Huckleberry Finn neu erzählt Jim spielt den Dummen. Es wäre zu gefährlich, wenn die Weißen wüssten, wie intelligent und gebildet er ist. Als man ihn nach New Orleans verkaufen will, flieht er mit Huck gen Norden in die Freiheit. Auf dem Mississippi jagt ein Abenteuer das nächste: Stürme, Überschwemmungen, Begegnungen mit Betrügern und Blackface-Sängern. Immer wieder muss Jim mit seiner schwarzen Identität jonglieren, um sich und seinen jugendlichen Freund zu retten. Percival Everetts 'James' ist einer der maßgeblichen Romane unserer Zeit, eine unerhörte Provokation, die an die Grundfesten des amerikanischen Mythos rührt. Ein auf den Kopf gestellter Klassiker, der uns aufrüttelt und fragt: Wie lesen wir heute?
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude freut sich, dass Percival Everett in seinem Roman eine "Twainsche Leerstelle" füllt. Denn der Autor schreibe hier in weiten Teilen an Mark Twains "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" entlang, nehme dabei aber die Perspektive des schwarzen Sklaven James bzw. Jim ein, der Huck auf seiner Reise begleitet. Wie der afroamerikanische Schriftsteller Sklaverei und Rassismus diesmal weniger blutig behandle als etwa im vorangegangenen Rache-Roman "Die Bäume", findet Staude spannend zu lesen: So lasse er seinen Protagonisten etwa einen sprachlichen "Sklavenfilter" einziehen, sobald er mit Weißen redet - aus der hochgebildeten Sprache Jims wird dann ein Slang, um der Erwartungshaltung des weißen Gegenübers zu entsprechen. Vorzüglich werde dies von Nikolaus Stingl übersetzt, lobt Staude. Ebenfalls spannend findet sie die Passagen, in denen Jim in einer Art Traum-Delirium mit Voltaire über dessen Begriff von Freiheit philosophiert und diesen dabei sogar zu gewissen Formulierungen inspiriert. Eine "realistische" Figur sei das natürlich nicht, und oft fungiere sie auch als erhobener Zeigefinger. Aber darum gehe es auch nicht in diesem "unterhaltsamen" und höchst "sprachbewussten" Roman, so Staude, sondern um den Anbruch einer neuen Zeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Bereichern statt bereinigen
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett stellt Mark Twains "Huckleberry Finn" auf den Kopf: Aus dem naiven Jim des Romanklassikers wird ein Meister der Ironie. Und als solcher erweist sich denn auch der Autor des Romans "James".
Von Andreas Platthaus
Es ist erst wenige Tage her, dass über die Darstellung des Jim Knopf aus Michael Endes Kinderbüchern gestritten wurde, nachdem der Verlag als rassistisch interpretierte Charakteristika der Figur abgeändert hatte - in Wort und Bild. Die Empfindlichkeiten im öffentlichen Gespräch gerade über Fragen von Identität haben drastisch zugenommen, und ein gewachsener Stolz der Angehörigen von ehedem als randständig angesehenen gesellschaftlichen Gruppen geht einher mit ihrer apodiktischen Ablehnung jeglicher Form von Fremdzuschreibung, die nicht dem eigenen Bild entspricht. Verschärft wird diese Dichotomie durch das Beharren auf Exklusivität beim Gebrauch bestimmter Begrifflichkeiten - und zwar auf rechter wie linker Seite. Wie wäre da zu vermitteln?
Durch Kunstfertigkeit, der es gelingt, die heikle Auseinandersetzung geistvoll zu entschärfen, und ein Königsweg dabei ist Ironie. Wie sie Percival Everett mit seinem Roman "James" beweist. Wie sehr dieser Autor, geboren 1956 in Georgia und seit mehr als einem Vierteljahrhundert an der University of Southern California in Los Angeles Literaturwissenschaft lehrend, als wichtiger Protagonist eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins gilt, zeigt die Tatsache, dass "James" auf Deutsch einige Tage vor der amerikanischen Publikation erscheint. Der Hanser Verlag weiß, dass jenes aufgeklärte Publikum, für das Everett schreibt, polyglott ist und zum englischsprachigen Original greifen würde, um zu lesen, wie er aufs Herz der Debatte zielt.
"James" bedient sich einer literarischen Folie, eines der berühmtesten Romane überhaupt: "Huckleberry Finn" von Mark Twain, erschienen 1884. Doch auch der ist ungeachtet seines humanistischen Gegenstands - der jugendliche weiße Titelheld und der schwarze Sklave Jim fliehen gemeinsam aus ihrem Heimatort am Mississippi, um Jims Weiterverkauf zu verhindern - längst in den Fokus der Sprachkritik geraten. Was auch kaum zu verhindern war, hebt doch Mark Twains Roman mit folgender Erklärung an: "In diesem Buch werden mehrere Dialekte gesprochen, als da sind: der Negerdialekt von Missouri . . .", und dann folgen noch sechs weitere der weißen Bevölkerung, doch es ist der durch "Huckleberry Finn" kodifizierte Sklavenslang, der heute inopportun ist (um es höflich zu sagen).
Die jüngste der zahlreichen deutschen Übersetzungen, angefertigt 2010 von Andreas Nohl, merkt dazu kritisch an: "Die Liebenswürdigkeit des Charakters Jim kann über einen schwerwiegenden Mangel nicht hinwegtäuschen: Jim wird, obgleich er zwei Kinder hat und sicher über dreißig Jahre alt ist, in seinen Reaktionen nicht als erwachsener Mann gezeichnet. [...] Dies macht den Roman als Lektüre für afroamerikanische Kinder und Jugendliche und teilweise auch für ihre Eltern schwer erträglich, als Schulbuch indiskutabel." Gleichwohl hat "Huckleberry Finn" literarisch Schule gemacht wie sonst in den Vereinigten Staaten nur "Moby-Dick". Und Percival Everett verneigt sich am Schluss von "James" vor Mark Twain: "Sein Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde."
