Jean-Paul Sartre war viele Personen in einer: radikaler Kritiker der metaphysischen Tradition, engagierter Intellektueller, Schriftsteller von hohem Rang, Solitär, Identifikationsfigur der Linken und nicht zuletzt Liebender. Seine Werke sind eng mit diesen Personen verknüpft; die Radikalität seiner Philosophie der Freiheit des Menschen wird aus ihnen erst verständlich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2001Meister des Apropos
Korrekt, aber leblos: Ein neues Porträt von Jean-Paul Sartre
Als 1964 das erste Monographiebändchen von Walter Biemel über Sartre erschien, publizierte dieser gerade "Die Wörter" und erhielt den Literaturnobelpreis, den er ablehnte. Zugleich begannen in Paris die Strukturalisten und Dekonstruktivisten, ihm die intellektuelle Wortführerschaft streitig zu machen. Sartres Engagement für 1968 und sein Besuch bei Andreas Baader in der Stammheimer Gefängniszelle 1974 standen noch bevor, und das Alterswerk "Der Idiot der Familie" über Gustave Flaubert war noch nicht einmal Projekt. Biemels Philosophenporträt war mitten aus dem Leben gegriffen. Dagegen kann diese neue Monographie ihr Thema nun von hinten aufrollen: mit der Erinnerung ans Pariser Monumentalbegräbnis im April 1980, mit der Entrücktheit eines großen Toten und der Aura eines Namens. Ist Sartre ein im klassischen Sinn erledigter Fall?
Die Autorin mag noch so zielstrebig der philosophischen Urkraft dieses Denkers nachspüren, dem Fundierungsversuch der menschlichen Freiheit in der radikalen Kontingenz des Einzeldaseins ohne den geringsten metaphysischen Horizont: Das Ergebnis erinnert mehr an ordnungsgemäßes Abspeichern eines Denkprogramms als an ein lebendig gebliebenes intellektuelles Abenteuer. Dabei ist die theoretische Herleitung durchaus korrekt. Im methodischen Dreiersprung wird in den Hauptkapiteln Sartres Denkentwicklung nachgezeichnet, die vom abstrakten Freiheitspostulat des weltlosen Subjekts in "Das Sein und das Nichts" über das mißglückte politische Engagement der Besatzungs- und ersten Nachkriegsjahre bis zum Versuch einer Anthropologie des historisch konkreten Subjekts reicht, wie es in der "Kritik der dialektischen Vernunft" sich abzeichnet. Die philosophischen Kraftlinien dieser Entwicklung, die Auseinandersetzung etwa des immer kontextuell denkenden Sartre mit Camus, Merleau-Ponty oder seinen eigenen früheren Positionen, sind bis hin zu den Selbstwidersprüchen exakt wiedergegeben. Die aus dem negativen Freiheitsbegriff von "Das Sein und das Nichts" abgeleitete Unmöglichkeit der Liebe beispielsweise - meine Freiheit hört dort auf, wo jene des anderen anfängt - wird monographisch treffend quittiert durch die Darstellung von Sartres real üppigen Frauenbeziehungen unter dem Leitstern Simone de Beauvoirs. Das legendäre Mißverständnis zwischen Sartre und Heidegger wiederum ist prägnant an einer konkreten Briefstelle Sartres festgemacht, wo die Säkularisierung des cartesianischen Ich vom Paradigma zur Anekdote umschlägt.
Die Bedeutung von Sartres OEuvre liegt aber weniger in der großen Denkbewegung zwischen den philosophischen Hauptwerken als in den überbordenden Theorieimpulsen, die von den wechselnden Situationen des immerfort in Gesellschaft implizierten Denkers ausgehen. Sie kommen in der deutschen Rezeption bis heute zu kurz. Ohne explizit philosophisch ausgewiesen zu sein, ziehen sich diese Impulse schwer systematisierbar durch die Gelegenheitsarbeiten etwa der "Situations"-Reihe - für uns heute der wohl interessanteste Aspekt an Sartres Werk, wie die Echos zum zwanzigsten Todestag vorab in Frankreich unlängst wieder gezeigt haben. Dieser Autor, der sich stets zu gigantischen, ja unmöglichen Entwürfen hingezogen fühlte, beherrschte im Grunde am besten das essayistisch ausgeführte Apropos.
So muß das hier monographisch skizzierte dreifache Porträt Sartres im Kopf des Lesers zum geistigen Hologramm ergänzt werden. Hinter dem aus den philosophischen Textquellen hergeleiteten Denker der menschlichen Freiheit, dem aus der Flaubert-Studie und "Die Wörter" mehr postulierten als real nachgewiesenen literarischen Talent sowie hinter dem mit kritischer Distanz ausgewogen porträtierten Vertreter einer säkularisierten Moral müßte das Bild des unermüdlichen Zeitzeichenlesers mit dem unerschöpflichen Mutationsvermögen sichtbar werden. Die Monographie bietet - bei etwas konventioneller Bebilderung - die solide philosophische Grundlage dazu. Das Gesamtprofil der Figur bleibt indessen zwanzig Jahre nach Jean-Paul Sartres Tod verwackelt.
JOSEPH HANIMANN.
