Jana Sophia Nolles (_1986) Living Room ist eine konzeptuelle fotografische Studie temporärer Obdachslosenbehausungen, die sie in verschiedenen Wohnungen in San Francisco nachgebaut hat. Sie arbeitete eng mit den wohnungslosen Menschen zusammen und baute ihre Zufluchtsorte anschließend in den Wohnzimmern wohlhabender Personen nach und fotografierte sie dort. Wenngleich Nolle ein hochästhetisches "Inventar, eine Typologie dieser improvisierten Unterkünfte mit all ihren Eigenschaften" erarbeitete, stellen sich ihre Fotografien dem drängenden soziopolitischen Zwiespalt zwischen sorglosem Leben und Leben in Sorge.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2020Feldforschung mit doppeltem Boden
Kunst als Sprengstoff: Jana Sophia Nolle holt die Behausungen von Obdachlosen in die Wohnzimmer der oberen Mittelklasse.
Als das Frankfurter Museum für Moderne Kunst vor fünfzehn Jahren die Skulptur "Ohne Titel" von Andreas Slominski erwarb, gab es von den Bürgern der Stadt nicht nur Applaus. Bei dem Werk handelt es sich um ein Herrenrennrad älterer Bauart, das vollgehängt ist mit prall gefüllten, schäbigen Tüten und Taschen, geradeso, wie Obdachlose sie mit all ihren Habseligkeiten bisweilen durch die Straßen schieben. Und genau dies missfiel manchem Kunstfreund - es war, als sei das vollgepackte Rad direkt ins Museum gerollt und an ungewohnter Stelle geparkt worden.
Im Zusammenhang mit Slominskis Arbeiten fällt oft der Begriff "Feldforschung", und das Museum für Moderne Kunst attestiert ihm, das Beiläufige so ins Zentrum zu holen, dass die einfachsten Dinge neu und anders wahrgenommen würden, spricht von List und Tücke, wodurch sich im Absurden unvermutete Erkenntnisse offenbarten. Es sei ein Werk voller Fallen, heißt es. Auch für Restauratoren, wie man anderswo erfährt. Die fragen sich, wie sie die Einkaufstüten aus Polyethylen erhalten können.
Slominskis Falle ist nicht das Werk, sondern der Kontext, in dem es gezeigt wird. Das ist nicht neu. Marcel Duchamp hat diesen Gedanken bereits vor gut hundert Jahren mit seinem Urinal formuliert. Und die Surrealisten haben die Idee gewissermaßen fortgeführt, als sie die Begegnung des Regenschirms mit der Nähmaschine auf einem Operationstisch einfädelten.
Jana Sophia Nolle hat Politikwissenschaft und Anthropologie studiert, war Wahlbeobachterin im Ostblock und in Asien und hat vier Jahre lang in Berlin die Fotoschule Ostkreuz besucht. Dass sie sich als Künstlerin auf interdisziplinärem Boden bewegt, ist deshalb nur konsequent. Als sie im August 2016 zum ersten Mal San Francisco besuchte, war sie schockiert von der großen Zahl von Obdachlosen und dem engen Beieinander von Armut und Wohlstand - was sie auf die Idee brachte, die beiden Welten noch enger zu verzahnen, indem sie nach Familien suchte, die ihr erlaubten, die wackeligen Behausungen von Stadtstreichern bei ihnen im Wohnzimmer aufzustellen.
Das klingt nach doppelter Feldforschung, denn die Arbeit gewährt ebenso Einblick in den nivellierten innenarchitektonischen Geschmack der oberen Mittelklasse wie in den Erfindungsreichtum derer, die sich aus Abfall eine Behausung konstruieren. Es klingt in der ungewöhnlichen Kombination auch nach den bizarren Szenerien düsterer Märchen und Albträume. Und nicht zuletzt könnte sich in der Arbeit sozialer Sprengstoff verstecken. Aber während in Jana Sophia Nolles fünfzehn Farbfotografien, in denen sie die Installationen festgehalten hat, die Welt der Armen und die Welt der Reichen unmittelbar aufeinandertreffen, erfährt man nichts von einer Begegnung der jeweiligen Bewohner.
Es war die Künstlerin selbst, die aus Pappschachteln und Brettern, aus Kisten, Folien und Einkaufswagen die höhlenartigen Unterschlüpfe konstruiert hat. Die Teile dazu holte sie sich bei den Obdachlosen, wie der "Index" genannte zweite Teil des Buchs mit fünfzehn Begegnungen zeigt. Und es hat ihr zudem jeder dieser Menschen ein Brieflein geschrieben mit Texten, in denen sie etwa aufzählen, was ihnen fehlt: ein Haus, eine Familie, Freunde, Träume, Hoffnung. Davon, dass ihnen eine Künstlerin gefehlt hat, die in deren Umgang mit Abfall eine ästhetische Leistung erkennt und sich davon zu museumstauglicher Kunst anregen lässt, ist indes nichts zu lesen. Und doch entwickelt die Arbeit eine politische Dimension, welche der sozialdokumentarischen Fotografie von heute nur allzu oft verlustig gegangen ist. Noch so eine Falle.
FREDDY LANGER
Jana Sophia Nolle: "Living Room". San Francisco 2017/2018.