Was aber stellt Everett nun damit an? Er verwandelt gerade das heute umstrittenste Element von "Huckleberry Finn", den Duktus von Jim, in eine große Farce, aufgeführt von den schwarzen Sklaven im Umgang mit ihren weißen Herren. Gleich zu Beginn erteilt Jim seiner Tochter und deren schwarzen Spielgefährten Sprachunterricht: "Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen. Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden." So elaboriert und reflektiert diese Lektion klingt, so gewählt sprechen alle Schwarzen in Everetts Buch miteinander - bis sie in Hörweite von Weißen kommen. Dann benutzen sie den "Sklavenfilter", wie Jim dieses Verfahren nennt.
Oder besser gesagt: James. Denn Jim weiß, dass auch sein Name zur Sklavenidentität gehört. "Man nennt mich Jim", notiert er sich, als er zum ersten Mal zu schreiben wagt: "Ich muss mir erst noch einen Namen ausdenken." Das zweite Notat hebt dann schon so an: "Ich heiße James", und am Schluss, als er zurückkehrt, um seine Familie zu befreien, ist seine Selbstfindung im Schreibprozess vollendet: "Mein Name gehörte endlich mir." Auf seinem Rachefeldzug gegen die Peiniger von seinesgleichen wird er ihn einsetzen wie einen Fluch.
Jim ist ein anderer bei Everett; vor allem ist er auch Ich-Erzähler des Romans, übernimmt also die Rolle von Huck Finn, der in "James" zu einem kindlichen Jungen wird und damit wiederum jene Unselbständigkeit personifiziert, die Mark Twain für Jim reservierte. Ansonsten entspricht der neue Roman dem bekannten Verlauf des alten: Jim und Huck treffen sich zufällig auf Jackson's Island im Mississippi, wo sie beide Zuflucht gefunden haben und schlagen sich auf einem Floß nach Süden durch, um über den Ohio in einen jener Bundesstaaten zu gelangen, in denen die Sklaverei schon aufgehoben ist. Sie treffen auf das Gaunerpaar, das sich mit den Titeln eines Herzogs und des französischen Thronfolgers schmückt, werden mehrfach getrennt, und die Tatsache, dass Twain seinen Huck etliche Abenteuer ohne Jim bestreiten lässt, nutzt Everett zur Verknappung seines eigenen Romans, der nur halb so umfangreich ist wie das Vorbild. Er setzt jedoch die Kenntnis von Twains Buch voraus, wenn er etwa die tödliche Familienfehde zwischen den Sheperdsons und den Grangerfords auf nur drei Seiten abhandelt - und genauso überraschend, wie zu deren blutigem Finale bei Twain Jim wieder auftaucht, tut es nun bei Everett der Junge. Im Verlauf erweist sich "James" immer mehr als jener Rollentausch, den Percival Everett der ganzen amerikanischen Literatur nicht vor-, aber verschreibt: Schwarzes Leben rückt an die Stelle des weißen.
Das tut Everett bereits seit vierzig Jahren, aber auf Deutsch erschienen sind von seinen mehr als dreißig Büchern nur wenige: Als erste Übersetzung kam vor anderthalb Jahrzehnten "Ausradiert" (im Original "Erasure") heraus, bis heute der größte amerikanische Romanerfolg von Everett, der gerade erst unter dem Titel "American Fiction" verfilmt worden ist (und für fünf Oscars nominiert war). Bereits diesem in den Vereinigten Staaten 2001 erschienenen Buch war ein Motto von Mark Twain vorangestellt: "Ich könnte nie eine Lüge erzählen, die irgendjemand anzweifeln würde, und auch keine Wahrheit, die irgendjemand glauben würde." Everett erzählt darin die Geschichte eines schwarzen Literaturprofessors, dessen Romane kein Publikum finden, weil sie nicht in Ghettosprache abgefasst sind - bis er aus Zorn über die klischeegesättigten Bestseller anderer schwarzer Autoren auch solch ein Buch schreibt, unter Pseudonym. Natürlich wird es ein Riesenerfolg, doch nun muss der Intellektuelle die Rolle eines hartgesottenen Autors aus der Gosse spielen. Die Parallele zur erzwungenen schwarzen Selbstverleugnung als Thema von "James" zeigt, wie konsequent Everett seine Themen verfolgt.
Aber erst seit der heute Siebenundsechzigjährige jüngst ins Programm von Hanser aufgenommen wurde - vor "James" erschienen dort 2022 "Erschütterung" und 2023 "Die Bäume", beide ebenfalls von Nikolaus Stingl übersetzt -, hat er ein deutsches Publikum gefunden, obwohl es schon 2014 so aussah, als könnte er sich hierzulande etablieren: Damals erschienen gleich zwei Romane, "God's Country" und "Ich bin nicht Sidney Poitier", beides ebenso hochironische Spiele mit literarischen Topoi schwarzer Identität wie die drei Hanser-Titel. Aber es besteht kaum Zweifel, dass "James" die Wahrnehmung von Everett auf eine neue Ebene heben wird, nachdem sich die aberwitzig schwarze (humoristisch wie soziologisch) Krimifarce "Die Bäume" zum Verkaufsschlager entwickelt hat.
Stingl stand bei "James" vor ganz anderen Herausforderungen als bei seinen beiden früheren Everett-Romanen: "Versucht man, die speziellen Eigenarten des von Schwarzen gesprochenen Südstaatenenglisch im Deutschen nachzubilden, stößt man rasch an Grenzen bzw. läuft Gefahr, eine Art retardiertes, einfältiges Idiom zu produzieren." Durch Schaffung eines künstlichen Dialekts in phonetischer Schreibweise hat er das Problem gelöst, wobei Andreas Nohl oder Friedhelm Rathjen (zwei "Huckleberry Finn"-Kollegen) bei Twains Jim ähnlich vorgegangen sind. Ein einziges Mal haben Stingl und das Lektorat versagt: als der bis dahin stets als "Herzog" bezeichnete Gauner plötzlich als "Duke" apostrophiert wird. Aber sonst entspricht die Übersetzung genau Everetts Absicht: Anklang ans Vorbild von Twain.