Christa Hackenesch: "Jean-Paul Sartre". Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001. 159 S., Abb., br., 16,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Korrekt, aber leblos: Ein neues Porträt von Jean-Paul Sartre
Als 1964 das erste Monographiebändchen von Walter Biemel über Sartre erschien, publizierte dieser gerade "Die Wörter" und erhielt den Literaturnobelpreis, den er ablehnte. Zugleich begannen in Paris die Strukturalisten und Dekonstruktivisten, ihm die intellektuelle Wortführerschaft streitig zu machen. Sartres Engagement für 1968 und sein Besuch bei Andreas Baader in der Stammheimer Gefängniszelle 1974 standen noch bevor, und das Alterswerk "Der Idiot der Familie" über Gustave Flaubert war noch nicht einmal Projekt. Biemels Philosophenporträt war mitten aus dem Leben gegriffen. Dagegen kann diese neue Monographie ihr Thema nun von hinten aufrollen: mit der Erinnerung ans Pariser Monumentalbegräbnis im April 1980, mit der Entrücktheit eines großen Toten und der Aura eines Namens. Ist Sartre ein im klassischen Sinn erledigter Fall?
Die Autorin mag noch so zielstrebig der philosophischen Urkraft dieses Denkers nachspüren, dem Fundierungsversuch der menschlichen Freiheit in der radikalen Kontingenz des Einzeldaseins ohne den geringsten metaphysischen Horizont: Das Ergebnis erinnert mehr an ordnungsgemäßes Abspeichern eines Denkprogramms als an ein lebendig gebliebenes intellektuelles Abenteuer. Dabei ist die theoretische Herleitung durchaus korrekt. Im methodischen Dreiersprung wird in den Hauptkapiteln Sartres Denkentwicklung nachgezeichnet, die vom abstrakten Freiheitspostulat des weltlosen Subjekts in "Das Sein und das Nichts" über das mißglückte politische Engagement der Besatzungs- und ersten Nachkriegsjahre bis zum Versuch einer Anthropologie des historisch konkreten Subjekts reicht, wie es in der "Kritik der dialektischen Vernunft" sich abzeichnet. Die philosophischen Kraftlinien dieser Entwicklung, die Auseinandersetzung etwa des immer kontextuell denkenden Sartre mit Camus, Merleau-Ponty oder seinen eigenen früheren Positionen, sind bis hin zu den Selbstwidersprüchen exakt wiedergegeben. Die aus dem negativen Freiheitsbegriff von "Das Sein und das Nichts" abgeleitete Unmöglichkeit der Liebe beispielsweise - meine Freiheit hört dort auf, wo jene des anderen anfängt - wird monographisch treffend quittiert durch die Darstellung von Sartres real üppigen Frauenbeziehungen unter dem Leitstern Simone de Beauvoirs. Das legendäre Mißverständnis zwischen Sartre und Heidegger wiederum ist prägnant an einer konkreten Briefstelle Sartres festgemacht, wo die Säkularisierung des cartesianischen Ich vom Paradigma zur Anekdote umschlägt.
Die Bedeutung von Sartres OEuvre liegt aber weniger in der großen Denkbewegung zwischen den philosophischen Hauptwerken als in den überbordenden Theorieimpulsen, die von den wechselnden Situationen des immerfort in Gesellschaft implizierten Denkers ausgehen. Sie kommen in der deutschen Rezeption bis heute zu kurz. Ohne explizit philosophisch ausgewiesen zu sein, ziehen sich diese Impulse schwer systematisierbar durch die Gelegenheitsarbeiten etwa der "Situations"-Reihe - für uns heute der wohl interessanteste Aspekt an Sartres Werk, wie die Echos zum zwanzigsten Todestag vorab in Frankreich unlängst wieder gezeigt haben. Dieser Autor, der sich stets zu gigantischen, ja unmöglichen Entwürfen hingezogen fühlte, beherrschte im Grunde am besten das essayistisch ausgeführte Apropos.
So muß das hier monographisch skizzierte dreifache Porträt Sartres im Kopf des Lesers zum geistigen Hologramm ergänzt werden. Hinter dem aus den philosophischen Textquellen hergeleiteten Denker der menschlichen Freiheit, dem aus der Flaubert-Studie und "Die Wörter" mehr postulierten als real nachgewiesenen literarischen Talent sowie hinter dem mit kritischer Distanz ausgewogen porträtierten Vertreter einer säkularisierten Moral müßte das Bild des unermüdlichen Zeitzeichenlesers mit dem unerschöpflichen Mutationsvermögen sichtbar werden. Die Monographie bietet - bei etwas konventioneller Bebilderung - die solide philosophische Grundlage dazu. Das Gesamtprofil der Figur bleibt indessen zwanzig Jahre nach Jean-Paul Sartres Tod verwackelt.
JOSEPH HANIMANN.
Christa Hackenesch: "Jean-Paul Sartre". Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001. 159 S., Abb., br., 16,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Den Vorteil, nach Sartres Tod 1980 ihr Thema von hinten aufrollen zu können, nutzt diese neue Monografie nach Meinung des Rezensenten nur bedingt. Die Autorin, schreibt Joseph Hanimann, mag noch so zielstrebig (und methodisch durchaus korrekt) der philosophischen Urkraft des Denkers nachspüren, das Ergebnis erinnert mehr an "ordnungsgemäßes Abspeichern eines Denkprogramms als an ein lebendig gebliebenes intellektuelles Abenteuer." Woran liegt's? Hanimann sieht die Bedeutung Sartres weniger in der großen Denkbewegung zwischen den philosophischen Hauptwerken "als in den überbordenen Theorieimpulsen", die der unmittelbaren Lebenssituation entspringen. Diese jedoch kämen in der deutschen Rezeption bis heute zu kurz. Was das Buch angeht nun, so biete es, "bei etwas konventioneller Bebilderung", dem Leser immerhin eine "solide Grundlage", die "zum geistigen Hologramm", zum "Gesamtprofil" des "unermüdlichen Zeitzeichenlesers" zu ergänzen wäre.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH