Kaum eine Persönlichkeit des Mittelalters stößt bis heute auf derart großes Interesse wie Jeanne d'Arc: Johanna von Orléans (1411-1431), das Bauernmädchen aus Domrémy, fühlte sich angesichts der drohenden Niederlage der Franzosen im Hundertjährigen Kreig zum Kampf gegen die Engländer berufen. Sie begleitete das französiche Heer und trug wesentlich zur Befreiung des belagerten Orléans bei. Nach dem Sieg von Patay, die die Krönung Karls VII. ermöglichte, geriet sie in englische Gefangenschaft und wurde 1431 der Zauberei angeklagt und als ketzerische Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Jeanne war, wie Heinz Thomas zeigt, entgegen nachträglicher Stilisierungen kein religiöses Maskottchen, sondern im Gefecht den militärischen Strategen durchaus gleichgestellt. Ihre Geschichte, voll des Verrats und raffinierter Intrigen, lässt viele Fragen offen: etwa das rätselhafte Zögern Karls VII., seine Heldin durch einen englischen Kriegsgefangenen auszutauschen. Der Autor bringt Licht indiese dunklen Episoden, indem er auf bislang unzureichend ausgewertetes Quellenmaterial zurückgreift. Er rekonstruiert die Biographie einer kämpferischen Frau, die schon mit zwölf Jahren ihr Leben in die eigene Hand nahm, ein von ihren Eltern für sie gegebenes Ehegelöbnis auflösen ließ und bald darauf begann, sich als Tochter Gottes und Schwester Jesu Christi zu sehen. Als sie starb, war sie nicht mehr als zwanzig Jahre alt, und doch kennt ihr kurzes Leben an Unbedingtheit, Kampf, Glanz und Dramatik kaum seinesgleichen.
Jeanne war, wie Heinz Thomas zeigt, entgegen nachträglicher Stilisierungen kein religiöses Maskottchen, sondern im Gefecht den militärischen Strategen durchaus gleichgestellt. Ihre Geschichte, voll des Verrats und raffinierter Intrigen, lässt viele Fragen offen: etwa das rätselhafte Zögern Karls VII., seine Heldin durch einen englischen Kriegsgefangenen auszutauschen. Der Autor bringt Licht indiese dunklen Episoden, indem er auf bislang unzureichend ausgewertetes Quellenmaterial zurückgreift. Er rekonstruiert die Biographie einer kämpferischen Frau, die schon mit zwölf Jahren ihr Leben in die eigene Hand nahm, ein von ihren Eltern für sie gegebenes Ehegelöbnis auflösen ließ und bald darauf begann, sich als Tochter Gottes und Schwester Jesu Christi zu sehen. Als sie starb, war sie nicht mehr als zwanzig Jahre alt, und doch kennt ihr kurzes Leben an Unbedingtheit, Kampf, Glanz und Dramatik kaum seinesgleichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Meine Ruh' ist hin, mein Bauch ist leer
Die würde auf dem Laufsteg ein großer Star: Heinz Thomas diagnostiziert bei Jeanne d'Arc Magersucht / Von Heribert Müller
Eigentlich müßte es mit Schillers Tragödientitel künftig sein Bewenden haben: Nicht mehr als Jungfrau von Orléans, sondern als Pucelle, fille de Dieu, Jungfrau und Tochter Gottes, als envoiée de par Dieu, von Gott gesandt, sollte Jeanne d'Arc bezeichnet werden. Heinz Thomas ist da als Autor einer Johanna-Biographie konsequent bis in den Buchtitel, und das aus gutem Grund: Denn so wurde Johanna von ihren Stimmen angesprochen, so verstand sie sich deshalb auch selbst. Das erklärt ihr Selbst- und Sendungsbewußtsein, ihre Sicherheit in unsicherer Zeit, es erklärt sogar manche Parallele zwischen dem auf den Scheiterhaufen in Rouen führenden Leidensweg der Schwester Christi und der Passion des Herrn. Und das läßt den Leidensweg fast zwangsläufig erscheinen: Solcher Anspruch auf "Gottunmittelbarkeit" mußte zur Konfrontation mit einer auf ihr Monopol der Heilsvermittlung pochenden Kirche führen. Und er korrespondiert mit einem nicht minder außergewöhnlichen Anspruch, dem auf Selbstbestimmung: Folgen wir Thomas, so hatte Johanna bereits im Sommer 1423 die erste ihrer Stimmen überhaupt geraten "à soy gouverner", und zwar als ein junger Mann ein wohl von ihren Eltern gegebenes Eheversprechen vor dem Offizial des für ihr Heimatdorf Domremy zuständigen Bischofssitzes Toul einklagte. Natürlich war auch damals schon das Einverständnis der Braut nötig, aber welches Mädchen hätte sich verweigert, welches wie Johanna seinen Willen durchgesetzt?