Umso schockierender sind in dieser Jugendbuchstimmung dann die Gewalteinbrüche. Was Twain von der jugendlichen Naivität seines Ich-Erzählers verkennen lässt, die blutige Brutalität einer Sklavenhaltergesellschaft, das erkennt der wissensbegierige Jim in "James" umso deutlicher. In der Bibliothek von Richter Thatcher hat er Voltaire und John Locke gelesen, und in seinen Träumen führt er mit ihnen Gespräche, die nicht eben schmeichelhaft für die Klassiker ausgehen.
Jim und seine schwarzen Leidensgenossen erfreuen sich auch ihrer kaschierten Überlegenheit, wenn sie wieder einmal einen Weißen getäuscht haben: "'Jetzt wird er sich betrinken, nicht so sehr, weil er's kann, sondern weil wir es nicht können', sagte ich. Luke schmunzelte. 'Und wenn wir ihn dann später herumtorkeln und sich zum Narren machen sehen, ist das dann ein Beispiel von proleptischer oder von dramatischer Ironie?' 'Könnte beides sein.' 'Das wäre dann wirklich ironisch.'" Nein, witziger und dabei böser ist die amerikanische Gegenwartsliteratur lange nicht gewesen. Womöglich nicht mehr seit Mark Twain.
Besonders interessant wird es, wenn Everett sich inhaltlich von "Huckleberry Finn" löst. Im Gegensatz zur Handlung bei Twain ist die von "James" zeitlich klar situiert: im Jahr 1861, rund um den Ausbruch des Bürgerkriegs - auch das eine Zuspitzung der politischen Konnotation des Geschehens. Und Everett erzählt in "James" nicht nur Jims Geschichte neu. Dadurch, dass die Figuren von Twain bei ihm zu anderen Menschen werden, wird unsere Welt eine andere. Das ist das Gegenmodell zur Bereinigung von Klassikern wie Michael Endes "Jim Knopf"-Bücher: Bereicherung der Literatur. Natürlich ist das nichts für identitäre Eiferer; nicht umsonst ist "Ironie" ein von Everetts Jim so oft gebrauchtes Wort. Als der gegenüber Huck noch den dummen Neger spielt, stellt er einmal fest: "Da sin die Leute ehm komisch. Die nehm die Lühng, die sie hahm wollen, und schmeißen die Wahrheiten weg, die ihn Angs machng." Auch aktueller ist die amerikanische Gegenwartsliteratur lange nicht gewesen als mit "James" in diesem Wahljahr.
Percival Everett: "James". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2024. 336 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett stellt Mark Twains "Huckleberry Finn" auf den Kopf: Aus dem naiven Jim des Romanklassikers wird ein Meister der Ironie. Und als solcher erweist sich denn auch der Autor des Romans "James".
Von Andreas Platthaus
Es ist erst wenige Tage her, dass über die Darstellung des Jim Knopf aus Michael Endes Kinderbüchern gestritten wurde, nachdem der Verlag als rassistisch interpretierte Charakteristika der Figur abgeändert hatte - in Wort und Bild. Die Empfindlichkeiten im öffentlichen Gespräch gerade über Fragen von Identität haben drastisch zugenommen, und ein gewachsener Stolz der Angehörigen von ehedem als randständig angesehenen gesellschaftlichen Gruppen geht einher mit ihrer apodiktischen Ablehnung jeglicher Form von Fremdzuschreibung, die nicht dem eigenen Bild entspricht. Verschärft wird diese Dichotomie durch das Beharren auf Exklusivität beim Gebrauch bestimmter Begrifflichkeiten - und zwar auf rechter wie linker Seite. Wie wäre da zu vermitteln?
Durch Kunstfertigkeit, der es gelingt, die heikle Auseinandersetzung geistvoll zu entschärfen, und ein Königsweg dabei ist Ironie. Wie sie Percival Everett mit seinem Roman "James" beweist. Wie sehr dieser Autor, geboren 1956 in Georgia und seit mehr als einem Vierteljahrhundert an der University of Southern California in Los Angeles Literaturwissenschaft lehrend, als wichtiger Protagonist eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins gilt, zeigt die Tatsache, dass "James" auf Deutsch einige Tage vor der amerikanischen Publikation erscheint. Der Hanser Verlag weiß, dass jenes aufgeklärte Publikum, für das Everett schreibt, polyglott ist und zum englischsprachigen Original greifen würde, um zu lesen, wie er aufs Herz der Debatte zielt.
"James" bedient sich einer literarischen Folie, eines der berühmtesten Romane überhaupt: "Huckleberry Finn" von Mark Twain, erschienen 1884. Doch auch der ist ungeachtet seines humanistischen Gegenstands - der jugendliche weiße Titelheld und der schwarze Sklave Jim fliehen gemeinsam aus ihrem Heimatort am Mississippi, um Jims Weiterverkauf zu verhindern - längst in den Fokus der Sprachkritik geraten. Was auch kaum zu verhindern war, hebt doch Mark Twains Roman mit folgender Erklärung an: "In diesem Buch werden mehrere Dialekte gesprochen, als da sind: der Negerdialekt von Missouri . . .", und dann folgen noch sechs weitere der weißen Bevölkerung, doch es ist der durch "Huckleberry Finn" kodifizierte Sklavenslang, der heute inopportun ist (um es höflich zu sagen).