Kerber Verlag,
Bielefeld 2020. Unpag., Abb., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kunst als Sprengstoff: Jana Sophia Nolle holt die Behausungen von Obdachlosen in die Wohnzimmer der oberen Mittelklasse.
Als das Frankfurter Museum für Moderne Kunst vor fünfzehn Jahren die Skulptur "Ohne Titel" von Andreas Slominski erwarb, gab es von den Bürgern der Stadt nicht nur Applaus. Bei dem Werk handelt es sich um ein Herrenrennrad älterer Bauart, das vollgehängt ist mit prall gefüllten, schäbigen Tüten und Taschen, geradeso, wie Obdachlose sie mit all ihren Habseligkeiten bisweilen durch die Straßen schieben. Und genau dies missfiel manchem Kunstfreund - es war, als sei das vollgepackte Rad direkt ins Museum gerollt und an ungewohnter Stelle geparkt worden.
Im Zusammenhang mit Slominskis Arbeiten fällt oft der Begriff "Feldforschung", und das Museum für Moderne Kunst attestiert ihm, das Beiläufige so ins Zentrum zu holen, dass die einfachsten Dinge neu und anders wahrgenommen würden, spricht von List und Tücke, wodurch sich im Absurden unvermutete Erkenntnisse offenbarten. Es sei ein Werk voller Fallen, heißt es. Auch für Restauratoren, wie man anderswo erfährt. Die fragen sich, wie sie die Einkaufstüten aus Polyethylen erhalten können.
Slominskis Falle ist nicht das Werk, sondern der Kontext, in dem es gezeigt wird. Das ist nicht neu. Marcel Duchamp hat diesen Gedanken bereits vor gut hundert Jahren mit seinem Urinal formuliert. Und die Surrealisten haben die Idee gewissermaßen fortgeführt, als sie die Begegnung des Regenschirms mit der Nähmaschine auf einem Operationstisch einfädelten.
Jana Sophia Nolle hat Politikwissenschaft und Anthropologie studiert, war Wahlbeobachterin im Ostblock und in Asien und hat vier Jahre lang in Berlin die Fotoschule Ostkreuz besucht. Dass sie sich als Künstlerin auf interdisziplinärem Boden bewegt, ist deshalb nur konsequent. Als sie im August 2016 zum ersten Mal San Francisco besuchte, war sie schockiert von der großen Zahl von Obdachlosen und dem engen Beieinander von Armut und Wohlstand - was sie auf die Idee brachte, die beiden Welten noch enger zu verzahnen, indem sie nach Familien suchte, die ihr erlaubten, die wackeligen Behausungen von Stadtstreichern bei ihnen im Wohnzimmer aufzustellen.
Das klingt nach doppelter Feldforschung, denn die Arbeit gewährt ebenso Einblick in den nivellierten innenarchitektonischen Geschmack der oberen Mittelklasse wie in den Erfindungsreichtum derer, die sich aus Abfall eine Behausung konstruieren. Es klingt in der ungewöhnlichen Kombination auch nach den bizarren Szenerien düsterer Märchen und Albträume. Und nicht zuletzt könnte sich in der Arbeit sozialer Sprengstoff verstecken. Aber während in Jana Sophia Nolles fünfzehn Farbfotografien, in denen sie die Installationen festgehalten hat, die Welt der Armen und die Welt der Reichen unmittelbar aufeinandertreffen, erfährt man nichts von einer Begegnung der jeweiligen Bewohner.
Es war die Künstlerin selbst, die aus Pappschachteln und Brettern, aus Kisten, Folien und Einkaufswagen die höhlenartigen Unterschlüpfe konstruiert hat. Die Teile dazu holte sie sich bei den Obdachlosen, wie der "Index" genannte zweite Teil des Buchs mit fünfzehn Begegnungen zeigt. Und es hat ihr zudem jeder dieser Menschen ein Brieflein geschrieben mit Texten, in denen sie etwa aufzählen, was ihnen fehlt: ein Haus, eine Familie, Freunde, Träume, Hoffnung. Davon, dass ihnen eine Künstlerin gefehlt hat, die in deren Umgang mit Abfall eine ästhetische Leistung erkennt und sich davon zu museumstauglicher Kunst anregen lässt, ist indes nichts zu lesen. Und doch entwickelt die Arbeit eine politische Dimension, welche der sozialdokumentarischen Fotografie von heute nur allzu oft verlustig gegangen ist. Noch so eine Falle.
FREDDY LANGER
Jana Sophia Nolle: "Living Room". San Francisco 2017/2018.
Kerber Verlag,
Bielefeld 2020. Unpag., Abb., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Freddy Langer entdeckt in der fotografischen Dokumentation der Arbeit von Jana Sophia Nolle in diesem Band eine politische Dimension, auch wenn die Künstlerin selber Hand anlegte, um abenteuerliche Obdachlosenbehausungen in Mittelstandswohnzimmern nachzubauen, und die Obdachlosen selber nur mit Begleittexten vertreten sind, in denen sie einige ihrer Wünsche äußern. Für Langer eine "doppelte Feldforschung", da Nolle gleich zwei Lebenswelten abbildet und gegeneinanderhält, aber in der Wirkung für ihn auch vergleichbar den "Szenerien düsterer Märchen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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