Longlisted for the Booker Prize 2024 From the author of The Trees, shortlisted for the Booker Prize, and Erasure, adapted into the Oscar-winning film American Fiction. 'Truly extraordinary books are rare, and this is one of them' - Roddy Doyle, Booker Prize-winning author of Paddy Clarke, Ha Ha Ha Enthralling and ferociously funny, James by Percival Everett is a profound meditation on identity, belonging and the sacrifices we make to protect the ones we love. It is also a bold reimagining of Mark Twain's Adventures of Huckleberry Finn, as the enslaved Jim emerges to reclaim his voice and defy the conventions that have consigned him to the margins. The Mississippi River, 1861. When the enslaved Jim overhears that he is about to be sold to a new owner in New Orleans and separated from his family forever, he flees to nearby Jackson's Island until he can formulate a plan. Meanwhile, Huck Finn has faked his own death to escape his violent father who recently returned to town. So begins a dangerous and transcendent journey along the Mississippi River, towards the elusive promise of the free states and beyond. As James and Huck navigate the treacherous waters, each bend in the river holds the promise of both salvation and demise. And together, the unlikely pair embark on the most life-changing odyssey of them all . . . 'A captivating response to Mark Twain's classic that is both a bold exploration of a dark chapter in history and a testament to the resilience of the human spirit' - the 2024 Booker Prize judges 'This is the work of an American master at the peak of his powers' - Financial Times 'Thrilling, bold and profound' - The Sunday Times ?Funny and horrifying, brilliant and riveting . . . Who should read this book? Every single person in the country' - Ann Patchett, bestselling author of Tom Lake
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2024An diesem Roman führt kein Weg vorbei
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett adaptiert
„Huckleberry Finn“ – erzählt aus der Perspektive des geflohenen Sklaven Jim.
Von Pablo Picasso gibt es diese berühmte Stierserie, in der das Abbild eines Stiers von links nach rechts immer reduzierter und abstrakter wird und sich das Kunstwerk graduell von realistischer hin zu begrifflicher Darstellung verschiebt. Am Ende ist der Stier künstlerisch am vollkommensten gefasst, wenn er mit einem echten Stier kaum mehr etwas zu tun hat. Eine Zerstörung des Kunstwerkes hin zum Urzustand, hat der amerikanische Kunsthistoriker Irving Lavin das Unternehmen einmal genannt, eine fortschreitende Evolution zum Ausgangspunkt.
Das wird jetzt gleich noch eine Rolle spielen, wenn es um den Roman „James“ des amerikanischen Schriftstellers Percival Everett geht, der gerade im Begriff ist, zum zentralen Ereignis des amerikanischen Literaturjahres zu werden. Am Ende des Jahres, das sei an dieser Stelle schon einmal prognostiziert, müsste er auf den einschlägigen Short- und Bestenlisten überall zu finden sein. Everett ist kein junger Schriftsteller, er hat schon mehr als dreißig Romane veröffentlicht, die vielfach preisgekrönt, allerdings in erster Linie von eingeschworenen cognoscenti gelesen wurden. 2024 scheint nun so etwas wie sein Jahr werden. Vor wenigen Wochen erst wurde der auf einem Everett-Roman basierende Spielfilm „American Fiction“ mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet.
In „James“ adaptiert Percival Everett nun seinerseits den Roman, den Ernest Hemingway einst zum Ursprung aller modernen amerikanischen Literatur erhoben hat: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, die 1885 erschienene und seitdem nie mehr aus der Zeit gefallene Geschichte des weißen Südstaaten-Jungen Huckleberry Finn, der seinen eigenen Tod vortäuscht, um seinem trunksüchtigen, prügelnden Vater zu entkommen, und des entlaufenen Sklaven Jim, den alle für den Mörder halten. Den größten Teil der Romanhandlung verbringen die beiden miteinander, sie verstecken sich auf einer Insel, fahren den Mississippi hinab, freunden sich an. Zwei Renegaten, die vor einer menschenfeindlichen und gewaltsüchtigen Gesellschaft getürmt sind, um ihr Heil in den Gegenwelten und Zwischenräumen zu suchen. Das Erzählmuster tauchte später unter anderem bei Jack Kerouac und J. D. Salinger wieder auf und wurde so etwas wie Goldstandard amerikanischer Welterschließung. In Percival Everetts Version der Geschichte ist nun allerdings nicht Huck der Erzähler, sondern Jim, und dadurch ändert sich praktisch alles.