Die jüngste der zahlreichen deutschen Übersetzungen, angefertigt 2010 von Andreas Nohl, merkt dazu kritisch an: "Die Liebenswürdigkeit des Charakters Jim kann über einen schwerwiegenden Mangel nicht hinwegtäuschen: Jim wird, obgleich er zwei Kinder hat und sicher über dreißig Jahre alt ist, in seinen Reaktionen nicht als erwachsener Mann gezeichnet. [...] Dies macht den Roman als Lektüre für afroamerikanische Kinder und Jugendliche und teilweise auch für ihre Eltern schwer erträglich, als Schulbuch indiskutabel." Gleichwohl hat "Huckleberry Finn" literarisch Schule gemacht wie sonst in den Vereinigten Staaten nur "Moby-Dick". Und Percival Everett verneigt sich am Schluss von "James" vor Mark Twain: "Sein Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde."
Was aber stellt Everett nun damit an? Er verwandelt gerade das heute umstrittenste Element von "Huckleberry Finn", den Duktus von Jim, in eine große Farce, aufgeführt von den schwarzen Sklaven im Umgang mit ihren weißen Herren. Gleich zu Beginn erteilt Jim seiner Tochter und deren schwarzen Spielgefährten Sprachunterricht: "Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen. Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden." So elaboriert und reflektiert diese Lektion klingt, so gewählt sprechen alle Schwarzen in Everetts Buch miteinander - bis sie in Hörweite von Weißen kommen. Dann benutzen sie den "Sklavenfilter", wie Jim dieses Verfahren nennt.
Oder besser gesagt: James. Denn Jim weiß, dass auch sein Name zur Sklavenidentität gehört. "Man nennt mich Jim", notiert er sich, als er zum ersten Mal zu schreiben wagt: "Ich muss mir erst noch einen Namen ausdenken." Das zweite Notat hebt dann schon so an: "Ich heiße James", und am Schluss, als er zurückkehrt, um seine Familie zu befreien, ist seine Selbstfindung im Schreibprozess vollendet: "Mein Name gehörte endlich mir." Auf seinem Rachefeldzug gegen die Peiniger von seinesgleichen wird er ihn einsetzen wie einen Fluch.
Jim ist ein anderer bei Everett; vor allem ist er auch Ich-Erzähler des Romans, übernimmt also die Rolle von Huck Finn, der in "James" zu einem kindlichen Jungen wird und damit wiederum jene Unselbständigkeit personifiziert, die Mark Twain für Jim reservierte. Ansonsten entspricht der neue Roman dem bekannten Verlauf des alten: Jim und Huck treffen sich zufällig auf Jackson's Island im Mississippi, wo sie beide Zuflucht gefunden haben und schlagen sich auf einem Floß nach Süden durch, um über den Ohio in einen jener Bundesstaaten zu gelangen, in denen die Sklaverei schon aufgehoben ist. Sie treffen auf das Gaunerpaar, das sich mit den Titeln eines Herzogs und des französischen Thronfolgers schmückt, werden mehrfach getrennt, und die Tatsache, dass Twain seinen Huck etliche Abenteuer ohne Jim bestreiten lässt, nutzt Everett zur Verknappung seines eigenen Romans, der nur halb so umfangreich ist wie das Vorbild. Er setzt jedoch die Kenntnis von Twains Buch voraus, wenn er etwa die tödliche Familienfehde zwischen den Sheperdsons und den Grangerfords auf nur drei Seiten abhandelt - und genauso überraschend, wie zu deren blutigem Finale bei Twain Jim wieder auftaucht, tut es nun bei Everett der Junge. Im Verlauf erweist sich "James" immer mehr als jener Rollentausch, den Percival Everett der ganzen amerikanischen Literatur nicht vor-, aber verschreibt: Schwarzes Leben rückt an die Stelle des weißen.
Das tut Everett bereits seit vierzig Jahren, aber auf Deutsch erschienen sind von seinen mehr als dreißig Büchern nur wenige: Als erste Übersetzung kam vor anderthalb Jahrzehnten "Ausradiert" (im Original "Erasure") heraus, bis heute der größte amerikanische Romanerfolg von Everett, der gerade erst unter dem Titel "American Fiction" verfilmt worden ist (und für fünf Oscars nominiert war). Bereits diesem in den Vereinigten Staaten 2001 erschienenen Buch war ein Motto von Mark Twain vorangestellt: "Ich könnte nie eine Lüge erzählen, die irgendjemand anzweifeln würde, und auch keine Wahrheit, die irgendjemand glauben würde." Everett erzählt darin die Geschichte eines schwarzen Literaturprofessors, dessen Romane kein Publikum finden, weil sie nicht in Ghettosprache abgefasst sind - bis er aus Zorn über die klischeegesättigten Bestseller anderer schwarzer Autoren auch solch ein Buch schreibt, unter Pseudonym. Natürlich wird es ein Riesenerfolg, doch nun muss der Intellektuelle die Rolle eines hartgesottenen Autors aus der Gosse spielen. Die Parallele zur erzwungenen schwarzen Selbstverleugnung als Thema von "James" zeigt, wie konsequent Everett seine Themen verfolgt.
Aber erst seit der heute Siebenundsechzigjährige jüngst ins Programm von Hanser aufgenommen wurde - vor "James" erschienen dort 2022 "Erschütterung" und 2023 "Die Bäume", beide ebenfalls von Nikolaus Stingl übersetzt -, hat er ein deutsches Publikum gefunden, obwohl es schon 2014 so aussah, als könnte er sich hierzulande etablieren: Damals erschienen gleich zwei Romane, "God's Country" und "Ich bin nicht Sidney Poitier", beides ebenso hochironische Spiele mit literarischen Topoi schwarzer Identität wie die drei Hanser-Titel. Aber es besteht kaum Zweifel, dass "James" die Wahrnehmung von Everett auf eine neue Ebene heben wird, nachdem sich die aberwitzig schwarze (humoristisch wie soziologisch) Krimifarce "Die Bäume" zum Verkaufsschlager entwickelt hat.
