Für die Mutter hinter den Sternen
Königsweg zur Kunst: "Jawlensky" von Bette Westera und Sylvia Weve
Der Junge ist mit seinem Vater an einen neuen Ort gezogen, die Mutter ist nicht dabei. "Man kann sie nur nicht sehen", sagt der Junge zu den anderen Kindern. "Was man nicht sieht, das gibt es nicht", sagen die. Doch der Vater hat ihm gesagt, dass die Mutter jetzt hinter den Sternen wohne. Deshalb malt der Junge ein Bildnis seiner Mutter, wie er sie sich vorstellt, hält es in der Dunkelheit vor das Fenster und fragt in Richtung Himmel: "Das hier bist du. Schön, nicht?"
Der Titel des Buchs "Jawlensky. Mit ihren Augen", für das Bette Westera die Texte geschrieben und Sylvia Weve die prächtigen Illustrationen geschaffen hat, ist ein wenig irreführend. Denn es geht gar nicht um Alexej von Jawlensky, den berühmten, in Russland geborenen Künstler des Expressionismus. Weves Bilder lehnen sich zwar an dessen Gesichter mit den ausdrucksstarken Augen und seine Farbexplosionen an, nehmen aber auch andere Elemente auf, von Picasso, Marc Chagall oder Van Gogh. Es geht vielmehr um den Jungen, der für die Mutter "hinter den Sternen" sichtbar werden will, mit seinem künstlerischen Schaffen, groß genug, dass sie es von dort sehen kann: Er malt also das Haus, in dem er nun lebt, auf eine Brandmauer; dann auf den Kirchplatz das ganze Dorf; dann um eine Landschaft herum mit schwarzer Farbe einen Kontur; dann auf den Flugplatz ein riesiges Porträt des Vaters; endlich zeichnet er "ein paar schöne nackte Frauen und hält sie vor das Fenster". Die Antwort bleibt aus.
Am Ende zeigt der Junge der Mutter hinter den Sternen das Bild, das er von sich selbst gemalt hat: "Das bin ich. Schön, nicht?" Er hat verstanden, was es heißt, ein Selbstporträt zu malen, vielleicht sogar, dass man sich auch selbst gefallen darf. Ganz bestimmt aber, dass die Schönheit, mit dem alten Aphorismus, im Auge des Betrachters liegt, so auch in den Augen der mütterlichen Betrachterin. Vor allem hat er gelernt, dass Schönheit, die in der Kunst sichtbar wird, keineswegs reine Äußerlichkeit meint, sondern im Blick auf die Menschen wie auf die Dinge entsteht - nicht einfach Abbildung, nicht möglichst genaue Nachahmung von Natur. Sondern dass die Kunst eine eigene Wirklichkeit erschafft, sie eben "mit ihren Augen" sieht - so wie die ferne, für den Jungen nicht sichtbare Mutter auf ihr Kind schaut, das ihre Liebe in seiner Phantasie erfahren kann.
Das Buch braucht kluge Begleitung beim Betrachten und Lesen, wenn es sich Kindern erschließen soll. Sie werden seine tiefe Botschaft, die nichts Geringeres als die Wahrheit der Kunst meint, nicht allein herausfinden. Womöglich leiden sie mit dem Jungen, dessen vergebliche Anläufe, die tote Mutter in den Nächten zu erreichen, traurig machen. Werden sie damit alleingelassen, erschließt sich ihnen die wichtige Lehre nicht, die im Buch sanft unaufdringlich eben nicht erteilt, sondern sichtbar gemacht wird: Es geht um den Königsweg zur Erkenntnis aller Kunst und unseres schöpferischen Umgangs mit der Kunst, den wir ein Leben lang gehen dürfen, haben wir ihn erst einmal betreten.
ROSE-MARIA GROPP
Bette Westera, Sylvia Weve: "Jawlensky. Mit ihren Augen".
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019. 32 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Königsweg zur Kunst: "Jawlensky" von Bette Westera und Sylvia Weve
Der Junge ist mit seinem Vater an einen neuen Ort gezogen, die Mutter ist nicht dabei. "Man kann sie nur nicht sehen", sagt der Junge zu den anderen Kindern. "Was man nicht sieht, das gibt es nicht", sagen die. Doch der Vater hat ihm gesagt, dass die Mutter jetzt hinter den Sternen wohne. Deshalb malt der Junge ein Bildnis seiner Mutter, wie er sie sich vorstellt, hält es in der Dunkelheit vor das Fenster und fragt in Richtung Himmel: "Das hier bist du. Schön, nicht?"
Der Titel des Buchs "Jawlensky. Mit ihren Augen", für das Bette Westera die Texte geschrieben und Sylvia Weve die prächtigen Illustrationen geschaffen hat, ist ein wenig irreführend. Denn es geht gar nicht um Alexej von Jawlensky, den berühmten, in Russland geborenen Künstler des Expressionismus. Weves Bilder lehnen sich zwar an dessen Gesichter mit den ausdrucksstarken Augen und seine Farbexplosionen an, nehmen aber auch andere Elemente auf, von Picasso, Marc Chagall oder Van Gogh. Es geht vielmehr um den Jungen, der für die Mutter "hinter den Sternen" sichtbar werden will, mit seinem künstlerischen Schaffen, groß genug, dass sie es von dort sehen kann: Er malt also das Haus, in dem er nun lebt, auf eine Brandmauer; dann auf den Kirchplatz das ganze Dorf; dann um eine Landschaft herum mit schwarzer Farbe einen Kontur; dann auf den Flugplatz ein riesiges Porträt des Vaters; endlich zeichnet er "ein paar schöne nackte Frauen und hält sie vor das Fenster". Die Antwort bleibt aus.
Am Ende zeigt der Junge der Mutter hinter den Sternen das Bild, das er von sich selbst gemalt hat: "Das bin ich. Schön, nicht?" Er hat verstanden, was es heißt, ein Selbstporträt zu malen, vielleicht sogar, dass man sich auch selbst gefallen darf. Ganz bestimmt aber, dass die Schönheit, mit dem alten Aphorismus, im Auge des Betrachters liegt, so auch in den Augen der mütterlichen Betrachterin. Vor allem hat er gelernt, dass Schönheit, die in der Kunst sichtbar wird, keineswegs reine Äußerlichkeit meint, sondern im Blick auf die Menschen wie auf die Dinge entsteht - nicht einfach Abbildung, nicht möglichst genaue Nachahmung von Natur. Sondern dass die Kunst eine eigene Wirklichkeit erschafft, sie eben "mit ihren Augen" sieht - so wie die ferne, für den Jungen nicht sichtbare Mutter auf ihr Kind schaut, das ihre Liebe in seiner Phantasie erfahren kann.
Das Buch braucht kluge Begleitung beim Betrachten und Lesen, wenn es sich Kindern erschließen soll. Sie werden seine tiefe Botschaft, die nichts Geringeres als die Wahrheit der Kunst meint, nicht allein herausfinden. Womöglich leiden sie mit dem Jungen, dessen vergebliche Anläufe, die tote Mutter in den Nächten zu erreichen, traurig machen. Werden sie damit alleingelassen, erschließt sich ihnen die wichtige Lehre nicht, die im Buch sanft unaufdringlich eben nicht erteilt, sondern sichtbar gemacht wird: Es geht um den Königsweg zur Erkenntnis aller Kunst und unseres schöpferischen Umgangs mit der Kunst, den wir ein Leben lang gehen dürfen, haben wir ihn erst einmal betreten.
ROSE-MARIA GROPP
Bette Westera, Sylvia Weve: "Jawlensky. Mit ihren Augen".
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019. 32 S., geb., 18,- [Euro]. Ab 5 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main