Diese erfolgreiche Selbstbehauptung war prägend, bereits hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis für das Spätere. Damit aber stellt sich für den Autor auch jene Frage aller Jeanne-d'Arc-Biographen, die sich nicht mit der Erklärung katholischer Traditionalisten zufriedengeben mochten, einem ganz und gar normalen Mädchen seien die Erscheinungen zuteil geworden und sie seien ebenso wahr wie wirklich gewesen: War Johanna überhaupt normal? Thomas verneint dies; eine ebenso akribische wie scharfsinnige Quelleninterpretation führt ihn unter Einschluß neuerer psychiatrischer und psychologischer Erkenntnisse zur Überzeugung, daß Johanna wohl an pubertärer Magersucht litt. Das Ausbleiben der Regelblutung, Gewichtsverlust und eine notorische Ruhelosigkeit sind in ihrem Fall in der Tat ebenso bezeugt wie die Symptome für schizoide Störungen, nämlich überdurchschnittliche Intelligenz, distanziertes Verhältnis zu den Eltern und ein Verfolgen verstiegener Zielvorstellungen. Doch selbst wenn die Indizien für eine Geisteskrankheit erdrückend sein sollten, ins Gewicht fällt - und darin ist dem Autor beizupflichten - einzig und allein die daraus erwachsende historische Wirkkraft Johannas.
Soweit die zentralen Thesen des Buchs, das indes noch etliche weitere Überraschungen bereithält. Keiner der für die Jeanne-d'Arc-Forschung zentralen und meist umstrittenen Punkte wird ausgelassen, und stets hat Thomas hierzu eine dezidierte eigene Meinung, ob er nun, selbst seit Jahrzehnten über Lothringen und Bar im Spätmittelalter arbeitend, von Geburtsdatum, Herkunft und frühen Jahren des lothringischen Bauernmädchens handelt, ob er die Motive für die Zustimmung des Burghauptmanns von Vaucouleurs und vor allem Karls VII. zu Johannas Auftreten am Hof beziehungsweise zur Teilnahme an der Befreiung von Orléans erörtert, ob er die Passivität dieses dann dank Johanna in Reims gekrönten Königs nach ihrer Gefangennahme anzweifelt oder ob er dem Burgunderherzog Philipp dem Guten in der Passio Johannae die Rolle des Judas zuerkennt.