Stingl stand bei "James" vor ganz anderen Herausforderungen als bei seinen beiden früheren Everett-Romanen: "Versucht man, die speziellen Eigenarten des von Schwarzen gesprochenen Südstaatenenglisch im Deutschen nachzubilden, stößt man rasch an Grenzen bzw. läuft Gefahr, eine Art retardiertes, einfältiges Idiom zu produzieren." Durch Schaffung eines künstlichen Dialekts in phonetischer Schreibweise hat er das Problem gelöst, wobei Andreas Nohl oder Friedhelm Rathjen (zwei "Huckleberry Finn"-Kollegen) bei Twains Jim ähnlich vorgegangen sind. Ein einziges Mal haben Stingl und das Lektorat versagt: als der bis dahin stets als "Herzog" bezeichnete Gauner plötzlich als "Duke" apostrophiert wird. Aber sonst entspricht die Übersetzung genau Everetts Absicht: Anklang ans Vorbild von Twain.
Umso schockierender sind in dieser Jugendbuchstimmung dann die Gewalteinbrüche. Was Twain von der jugendlichen Naivität seines Ich-Erzählers verkennen lässt, die blutige Brutalität einer Sklavenhaltergesellschaft, das erkennt der wissensbegierige Jim in "James" umso deutlicher. In der Bibliothek von Richter Thatcher hat er Voltaire und John Locke gelesen, und in seinen Träumen führt er mit ihnen Gespräche, die nicht eben schmeichelhaft für die Klassiker ausgehen.
Jim und seine schwarzen Leidensgenossen erfreuen sich auch ihrer kaschierten Überlegenheit, wenn sie wieder einmal einen Weißen getäuscht haben: "'Jetzt wird er sich betrinken, nicht so sehr, weil er's kann, sondern weil wir es nicht können', sagte ich. Luke schmunzelte. 'Und wenn wir ihn dann später herumtorkeln und sich zum Narren machen sehen, ist das dann ein Beispiel von proleptischer oder von dramatischer Ironie?' 'Könnte beides sein.' 'Das wäre dann wirklich ironisch.'" Nein, witziger und dabei böser ist die amerikanische Gegenwartsliteratur lange nicht gewesen. Womöglich nicht mehr seit Mark Twain.
Besonders interessant wird es, wenn Everett sich inhaltlich von "Huckleberry Finn" löst. Im Gegensatz zur Handlung bei Twain ist die von "James" zeitlich klar situiert: im Jahr 1861, rund um den Ausbruch des Bürgerkriegs - auch das eine Zuspitzung der politischen Konnotation des Geschehens. Und Everett erzählt in "James" nicht nur Jims Geschichte neu. Dadurch, dass die Figuren von Twain bei ihm zu anderen Menschen werden, wird unsere Welt eine andere. Das ist das Gegenmodell zur Bereinigung von Klassikern wie Michael Endes "Jim Knopf"-Bücher: Bereicherung der Literatur. Natürlich ist das nichts für identitäre Eiferer; nicht umsonst ist "Ironie" ein von Everetts Jim so oft gebrauchtes Wort. Als der gegenüber Huck noch den dummen Neger spielt, stellt er einmal fest: "Da sin die Leute ehm komisch. Die nehm die Lühng, die sie hahm wollen, und schmeißen die Wahrheiten weg, die ihn Angs machng." Auch aktueller ist die amerikanische Gegenwartsliteratur lange nicht gewesen als mit "James" in diesem Wahljahr.
Percival Everett: "James". Roman.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2024. 336 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2024An diesem Roman führt kein Weg vorbei
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett adaptiert
„Huckleberry Finn“ – erzählt aus der Perspektive des geflohenen Sklaven Jim.
Von Pablo Picasso gibt es diese berühmte Stierserie, in der das Abbild eines Stiers von links nach rechts immer reduzierter und abstrakter wird und sich das Kunstwerk graduell von realistischer hin zu begrifflicher Darstellung verschiebt. Am Ende ist der Stier künstlerisch am vollkommensten gefasst, wenn er mit einem echten Stier kaum mehr etwas zu tun hat. Eine Zerstörung des Kunstwerkes hin zum Urzustand, hat der amerikanische Kunsthistoriker Irving Lavin das Unternehmen einmal genannt, eine fortschreitende Evolution zum Ausgangspunkt.
Das wird jetzt gleich noch eine Rolle spielen, wenn es um den Roman „James“ des amerikanischen Schriftstellers Percival Everett geht, der gerade im Begriff ist, zum zentralen Ereignis des amerikanischen Literaturjahres zu werden. Am Ende des Jahres, das sei an dieser Stelle schon einmal prognostiziert, müsste er auf den einschlägigen Short- und Bestenlisten überall zu finden sein. Everett ist kein junger Schriftsteller, er hat schon mehr als dreißig Romane veröffentlicht, die vielfach preisgekrönt, allerdings in erster Linie von eingeschworenen cognoscenti gelesen wurden. 2024 scheint nun so etwas wie sein Jahr werden. Vor wenigen Wochen erst wurde der auf einem Everett-Roman basierende Spielfilm „American Fiction“ mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet.
In „James“ adaptiert Percival Everett nun seinerseits den Roman, den Ernest Hemingway einst zum Ursprung aller modernen amerikanischen Literatur erhoben hat: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, die 1885 erschienene und seitdem nie mehr aus der Zeit gefallene Geschichte des weißen Südstaaten-Jungen Huckleberry Finn, der seinen eigenen Tod vortäuscht, um seinem trunksüchtigen, prügelnden Vater zu entkommen, und des entlaufenen Sklaven Jim, den alle für den Mörder halten. Den größten Teil der Romanhandlung verbringen die beiden miteinander, sie verstecken sich auf einer Insel, fahren den Mississippi hinab, freunden sich an. Zwei Renegaten, die vor einer menschenfeindlichen und gewaltsüchtigen Gesellschaft getürmt sind, um ihr Heil in den Gegenwelten und Zwischenräumen zu suchen. Das Erzählmuster tauchte später unter anderem bei Jack Kerouac und J. D. Salinger wieder auf und wurde so etwas wie Goldstandard amerikanischer Welterschließung. In Percival Everetts Version der Geschichte ist nun allerdings nicht Huck der Erzähler, sondern Jim, und dadurch ändert sich praktisch alles.
