur literarischen Strategie zu machen. Joyce hat die Sprache zum Tanzen gebracht wie der Zauberlehrling den Besen. Und der Besen trägt ihm nun eimerweise das Wasser der Sekundärliteratur herbei.

Inzwischen hat die Flut schon eine tertiäre Stufe erreicht. Erzgräber gehört jedoch zu jenen Literaturwissenschaftlern, die wissen, wo die Abflußventile versteckt sind. Seine Überlegungen führen zu mehr Klarheit über das Werk des Iren, wobei sie auf alle modischen Begriffe und Anspielungen verzichten. Erzgräber entwickelt eine Landkarte des Gesprochenen und Geschriebenen bei Joyce. Hilfreich sind ihm dabei nicht nur die Freiburger Diskussionen zur fingierten Mündlichkeit, sondern auch die Konzepte Michail Bachtins, insbesondere zur Dialogizität im sprachlichen Kunstwerk.

Die Dialoge in "Dubliners" etwa arbeiten mit Pausen, Gedankenstrichen, mit Schweigen, Verschweigen und lautlosen Explosionen. So läßt sich über die Strategien der Mündlichkeit erkennen, wie stark Tabu, Religion und Machtstrukturen sich im irischen Alltag dieser Erzählungen niederschlagen. Joyce, der ja einst Sänger werden wollte, richtete sein unglaublich feines musikalisches Gespür in die Sprache, in den Satzfluß wie in das einzelne Wort, in dem er die Ursprünge und Geschichte, die Semantik und Akustik mithörte. Das macht seine Wortspiele so komplex, aber auch intellektuell nahrhaft.

Mit Rhythmus, Klang und Aussprache markierte Joyce zudem, wie Erzgräber an "A Portrait of the Artist as a Young Man" zeigt, die soziologische und psychologische Verfassung der Charaktere. Spannend ist es zu verfolgen, wie bestimmte mündliche Ereignisse zunehmend verschriftlicht werden und umgekehrt die Schrift wieder zu einer mündlichen Form zurückfindet - wie sich sehr schön an der Entstehung einer Predigt in dem Buch ablesen läßt.

Unter all den vielen mündlich-schriftlichen Wechselbädern des "Ulysses" ist sicher Molly Blooms Monolog das bekannteste. Wie wenig es sich hierbei um reine Mündlichkeit handelt, weist Erzgräber in einer detaillierten Analyse nach. Der Monolog ist schlicht ein Dokument, "wie in der künstlerischen Vorstellung des Autors eine Frau zu sich sprechen könnte". Wer sich die Geräuschkulisse dieses Romans anschaut oder besser anhört, wird allmählich bemerken, daß Joyce hier ein pyrotechnisches Meisterwerk vorgelegt hat, das phasenweise das gesamte Klangspektrum menschlicher und außermenschlicher Art auslöst. Eine Technik, die die Zensoren des Romans zu der Vermutung brachten, es handle sich bei diesem obszönen Kauderwelsch um eine kodierte pro-deutsche Geheimbotschaft.

Die "Matrix der Mündlichkeit" wird allerdings von "Finnegans Wake" noch übertroffen. Allein die Tatsache, daß mindestens eintausend Lieder verschiedenster Provenienz hier verarbeitet sind, sollte Anlaß zur Melancholie ebenso wie zur Freude sein. Entscheidender ist aber, daß die Vieldeutigkeit noch weiter in das einzelne Wort, in die Etyme hinein verschoben worden ist. Das betrifft schließlich die anthropologische Basis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit selbst und ist ein Grund für die Unübersetzbarkeit des Werkes. Und zwar ist es deshalb unübersetzbar, weil es sich fortwährend selbst übersetzt. Ein Übersetzer kann das stetig fließende Werk höchstens in einer Geste geistiger Anstrengung zum kurzen Stillstand in der jeweiligen Sprache auffordern. Nicht anders der Literaturwissenschaftler. Doch erklärt Erzgräber, warum das so ist und wie man Joyce gerade deswegen mit Gewinn lesen kann. In Abwesenheit des alten Hexenmeisters ist das schon ein Kunststück.

ELMAR SCHENKEL.

Willi Erzgräber: "James Joyce". Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spiegel experimenteller Erzählkunst. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1998. 397 S., br., 96,- DM.

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