Man stutzt, zweifelt und prüft, allein meist wirken die Versuche der Aufklärung des Unerklärlichen durchaus überzeugend, zumindest nachvollziehbar. Unseren mediävistischen Kriminalkommissar interessieren dabei die Quellen und nur die Quellen; da wird verglichen und verworfen, kombiniert und konkludiert und dem Leser so die jeweilige Argumentation und Interpretation transparent gemacht. Noch leserfreundlicher wäre es indes gewesen, diese Quellen in einem einleitenden Kapitel kurz und geschlossen zu präsentieren und dabei auf ihre Eigenart und Problematik hinzuweisen. Das geschieht hier nur vereinzelt; die Prozeßakten etwa - grundlegend für die Kenntnis des gesamten Lebenswegs - werden gar erst erläutert, als es gegen Ende um das Verfahren von Rouen geht. Thomas kennt natürlich auch die einschlägige Literatur zum Thema - obgleich er sich selbst am häufigsten und liebsten zitiert -, und er setzt sich mit ihr durchaus auseinander, doch eher am Rand und nicht selten ironisch; nicht unbegründet ist seine Skepsis gegenüber dem letzten deutschsprachigen Beitrag zum Thema, einer noch in späteren DDR-Tagen verfaßten Monographie von Sabine Tanz (F.A.Z. vom 13. Oktober 1992), nach der die nun fürwahr außergewöhnliche Pucelle die Mentalität des "gewöhnlichen" Volks, dessen Weltbild verkörpert haben soll.
All die detailliert-kritischen Erörterungen der Stationen von Johannas Vita wollen sich indes nicht so recht zu einer geschlossenen Biographie fügen, die Mensch und Mitmenschen erfaßt und darüber deren Zeit und Welt aufscheinen läßt. Die Addition von quellenkritischen Untersuchungen und Datierungssubtilitäten macht aus dem Buch auch nicht unbedingt einen literarischen Leckerbissen. Daß Historiker im Dienst einer Muse stehen, scheint vergessen, und so bleibt das Lesevergnügen recht bescheiden. Es braucht ja nicht gleich jenes donnernde Pathos à la Gabriel Hanotaux, Historiker und Außenminister, zu sein, den es in seiner Jeanne-d'Arc-Biographie von 1911 zu exklamatorischen Offenbarungen wie "Dieu est Français, oui!" hinriß. Wie hätte wohl ein Hermann Heimpel oder Hartmut Boockmann dieses Sujet präsentiert, von einem - in Deutschland leider wenig bekannten - französischen Historikerstilisten wie Bernard Guenée zu schweigen.
Von ihm stammt übrigens das in der frankophonen Mediävistik geradezu in kanonischen Rang erhobene Dictum: "L'apparition de Jeanne d'Arc n'est pas un miracle, c'est un aboutissement." Johanna: Kein Wunder also, sondern Endpunkt einer Entwicklung - genauso ist es, doch darauf geht das Buch kaum ein. Lediglich ein erstes Kapitel "Hundertjähriger Krieg und Bürgerkrieg in Frankreich" skizziert den weiteren Rahmen, tut dies aber mit derart faktenbefrachteter und genealogieverliebter Pedanterie, daß Zweifel aufkommen, ob ein breiteres Publikum, an das sich Thomas ja mit seiner darum wohl bewußt anmerkungsarmen Darstellung nicht zuletzt wendet, überhaupt noch weiterlesen wird.
Seinen verbliebenen Lesern enthält er vor, was strukturgeschichtlich geschulte Historiker in Frankreich heute zu dem "Ereignis Johanna" zu sagen haben und was hinter der zitierten Behauptung Guenées, des Vordenkers einer erneuerten politischen Geschichte, steht. Ein Beispiel: Warum zeigte sich Regnault de Chartres, seines Zeichens Kanzler Karls VII. und Erzbischof von Reims, Johanna gegenüber so distanziert, ja feindselig? Das war mehr als bloßer Neid oder Winkelzug einer von ihm geführten Hofschranzenclique; vielmehr fürchtete er um das von ihm mitgewirkte dichte "Personalnetz" zwischen Valois-Frankreich und dem mit England verbündeten Herzogtum Burgund, das der blinde Bellizismus der Pucelle zu zerstören drohte. Wie dicht das Netz war, konnten neuere prosopographische Arbeiten nachweisen, die Thomas im Literaturverzeichnis nennt, doch nicht genutzt hat.
So ließe sich etwa fragen, ob die Übergabe von Troyes Anfang Juli 1429 in die Gewalt der zur Krönung Karls VII. nach Reims ziehenden Franzosen allein Johanna zu verdanken war. Oder spielte nicht auch der Umstand eine Rolle, daß der verhandelnde Ortsbischof Jean Leguisé seit seinen Studientagen am Pariser Navarrakolleg über die Kriegsparteien hinweg eng mit einem der wichtigsten Männer in Karls Gefolge verbunden war: dem Beichtvater Gérard Machet; von Thomas übrigens notorisch mit dem königlichen Rat und Kammerherrn Christophe d'Harcourt verwechselt?
Regnault de Chartres oder Gérard Machet, sie stehen für eine unbeschadet aller Intrigen und Rückschläge Wirkkraft entfaltende Politik der Kontinuität; eine Politik, die zudem durch die sich nicht nur in der Person König Heinrichs VI. manifestierende Schwäche des englischen Gegners begünstigt wurde. Daß die Engländer den Belagerungsring um Orléans nicht mehr zu schließen vermochten, daß Johanna und ihre Gefährten einige Tage vor den entscheidenden Kämpfen die Stadt ungehindert aufsuchen und verlassen konnten, scheint symptomatisch. Auf Dauer hatte das ressourcenärmere Inselkönigreich trotz kontinentaler Besitzungen seine Kräfte im Kampf gegen eine ungleich reicher fundierte französische Macht überspannt. Weil der Hundertjährige Krieg mehr als hundert Jahre dauerte, hieß der Sieger eben Frankreich.
Dennoch war die Pucelle keineswegs eine nur Geschichten machende Marginalie der französischen Geschichte. Ihr mitreißender Kampfeswille, ihre immer wieder bestätigte Siegesgewißheit schufen Fakten, von denen letztlich auch die "Ausgleichspolitiker" am Hof profitierten, weil damit das Gesetz des Handelns wieder an Frankreich überging. Mit ihrem royalistischen Patriotismus hat Johanna König und Krone in kritischer Phase gestärkt, als sie mit dem Schwert jenen Kampf der Federn fortsetzte, den die intellektuellen Propagatoren und Apologeten des Valois-Königtums mit ihren Traktaten gegen die englischen Ansprüche führten - nur zwei von ihnen, die sich direkt mit Johanna beschäftigten und sich für sie einsetzten, Jean Gerson und Christine de Pisan, finden bei Thomas Erwähnung.
Quellenkritische Studien zu Leben und Wirken der Jeanne d'Arc: Trüge das Buch diesen zugegeben wenig attraktiven Titel, die kritischen Einwürfe könnten entfallen. So liefert es "nur" einer international höchst regen Jeanne-d'Arc-Forschung eine Fülle neuer und oft verblüffend-unkonventioneller Lösungsangebote für zahlreiche strittige Fragen und Probleme; weiterhin rege Diskussionen stehen dank Thomas also zu erwarten. Den Defiziten zum Trotz: Mit diesem Buch und der vor einem guten Jahrzehnt erschienenen Monographie von Gerd Krumeich über die kirchliche und politische Instrumentalisierung Johannas im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (F.A.Z. vom 5. Dezember 1989) hat sich die deutsche Forschung bei einem zentralen Thema der spätmittelalterlichen Geschichte Westeuropas jedenfalls nach langer Absenz wieder zu Wort gemeldet.
Heinz Thomas: "Jeanne d'Arc". Jungfrau und Tochter Gottes. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 623 S., Abb., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die würde auf dem Laufsteg ein großer Star: Heinz Thomas diagnostiziert bei Jeanne d'Arc Magersucht / Von Heribert Müller
Eigentlich müßte es mit Schillers Tragödientitel künftig sein Bewenden haben: Nicht mehr als Jungfrau von Orléans, sondern als Pucelle, fille de Dieu, Jungfrau und Tochter Gottes, als envoiée de par Dieu, von Gott gesandt, sollte Jeanne d'Arc bezeichnet werden. Heinz Thomas ist da als Autor einer Johanna-Biographie konsequent bis in den Buchtitel, und das aus gutem Grund: Denn so wurde Johanna von ihren Stimmen angesprochen, so verstand sie sich deshalb auch selbst. Das erklärt ihr Selbst- und Sendungsbewußtsein, ihre Sicherheit in unsicherer Zeit, es erklärt sogar manche Parallele zwischen dem auf den Scheiterhaufen in Rouen führenden Leidensweg der Schwester Christi und der Passion des Herrn. Und das läßt den Leidensweg fast zwangsläufig erscheinen: Solcher Anspruch auf "Gottunmittelbarkeit" mußte zur Konfrontation mit einer auf ihr Monopol der Heilsvermittlung pochenden Kirche führen. Und er korrespondiert mit einem nicht minder außergewöhnlichen Anspruch, dem auf Selbstbestimmung: Folgen wir Thomas, so hatte Johanna bereits im Sommer 1423 die erste ihrer Stimmen überhaupt geraten "à soy gouverner", und zwar als ein junger Mann ein wohl von ihren Eltern gegebenes Eheversprechen vor dem Offizial des für ihr Heimatdorf Domremy zuständigen Bischofssitzes Toul einklagte. Natürlich war auch damals schon das Einverständnis der Braut nötig, aber welches Mädchen hätte sich verweigert, welches wie Johanna seinen Willen durchgesetzt?
Diese erfolgreiche Selbstbehauptung war prägend, bereits hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis für das Spätere. Damit aber stellt sich für den Autor auch jene Frage aller Jeanne-d'Arc-Biographen, die sich nicht mit der Erklärung katholischer Traditionalisten zufriedengeben mochten, einem ganz und gar normalen Mädchen seien die Erscheinungen zuteil geworden und sie seien ebenso wahr wie wirklich gewesen: War Johanna überhaupt normal? Thomas verneint dies; eine ebenso akribische wie scharfsinnige Quelleninterpretation führt ihn unter Einschluß neuerer psychiatrischer und psychologischer Erkenntnisse zur Überzeugung, daß Johanna wohl an pubertärer Magersucht litt. Das Ausbleiben der Regelblutung, Gewichtsverlust und eine notorische Ruhelosigkeit sind in ihrem Fall in der Tat ebenso bezeugt wie die Symptome für schizoide Störungen, nämlich überdurchschnittliche Intelligenz, distanziertes Verhältnis zu den Eltern und ein Verfolgen verstiegener Zielvorstellungen. Doch selbst wenn die Indizien für eine Geisteskrankheit erdrückend sein sollten, ins Gewicht fällt - und darin ist dem Autor beizupflichten - einzig und allein die daraus erwachsende historische Wirkkraft Johannas.
Soweit die zentralen Thesen des Buchs, das indes noch etliche weitere Überraschungen bereithält. Keiner der für die Jeanne-d'Arc-Forschung zentralen und meist umstrittenen Punkte wird ausgelassen, und stets hat Thomas hierzu eine dezidierte eigene Meinung, ob er nun, selbst seit Jahrzehnten über Lothringen und Bar im Spätmittelalter arbeitend, von Geburtsdatum, Herkunft und frühen Jahren des lothringischen Bauernmädchens handelt, ob er die Motive für die Zustimmung des Burghauptmanns von Vaucouleurs und vor allem Karls VII. zu Johannas Auftreten am Hof beziehungsweise zur Teilnahme an der Befreiung von Orléans erörtert, ob er die Passivität dieses dann dank Johanna in Reims gekrönten Königs nach ihrer Gefangennahme anzweifelt oder ob er dem Burgunderherzog Philipp dem Guten in der Passio Johannae die Rolle des Judas zuerkennt.