Topografisch ist das Buch weitgehend deckungsgleich mit Twains „Huckleberry Finn“: Huck und Jim verstecken sich auf der Insel, fahren auf ihrem selbst gebauten Floß den Mississippi hinab, entrinnen den mörderischen Raddampfern, treffen auf die beiden Hochstapler, den Fürsten und den Herzog, die in beiden Büchern versuchen, Jim zu verkaufen. Umso interessanter sind deshalb die Abweichungen: Der 13-jährige Huckleberry steckt sich bei Everett zum Beispiel nicht mehr ununterbrochen Pfeifen an. Und der geflohene Sklave Jim kann lesen und schreiben.
Auf der Plantage hatte er sich unter akuter Todesgefahr Nacht für Nacht in die eher dekorativ genutzte Bibliothek seiner Besitzer geschlichen und sich dort in die Lektürelisten der europäischen Aufklärung vertieft. Einmal plündern sie unterwegs ein Boot und finden unter anderem Voltaires „Traktat über die Toleranz“ und Rousseaus „Abhandlung über die Ungleichheit“. Vor Huck muss Jim um jeden Preis verbergen, dass er lesen kann, aber er kann sich nicht beherrschen und liest die Bücher bei Nacht: „In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen (...) Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.“
Der bedeutendste Eingriff jedoch betrifft die Sprache, die der Sklave Jim bei Mark Twain spricht und die in der rezeptionsgeschichtlich maßgeblichen ersten deutschen Übersetzung der 1925 gestorbenen Kinderbuchautorin Henny Koch so klingt: „Ich mich lassen tot hauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier und warten!“ Oder so, ganz am Anfang, als der frühere Sklave erstmals auf Huckleberry Finn trifft, den er wie alle anderen für tot hält, weshalb er glaubt, einem Geist gegenüberzustehen: „Du gehen wieder in die Wasser, wo du kommen her. Nix tun gute alte Jim, nichts tun, Geist von arme Huck, sein immer gewesen deine gute Freund!“ Welchen Einfluss diese Sprache auf die deutsche Vorstellung davon hatte, wie „Ausländer“ sprechen, ist kaum zu überschätzen. Es ist noch nicht lange her, als in Deutschland auch Italienern und Türken dieses Idiom in den Mund gelegt wurde. Der Everett-Übersetzer Nikolaus Stingl merkt nun in einer Nachbemerkung zu „James“ an, dass er es mit einer „speziellen Ausprägung des Südstaatenenglisch, das im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde“ zu tun hatte, bei deren Übersetzung ins Deutsche man schnell Gefahr laufe, „eine Art retardiertes, einfältiges Idiom zu produzieren, wie es eine bestimmte Literatur lange Zeit Angehörigen vermeintlich ‚primitiver‘ Völker in den Mund gelegt hat“.
Um trotzdem den Unterschied zu dem Englisch zu markieren, das im Buch von den Weißen gesprochen wird, habe Stingl sich eines „artifiziellen Dialekts“ bedient, der stark mit „Verschleifungen, Verzicht auf korrekte Verbkonjugation, Wegfall der Hilfsverben“ operiere. Das klingt dann, kurze Hörprobe, so: „Chhätt auch nix gegen bisschen Bildung.“ Oder: „Hassu’n Messer? Du brauchs’n Messer, um sie aussunehmen.“ Bei Everett, und das ist erzählerisch nun ein Geniestreich, ist diese Sklavensprache allerdings nur eine Performance, die die Sklaven für die Weißen aufführen, um sie ihrer Überlegenheit zu versichern. Würden sie dabei erwischt, sich der Eloquenz schuldig zu machen, könnten sie jederzeit auf offener Straße aufgeknüpft und mit der Bullenpeitsche zerfetzt werden. Untereinander jedoch sprechen die Sklaven ein makelloses Englisch und wechseln in die Sklavensprache nur, sobald ein Weißer den Raum betritt.
Knapp 140 Jahre nachdem Mark Twain den Sklaven Jim erfunden hat, entwirft ihn Percival Everett als Figur, die trotz aller gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die zu seiner Entmenschlichung getroffen wurden, über die Mittel verfügt, seine Würde als Individuum zu artikulieren. „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ist zwar auch selbst ein Anti-Sklaverei-Roman, aber als Menschen, der einem Weißen gleich über eine unantastbare Würde verfügen würde, sieht Huckleberry den früheren Sklaven Jim noch lange nicht. Er betrachtet ihn eher in der Weise als Freund, wie man seinen Hund als Freund betrachtet, immer wieder erstaunt, zu welchen Empfindungen und Einfällen er in der Lage ist.
Metaphorisch bleibt durch den Perspektivwechsel jedenfalls kein Stein auf dem anderen. Bei Mark Twain waren, geschult an der romantischen Naturdichtung von Walt Whitman, die Insel und der Fluss idyllische Gegenwelten zu der unzivilisierten Zivilisation am Ufer, humanistische Enklaven, in denen sich zwischen dem weißen Jungen Huckleberry und dem schwarzen Erwachsenen Jim eine Freundschaft entwickeln kann, die einen hoffnungsvollen Vorschein auf eine bessere Zukunft bietet.
