Japan stilisiert sein öffentliches Bild gerne als monolithischen Block, eine Nation, die in einer jahrhundertelangen Tradition lebt, kulturell isoliert vom Rest der Welt, mit einer ethnisch und ethisch homogenen und auf Harmonie bedachten Gesellschaft. Wer wie ich gerne den japanischen Staatssender
NHK World sieht, kommt unweigerlich zu dem Schluss, dieses Bild sei die Realität. „Japan – ein Land…mehrJapan stilisiert sein öffentliches Bild gerne als monolithischen Block, eine Nation, die in einer jahrhundertelangen Tradition lebt, kulturell isoliert vom Rest der Welt, mit einer ethnisch und ethisch homogenen und auf Harmonie bedachten Gesellschaft. Wer wie ich gerne den japanischen Staatssender NHK World sieht, kommt unweigerlich zu dem Schluss, dieses Bild sei die Realität. „Japan – ein Land im Umbruch“ bietet einen wesentlich differenzierteren Blick auf dieses Land und hinterfragt die erwähnten Mythen mit respektvoller Distanz und Sympathie, aber durchaus kritisch. Die Autoren des Buches sind Mitglieder einer losen Studiengruppe der Werner Reimers Stiftung und beleuchten die verschiedenen Aspekte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen.
Spätestens seit der Jahrtausendwende sind viele Dogmen ins Wanken geraten. Japan war das erste Industrieland, dessen Bevölkerung rapide zu altern begann und seitdem reißt dort die Diskussion um geregelte Migration nicht ab. Japan verhindert, anders als Deutschland, die unqualifizierte Migration und schiebt nicht arbeitende Einwanderer konsequent ab. Es ist ein rein utilitaristischer Ansatz, der aber bei näherem Hinsehen auch nicht wirklich funktioniert.
Die Autoren des Buches zeigen anhand vieler Beispiele, dass Wunsch und Wirklichkeit in vielen Bereichen erheblich auseinanderdriften und dass das Narrativ der „homogenen Mittelstandsgesellschaft“ selbst in Japan niemand mehr glaubt. Es wird vor allem dem Ausland gegenüber aufrecht erhalten. Die Autoren untersuchen Japans Strategien auch im internationalen Kontext, z. B. bezüglich seiner Entwicklungshilfeprojekte, Handelsinteressen und Wirtschaftspolitik. Besonders interessant ist Franz Waldenbergers Artikel zur japanischen Staatsverschuldung, der sehr differenziert die einzigartige Konstellation beschreibt. Ein weiterer Schwerpunkt sind Geschlechterfragen, die auch in Japan diskutiert werden. Die Maßnahmen zur „Gleichberechtigung“ erweisen sich bei näherem Hinsehen als Schaufensterpolitik ohne Wirkung. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Japan weiter entfernt als in jeder anderen entwickelten Demokratie (allerdings gibt es auch keine homophoben Übergriffe, wie hierzulande) und die japanische Justizreform bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Trotzdem ist auch in diesen Bereichen das Japan von 2022 nicht mehr das Japan des Jahres 2000. Es ist einiges in Bewegung geraten und liebgewonnene Narrative werden zunehmend aufgegeben. Dass der Präsident des japanischen Olympischen Komitees nach frauenfeindlichen Bemerkungen 2021 seinen Hut nehmen musste, kam wohl nicht nur für ihn überraschend.
Die Beiträge sind qualitativ unterschiedlich, was nicht nur an den literarischen Fähigkeiten der Autoren liegt. Ein echtes Highlight ist Florian Coulmas Eingangsbeitrag zur alternden Gesellschaft. Eloquent, messerscharf analysiert, aktuell und trotzdem hochgradig pointiert und unterhaltsam. Ich habe vor einiger Zeit sein Buch zur Kultur Japans gelesen und halte es immer noch für eines der besten überhaupt zu dem Thema. Das absolute Gegenbeispiel ist Gisela Trommsdorffs (Jahrgang 1941) Beitrag zur Jugend Japans: Ein verschwurbelter Satzbau und akademische Nebelkerzen können nur mühsam verbergen, dass die Autorin einige wenige und noch dazu simple Gedanken in immer neue Sätze unter Verwendung der gerade aktuellen soziologischen Buzzwords kleidet. Es ist das Musterbeispiel einer akademischen Luftnummer, aber zum Glück ist so etwas selten. Fast alle anderen Beiträge sind ausgesprochen lesenswert und bringen interessante Aspekte ans Licht, die in den deutschen Medien weitgehend unbeachtet bleiben - und wie ich eingangs schon sagte, auch in den an das Ausland gerichteten japanischen Medien. Der Untertitel „Ein Land im Umbruch“ trifft es perfekt.
Wer Japan unter der spiegelnden Oberfläche seiner Selbstdarstellung kennenlernen möchte, dem ist dieses Buch sehr zu empfehlen.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)