Topografisch ist das Buch weitgehend deckungsgleich mit Twains „Huckleberry Finn“: Huck und Jim verstecken sich auf der Insel, fahren auf ihrem selbst gebauten Floß den Mississippi hinab, entrinnen den mörderischen Raddampfern, treffen auf die beiden Hochstapler, den Fürsten und den Herzog, die in beiden Büchern versuchen, Jim zu verkaufen. Umso interessanter sind deshalb die Abweichungen: Der 13-jährige Huckleberry steckt sich bei Everett zum Beispiel nicht mehr ununterbrochen Pfeifen an. Und der geflohene Sklave Jim kann lesen und schreiben.
Auf der Plantage hatte er sich unter akuter Todesgefahr Nacht für Nacht in die eher dekorativ genutzte Bibliothek seiner Besitzer geschlichen und sich dort in die Lektürelisten der europäischen Aufklärung vertieft. Einmal plündern sie unterwegs ein Boot und finden unter anderem Voltaires „Traktat über die Toleranz“ und Rousseaus „Abhandlung über die Ungleichheit“. Vor Huck muss Jim um jeden Preis verbergen, dass er lesen kann, aber er kann sich nicht beherrschen und liest die Bücher bei Nacht: „In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen (...) Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.“
Der bedeutendste Eingriff jedoch betrifft die Sprache, die der Sklave Jim bei Mark Twain spricht und die in der rezeptionsgeschichtlich maßgeblichen ersten deutschen Übersetzung der 1925 gestorbenen Kinderbuchautorin Henny Koch so klingt: „Ich mich lassen tot hauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier und warten!“ Oder so, ganz am Anfang, als der frühere Sklave erstmals auf Huckleberry Finn trifft, den er wie alle anderen für tot hält, weshalb er glaubt, einem Geist gegenüberzustehen: „Du gehen wieder in die Wasser, wo du kommen her. Nix tun gute alte Jim, nichts tun, Geist von arme Huck, sein immer gewesen deine gute Freund!“ Welchen Einfluss diese Sprache auf die deutsche Vorstellung davon hatte, wie „Ausländer“ sprechen, ist kaum zu überschätzen. Es ist noch nicht lange her, als in Deutschland auch Italienern und Türken dieses Idiom in den Mund gelegt wurde. Der Everett-Übersetzer Nikolaus Stingl merkt nun in einer Nachbemerkung zu „James“ an, dass er es mit einer „speziellen Ausprägung des Südstaatenenglisch, das im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde“ zu tun hatte, bei deren Übersetzung ins Deutsche man schnell Gefahr laufe, „eine Art retardiertes, einfältiges Idiom zu produzieren, wie es eine bestimmte Literatur lange Zeit Angehörigen vermeintlich ‚primitiver‘ Völker in den Mund gelegt hat“.
Um trotzdem den Unterschied zu dem Englisch zu markieren, das im Buch von den Weißen gesprochen wird, habe Stingl sich eines „artifiziellen Dialekts“ bedient, der stark mit „Verschleifungen, Verzicht auf korrekte Verbkonjugation, Wegfall der Hilfsverben“ operiere. Das klingt dann, kurze Hörprobe, so: „Chhätt auch nix gegen bisschen Bildung.“ Oder: „Hassu’n Messer? Du brauchs’n Messer, um sie aussunehmen.“ Bei Everett, und das ist erzählerisch nun ein Geniestreich, ist diese Sklavensprache allerdings nur eine Performance, die die Sklaven für die Weißen aufführen, um sie ihrer Überlegenheit zu versichern. Würden sie dabei erwischt, sich der Eloquenz schuldig zu machen, könnten sie jederzeit auf offener Straße aufgeknüpft und mit der Bullenpeitsche zerfetzt werden. Untereinander jedoch sprechen die Sklaven ein makelloses Englisch und wechseln in die Sklavensprache nur, sobald ein Weißer den Raum betritt.
Knapp 140 Jahre nachdem Mark Twain den Sklaven Jim erfunden hat, entwirft ihn Percival Everett als Figur, die trotz aller gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die zu seiner Entmenschlichung getroffen wurden, über die Mittel verfügt, seine Würde als Individuum zu artikulieren. „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ist zwar auch selbst ein Anti-Sklaverei-Roman, aber als Menschen, der einem Weißen gleich über eine unantastbare Würde verfügen würde, sieht Huckleberry den früheren Sklaven Jim noch lange nicht. Er betrachtet ihn eher in der Weise als Freund, wie man seinen Hund als Freund betrachtet, immer wieder erstaunt, zu welchen Empfindungen und Einfällen er in der Lage ist.
Metaphorisch bleibt durch den Perspektivwechsel jedenfalls kein Stein auf dem anderen. Bei Mark Twain waren, geschult an der romantischen Naturdichtung von Walt Whitman, die Insel und der Fluss idyllische Gegenwelten zu der unzivilisierten Zivilisation am Ufer, humanistische Enklaven, in denen sich zwischen dem weißen Jungen Huckleberry und dem schwarzen Erwachsenen Jim eine Freundschaft entwickeln kann, die einen hoffnungsvollen Vorschein auf eine bessere Zukunft bietet.
Aus der Perspektive von Jim aber kann von Idylle keine Rede sein, weil er jeden Moment daran denkt, dass seine Frau und seine Tochter noch immer in der Hand der Plantagenbesitzer sind und jetzt womöglich für seine Flucht bestraft werden. Er ist in jeder Sekunde aufs Äußerste verzweifelt, es gibt für ihn keine Momente friedlicher Kontemplation. Die Wahrnehmungen der ganzen Situation könnten sich fundamentaler nicht unterscheiden, und einmal spricht Jim diese Differenz mit Blick auf den abenteuerlustigen Huck direkt an: „Ehrlich gesagt bewunderte ich das, ja beneide ihn darum, dass er so empfinden konnte, in seiner Welt, ohne die Angst, gehängt zu werden oder Schlimmeres.“
Und damit zurück zu der Stier-Serie von Picasso: Was „James“ am Ende zu so einem außerordentlichen und ja, einschneidenden Roman macht, ist nicht nur die erstaunliche Dichte an bezwingenden erzählerischen Entscheidungen, sondern vor allem seine Einfachheit und Konzentriertheit. Keine Ausflüge ins Essayistische, keine metafiktionalen Loopings, keine tagespolitischen Gegenwartsbezüge.
Trotzdem hat man kaum jemals so klar begriffen, warum das weiße und das nicht-weiße Amerika bis heute nicht so recht zu einer gemeinsamen geschichtlichen Erzählung finden, wie in diesem Roman. Everett stellt Twains „Huckleberry Finn“ geradezu vom Kopf auf die Füße, seine Adaption ist Einspruch und Verneigung zugleich, und vermutlich gerade deshalb so eine kraftvolle Zerstörung eines der zentralen Romane der amerikanischen Literaturgeschichte hin zu seinem Urzustand.
FELIX STEPHAN
Es gibt keine Idylle,
Jim ist in jeder Sekunde
aufs Äußerste verzweifelt
Ursprung der modernen amerikanischen Literatur in der Verfilmung aus dem Jahr 1960: Archie Moore als Jim und Eddie Hodges als Huckleberry Finn in „Abenteuer am Mississippi“.
Foto: imago / United Archives
Percival Everett: James. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2024.
336 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett adaptiert
„Huckleberry Finn“ – erzählt aus der Perspektive des geflohenen Sklaven Jim.
Von Pablo Picasso gibt es diese berühmte Stierserie, in der das Abbild eines Stiers von links nach rechts immer reduzierter und abstrakter wird und sich das Kunstwerk graduell von realistischer hin zu begrifflicher Darstellung verschiebt. Am Ende ist der Stier künstlerisch am vollkommensten gefasst, wenn er mit einem echten Stier kaum mehr etwas zu tun hat. Eine Zerstörung des Kunstwerkes hin zum Urzustand, hat der amerikanische Kunsthistoriker Irving Lavin das Unternehmen einmal genannt, eine fortschreitende Evolution zum Ausgangspunkt.
Das wird jetzt gleich noch eine Rolle spielen, wenn es um den Roman „James“ des amerikanischen Schriftstellers Percival Everett geht, der gerade im Begriff ist, zum zentralen Ereignis des amerikanischen Literaturjahres zu werden. Am Ende des Jahres, das sei an dieser Stelle schon einmal prognostiziert, müsste er auf den einschlägigen Short- und Bestenlisten überall zu finden sein. Everett ist kein junger Schriftsteller, er hat schon mehr als dreißig Romane veröffentlicht, die vielfach preisgekrönt, allerdings in erster Linie von eingeschworenen cognoscenti gelesen wurden. 2024 scheint nun so etwas wie sein Jahr werden. Vor wenigen Wochen erst wurde der auf einem Everett-Roman basierende Spielfilm „American Fiction“ mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet.
In „James“ adaptiert Percival Everett nun seinerseits den Roman, den Ernest Hemingway einst zum Ursprung aller modernen amerikanischen Literatur erhoben hat: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, die 1885 erschienene und seitdem nie mehr aus der Zeit gefallene Geschichte des weißen Südstaaten-Jungen Huckleberry Finn, der seinen eigenen Tod vortäuscht, um seinem trunksüchtigen, prügelnden Vater zu entkommen, und des entlaufenen Sklaven Jim, den alle für den Mörder halten. Den größten Teil der Romanhandlung verbringen die beiden miteinander, sie verstecken sich auf einer Insel, fahren den Mississippi hinab, freunden sich an. Zwei Renegaten, die vor einer menschenfeindlichen und gewaltsüchtigen Gesellschaft getürmt sind, um ihr Heil in den Gegenwelten und Zwischenräumen zu suchen. Das Erzählmuster tauchte später unter anderem bei Jack Kerouac und J. D. Salinger wieder auf und wurde so etwas wie Goldstandard amerikanischer Welterschließung. In Percival Everetts Version der Geschichte ist nun allerdings nicht Huck der Erzähler, sondern Jim, und dadurch ändert sich praktisch alles.
Topografisch ist das Buch weitgehend deckungsgleich mit Twains „Huckleberry Finn“: Huck und Jim verstecken sich auf der Insel, fahren auf ihrem selbst gebauten Floß den Mississippi hinab, entrinnen den mörderischen Raddampfern, treffen auf die beiden Hochstapler, den Fürsten und den Herzog, die in beiden Büchern versuchen, Jim zu verkaufen. Umso interessanter sind deshalb die Abweichungen: Der 13-jährige Huckleberry steckt sich bei Everett zum Beispiel nicht mehr ununterbrochen Pfeifen an. Und der geflohene Sklave Jim kann lesen und schreiben.
Auf der Plantage hatte er sich unter akuter Todesgefahr Nacht für Nacht in die eher dekorativ genutzte Bibliothek seiner Besitzer geschlichen und sich dort in die Lektürelisten der europäischen Aufklärung vertieft. Einmal plündern sie unterwegs ein Boot und finden unter anderem Voltaires „Traktat über die Toleranz“ und Rousseaus „Abhandlung über die Ungleichheit“. Vor Huck muss Jim um jeden Preis verbergen, dass er lesen kann, aber er kann sich nicht beherrschen und liest die Bücher bei Nacht: „In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen (...) Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.“
Der bedeutendste Eingriff jedoch betrifft die Sprache, die der Sklave Jim bei Mark Twain spricht und die in der rezeptionsgeschichtlich maßgeblichen ersten deutschen Übersetzung der 1925 gestorbenen Kinderbuchautorin Henny Koch so klingt: „Ich mich lassen tot hauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier und warten!“ Oder so, ganz am Anfang, als der frühere Sklave erstmals auf Huckleberry Finn trifft, den er wie alle anderen für tot hält, weshalb er glaubt, einem Geist gegenüberzustehen: „Du gehen wieder in die Wasser, wo du kommen her. Nix tun gute alte Jim, nichts tun, Geist von arme Huck, sein immer gewesen deine gute Freund!“ Welchen Einfluss diese Sprache auf die deutsche Vorstellung davon hatte, wie „Ausländer“ sprechen, ist kaum zu überschätzen. Es ist noch nicht lange her, als in Deutschland auch Italienern und Türken dieses Idiom in den Mund gelegt wurde. Der Everett-Übersetzer Nikolaus Stingl merkt nun in einer Nachbemerkung zu „James“ an, dass er es mit einer „speziellen Ausprägung des Südstaatenenglisch, das im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde“ zu tun hatte, bei deren Übersetzung ins Deutsche man schnell Gefahr laufe, „eine Art retardiertes, einfältiges Idiom zu produzieren, wie es eine bestimmte Literatur lange Zeit Angehörigen vermeintlich ‚primitiver‘ Völker in den Mund gelegt hat“.
Um trotzdem den Unterschied zu dem Englisch zu markieren, das im Buch von den Weißen gesprochen wird, habe Stingl sich eines „artifiziellen Dialekts“ bedient, der stark mit „Verschleifungen, Verzicht auf korrekte Verbkonjugation, Wegfall der Hilfsverben“ operiere. Das klingt dann, kurze Hörprobe, so: „Chhätt auch nix gegen bisschen Bildung.“ Oder: „Hassu’n Messer? Du brauchs’n Messer, um sie aussunehmen.“ Bei Everett, und das ist erzählerisch nun ein Geniestreich, ist diese Sklavensprache allerdings nur eine Performance, die die Sklaven für die Weißen aufführen, um sie ihrer Überlegenheit zu versichern. Würden sie dabei erwischt, sich der Eloquenz schuldig zu machen, könnten sie jederzeit auf offener Straße aufgeknüpft und mit der Bullenpeitsche zerfetzt werden. Untereinander jedoch sprechen die Sklaven ein makelloses Englisch und wechseln in die Sklavensprache nur, sobald ein Weißer den Raum betritt.
Knapp 140 Jahre nachdem Mark Twain den Sklaven Jim erfunden hat, entwirft ihn Percival Everett als Figur, die trotz aller gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die zu seiner Entmenschlichung getroffen wurden, über die Mittel verfügt, seine Würde als Individuum zu artikulieren. „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ist zwar auch selbst ein Anti-Sklaverei-Roman, aber als Menschen, der einem Weißen gleich über eine unantastbare Würde verfügen würde, sieht Huckleberry den früheren Sklaven Jim noch lange nicht. Er betrachtet ihn eher in der Weise als Freund, wie man seinen Hund als Freund betrachtet, immer wieder erstaunt, zu welchen Empfindungen und Einfällen er in der Lage ist.
Metaphorisch bleibt durch den Perspektivwechsel jedenfalls kein Stein auf dem anderen. Bei Mark Twain waren, geschult an der romantischen Naturdichtung von Walt Whitman, die Insel und der Fluss idyllische Gegenwelten zu der unzivilisierten Zivilisation am Ufer, humanistische Enklaven, in denen sich zwischen dem weißen Jungen Huckleberry und dem schwarzen Erwachsenen Jim eine Freundschaft entwickeln kann, die einen hoffnungsvollen Vorschein auf eine bessere Zukunft bietet.
Aus der Perspektive von Jim aber kann von Idylle keine Rede sein, weil er jeden Moment daran denkt, dass seine Frau und seine Tochter noch immer in der Hand der Plantagenbesitzer sind und jetzt womöglich für seine Flucht bestraft werden. Er ist in jeder Sekunde aufs Äußerste verzweifelt, es gibt für ihn keine Momente friedlicher Kontemplation. Die Wahrnehmungen der ganzen Situation könnten sich fundamentaler nicht unterscheiden, und einmal spricht Jim diese Differenz mit Blick auf den abenteuerlustigen Huck direkt an: „Ehrlich gesagt bewunderte ich das, ja beneide ihn darum, dass er so empfinden konnte, in seiner Welt, ohne die Angst, gehängt zu werden oder Schlimmeres.“
Und damit zurück zu der Stier-Serie von Picasso: Was „James“ am Ende zu so einem außerordentlichen und ja, einschneidenden Roman macht, ist nicht nur die erstaunliche Dichte an bezwingenden erzählerischen Entscheidungen, sondern vor allem seine Einfachheit und Konzentriertheit. Keine Ausflüge ins Essayistische, keine metafiktionalen Loopings, keine tagespolitischen Gegenwartsbezüge.
Trotzdem hat man kaum jemals so klar begriffen, warum das weiße und das nicht-weiße Amerika bis heute nicht so recht zu einer gemeinsamen geschichtlichen Erzählung finden, wie in diesem Roman. Everett stellt Twains „Huckleberry Finn“ geradezu vom Kopf auf die Füße, seine Adaption ist Einspruch und Verneigung zugleich, und vermutlich gerade deshalb so eine kraftvolle Zerstörung eines der zentralen Romane der amerikanischen Literaturgeschichte hin zu seinem Urzustand.
FELIX STEPHAN
Es gibt keine Idylle,
Jim ist in jeder Sekunde
aufs Äußerste verzweifelt
Ursprung der modernen amerikanischen Literatur in der Verfilmung aus dem Jahr 1960: Archie Moore als Jim und Eddie Hodges als Huckleberry Finn in „Abenteuer am Mississippi“.
Foto: imago / United Archives
Percival Everett: James. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2024.
336 Seiten, 26 Euro.
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