Aus der Perspektive von Jim aber kann von Idylle keine Rede sein, weil er jeden Moment daran denkt, dass seine Frau und seine Tochter noch immer in der Hand der Plantagenbesitzer sind und jetzt womöglich für seine Flucht bestraft werden. Er ist in jeder Sekunde aufs Äußerste verzweifelt, es gibt für ihn keine Momente friedlicher Kontemplation. Die Wahrnehmungen der ganzen Situation könnten sich fundamentaler nicht unterscheiden, und einmal spricht Jim diese Differenz mit Blick auf den abenteuerlustigen Huck direkt an: „Ehrlich gesagt bewunderte ich das, ja beneide ihn darum, dass er so empfinden konnte, in seiner Welt, ohne die Angst, gehängt zu werden oder Schlimmeres.“
Und damit zurück zu der Stier-Serie von Picasso: Was „James“ am Ende zu so einem außerordentlichen und ja, einschneidenden Roman macht, ist nicht nur die erstaunliche Dichte an bezwingenden erzählerischen Entscheidungen, sondern vor allem seine Einfachheit und Konzentriertheit. Keine Ausflüge ins Essayistische, keine metafiktionalen Loopings, keine tagespolitischen Gegenwartsbezüge.
Trotzdem hat man kaum jemals so klar begriffen, warum das weiße und das nicht-weiße Amerika bis heute nicht so recht zu einer gemeinsamen geschichtlichen Erzählung finden, wie in diesem Roman. Everett stellt Twains „Huckleberry Finn“ geradezu vom Kopf auf die Füße, seine Adaption ist Einspruch und Verneigung zugleich, und vermutlich gerade deshalb so eine kraftvolle Zerstörung eines der zentralen Romane der amerikanischen Literaturgeschichte hin zu seinem Urzustand.
FELIX STEPHAN
Es gibt keine Idylle,
Jim ist in jeder Sekunde
aufs Äußerste verzweifelt
Ursprung der modernen amerikanischen Literatur in der Verfilmung aus dem Jahr 1960: Archie Moore als Jim und Eddie Hodges als Huckleberry Finn in „Abenteuer am Mississippi“.
Foto: imago / United Archives
Percival Everett: James. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2024.
336 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der amerikanische Schriftsteller Percival Everett adaptiert
„Huckleberry Finn“ – erzählt aus der Perspektive des geflohenen Sklaven Jim.
Von Pablo Picasso gibt es diese berühmte Stierserie, in der das Abbild eines Stiers von links nach rechts immer reduzierter und abstrakter wird und sich das Kunstwerk graduell von realistischer hin zu begrifflicher Darstellung verschiebt. Am Ende ist der Stier künstlerisch am vollkommensten gefasst, wenn er mit einem echten Stier kaum mehr etwas zu tun hat. Eine Zerstörung des Kunstwerkes hin zum Urzustand, hat der amerikanische Kunsthistoriker Irving Lavin das Unternehmen einmal genannt, eine fortschreitende Evolution zum Ausgangspunkt.
Das wird jetzt gleich noch eine Rolle spielen, wenn es um den Roman „James“ des amerikanischen Schriftstellers Percival Everett geht, der gerade im Begriff ist, zum zentralen Ereignis des amerikanischen Literaturjahres zu werden. Am Ende des Jahres, das sei an dieser Stelle schon einmal prognostiziert, müsste er auf den einschlägigen Short- und Bestenlisten überall zu finden sein. Everett ist kein junger Schriftsteller, er hat schon mehr als dreißig Romane veröffentlicht, die vielfach preisgekrönt, allerdings in erster Linie von eingeschworenen cognoscenti gelesen wurden. 2024 scheint nun so etwas wie sein Jahr werden. Vor wenigen Wochen erst wurde der auf einem Everett-Roman basierende Spielfilm „American Fiction“ mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet.
In „James“ adaptiert Percival Everett nun seinerseits den Roman, den Ernest Hemingway einst zum Ursprung aller modernen amerikanischen Literatur erhoben hat: Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, die 1885 erschienene und seitdem nie mehr aus der Zeit gefallene Geschichte des weißen Südstaaten-Jungen Huckleberry Finn, der seinen eigenen Tod vortäuscht, um seinem trunksüchtigen, prügelnden Vater zu entkommen, und des entlaufenen Sklaven Jim, den alle für den Mörder halten. Den größten Teil der Romanhandlung verbringen die beiden miteinander, sie verstecken sich auf einer Insel, fahren den Mississippi hinab, freunden sich an. Zwei Renegaten, die vor einer menschenfeindlichen und gewaltsüchtigen Gesellschaft getürmt sind, um ihr Heil in den Gegenwelten und Zwischenräumen zu suchen. Das Erzählmuster tauchte später unter anderem bei Jack Kerouac und J. D. Salinger wieder auf und wurde so etwas wie Goldstandard amerikanischer Welterschließung. In Percival Everetts Version der Geschichte ist nun allerdings nicht Huck der Erzähler, sondern Jim, und dadurch ändert sich praktisch alles.
Topografisch ist das Buch weitgehend deckungsgleich mit Twains „Huckleberry Finn“: Huck und Jim verstecken sich auf der Insel, fahren auf ihrem selbst gebauten Floß den Mississippi hinab, entrinnen den mörderischen Raddampfern, treffen auf die beiden Hochstapler, den Fürsten und den Herzog, die in beiden Büchern versuchen, Jim zu verkaufen. Umso interessanter sind deshalb die Abweichungen: Der 13-jährige Huckleberry steckt sich bei Everett zum Beispiel nicht mehr ununterbrochen Pfeifen an. Und der geflohene Sklave Jim kann lesen und schreiben.
Auf der Plantage hatte er sich unter akuter Todesgefahr Nacht für Nacht in die eher dekorativ genutzte Bibliothek seiner Besitzer geschlichen und sich dort in die Lektürelisten der europäischen Aufklärung vertieft. Einmal plündern sie unterwegs ein Boot und finden unter anderem Voltaires „Traktat über die Toleranz“ und Rousseaus „Abhandlung über die Ungleichheit“. Vor Huck muss Jim um jeden Preis verbergen, dass er lesen kann, aber er kann sich nicht beherrschen und liest die Bücher bei Nacht: „In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen (...) Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.“
Der bedeutendste Eingriff jedoch betrifft die Sprache, die der Sklave Jim bei Mark Twain spricht und die in der rezeptionsgeschichtlich maßgeblichen ersten deutschen Übersetzung der 1925 gestorbenen Kinderbuchautorin Henny Koch so klingt: „Ich mich lassen tot hauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier und warten!“ Oder so, ganz am Anfang, als der frühere Sklave erstmals auf Huckleberry Finn trifft, den er wie alle anderen für tot hält, weshalb er glaubt, einem Geist gegenüberzustehen: „Du gehen wieder in die Wasser, wo du kommen her. Nix tun gute alte Jim, nichts tun, Geist von arme Huck, sein immer gewesen deine gute Freund!“ Welchen Einfluss diese Sprache auf die deutsche Vorstellung davon hatte, wie „Ausländer“ sprechen, ist kaum zu überschätzen. Es ist noch nicht lange her, als in Deutschland auch Italienern und Türken dieses Idiom in den Mund gelegt wurde. Der Everett-Übersetzer Nikolaus Stingl merkt nun in einer Nachbemerkung zu „James“ an, dass er es mit einer „speziellen Ausprägung des Südstaatenenglisch, das im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde“ zu tun hatte, bei deren Übersetzung ins Deutsche man schnell Gefahr laufe, „eine Art retardiertes, einfältiges Idiom zu produzieren, wie es eine bestimmte Literatur lange Zeit Angehörigen vermeintlich ‚primitiver‘ Völker in den Mund gelegt hat“.
Um trotzdem den Unterschied zu dem Englisch zu markieren, das im Buch von den Weißen gesprochen wird, habe Stingl sich eines „artifiziellen Dialekts“ bedient, der stark mit „Verschleifungen, Verzicht auf korrekte Verbkonjugation, Wegfall der Hilfsverben“ operiere. Das klingt dann, kurze Hörprobe, so: „Chhätt auch nix gegen bisschen Bildung.“ Oder: „Hassu’n Messer? Du brauchs’n Messer, um sie aussunehmen.“ Bei Everett, und das ist erzählerisch nun ein Geniestreich, ist diese Sklavensprache allerdings nur eine Performance, die die Sklaven für die Weißen aufführen, um sie ihrer Überlegenheit zu versichern. Würden sie dabei erwischt, sich der Eloquenz schuldig zu machen, könnten sie jederzeit auf offener Straße aufgeknüpft und mit der Bullenpeitsche zerfetzt werden. Untereinander jedoch sprechen die Sklaven ein makelloses Englisch und wechseln in die Sklavensprache nur, sobald ein Weißer den Raum betritt.
Knapp 140 Jahre nachdem Mark Twain den Sklaven Jim erfunden hat, entwirft ihn Percival Everett als Figur, die trotz aller gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die zu seiner Entmenschlichung getroffen wurden, über die Mittel verfügt, seine Würde als Individuum zu artikulieren. „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ ist zwar auch selbst ein Anti-Sklaverei-Roman, aber als Menschen, der einem Weißen gleich über eine unantastbare Würde verfügen würde, sieht Huckleberry den früheren Sklaven Jim noch lange nicht. Er betrachtet ihn eher in der Weise als Freund, wie man seinen Hund als Freund betrachtet, immer wieder erstaunt, zu welchen Empfindungen und Einfällen er in der Lage ist.
Metaphorisch bleibt durch den Perspektivwechsel jedenfalls kein Stein auf dem anderen. Bei Mark Twain waren, geschult an der romantischen Naturdichtung von Walt Whitman, die Insel und der Fluss idyllische Gegenwelten zu der unzivilisierten Zivilisation am Ufer, humanistische Enklaven, in denen sich zwischen dem weißen Jungen Huckleberry und dem schwarzen Erwachsenen Jim eine Freundschaft entwickeln kann, die einen hoffnungsvollen Vorschein auf eine bessere Zukunft bietet.
Aus der Perspektive von Jim aber kann von Idylle keine Rede sein, weil er jeden Moment daran denkt, dass seine Frau und seine Tochter noch immer in der Hand der Plantagenbesitzer sind und jetzt womöglich für seine Flucht bestraft werden. Er ist in jeder Sekunde aufs Äußerste verzweifelt, es gibt für ihn keine Momente friedlicher Kontemplation. Die Wahrnehmungen der ganzen Situation könnten sich fundamentaler nicht unterscheiden, und einmal spricht Jim diese Differenz mit Blick auf den abenteuerlustigen Huck direkt an: „Ehrlich gesagt bewunderte ich das, ja beneide ihn darum, dass er so empfinden konnte, in seiner Welt, ohne die Angst, gehängt zu werden oder Schlimmeres.“
Und damit zurück zu der Stier-Serie von Picasso: Was „James“ am Ende zu so einem außerordentlichen und ja, einschneidenden Roman macht, ist nicht nur die erstaunliche Dichte an bezwingenden erzählerischen Entscheidungen, sondern vor allem seine Einfachheit und Konzentriertheit. Keine Ausflüge ins Essayistische, keine metafiktionalen Loopings, keine tagespolitischen Gegenwartsbezüge.
Trotzdem hat man kaum jemals so klar begriffen, warum das weiße und das nicht-weiße Amerika bis heute nicht so recht zu einer gemeinsamen geschichtlichen Erzählung finden, wie in diesem Roman. Everett stellt Twains „Huckleberry Finn“ geradezu vom Kopf auf die Füße, seine Adaption ist Einspruch und Verneigung zugleich, und vermutlich gerade deshalb so eine kraftvolle Zerstörung eines der zentralen Romane der amerikanischen Literaturgeschichte hin zu seinem Urzustand.
FELIX STEPHAN
Es gibt keine Idylle,
Jim ist in jeder Sekunde
aufs Äußerste verzweifelt
Ursprung der modernen amerikanischen Literatur in der Verfilmung aus dem Jahr 1960: Archie Moore als Jim und Eddie Hodges als Huckleberry Finn in „Abenteuer am Mississippi“.
Foto: imago / United Archives
Percival Everett: James. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2024.
336 Seiten, 26 Euro.
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