Man stutzt, zweifelt und prüft, allein meist wirken die Versuche der Aufklärung des Unerklärlichen durchaus überzeugend, zumindest nachvollziehbar. Unseren mediävistischen Kriminalkommissar interessieren dabei die Quellen und nur die Quellen; da wird verglichen und verworfen, kombiniert und konkludiert und dem Leser so die jeweilige Argumentation und Interpretation transparent gemacht. Noch leserfreundlicher wäre es indes gewesen, diese Quellen in einem einleitenden Kapitel kurz und geschlossen zu präsentieren und dabei auf ihre Eigenart und Problematik hinzuweisen. Das geschieht hier nur vereinzelt; die Prozeßakten etwa - grundlegend für die Kenntnis des gesamten Lebenswegs - werden gar erst erläutert, als es gegen Ende um das Verfahren von Rouen geht. Thomas kennt natürlich auch die einschlägige Literatur zum Thema - obgleich er sich selbst am häufigsten und liebsten zitiert -, und er setzt sich mit ihr durchaus auseinander, doch eher am Rand und nicht selten ironisch; nicht unbegründet ist seine Skepsis gegenüber dem letzten deutschsprachigen Beitrag zum Thema, einer noch in späteren DDR-Tagen verfaßten Monographie von Sabine Tanz (F.A.Z. vom 13. Oktober 1992), nach der die nun fürwahr außergewöhnliche Pucelle die Mentalität des "gewöhnlichen" Volks, dessen Weltbild verkörpert haben soll.
All die detailliert-kritischen Erörterungen der Stationen von Johannas Vita wollen sich indes nicht so recht zu einer geschlossenen Biographie fügen, die Mensch und Mitmenschen erfaßt und darüber deren Zeit und Welt aufscheinen läßt. Die Addition von quellenkritischen Untersuchungen und Datierungssubtilitäten macht aus dem Buch auch nicht unbedingt einen literarischen Leckerbissen. Daß Historiker im Dienst einer Muse stehen, scheint vergessen, und so bleibt das Lesevergnügen recht bescheiden. Es braucht ja nicht gleich jenes donnernde Pathos à la Gabriel Hanotaux, Historiker und Außenminister, zu sein, den es in seiner Jeanne-d'Arc-Biographie von 1911 zu exklamatorischen Offenbarungen wie "Dieu est Français, oui!" hinriß. Wie hätte wohl ein Hermann Heimpel oder Hartmut Boockmann dieses Sujet präsentiert, von einem - in Deutschland leider wenig bekannten - französischen Historikerstilisten wie Bernard Guenée zu schweigen.
Von ihm stammt übrigens das in der frankophonen Mediävistik geradezu in kanonischen Rang erhobene Dictum: "L'apparition de Jeanne d'Arc n'est pas un miracle, c'est un aboutissement." Johanna: Kein Wunder also, sondern Endpunkt einer Entwicklung - genauso ist es, doch darauf geht das Buch kaum ein. Lediglich ein erstes Kapitel "Hundertjähriger Krieg und Bürgerkrieg in Frankreich" skizziert den weiteren Rahmen, tut dies aber mit derart faktenbefrachteter und genealogieverliebter Pedanterie, daß Zweifel aufkommen, ob ein breiteres Publikum, an das sich Thomas ja mit seiner darum wohl bewußt anmerkungsarmen Darstellung nicht zuletzt wendet, überhaupt noch weiterlesen wird.
Seinen verbliebenen Lesern enthält er vor, was strukturgeschichtlich geschulte Historiker in Frankreich heute zu dem "Ereignis Johanna" zu sagen haben und was hinter der zitierten Behauptung Guenées, des Vordenkers einer erneuerten politischen Geschichte, steht. Ein Beispiel: Warum zeigte sich Regnault de Chartres, seines Zeichens Kanzler Karls VII. und Erzbischof von Reims, Johanna gegenüber so distanziert, ja feindselig? Das war mehr als bloßer Neid oder Winkelzug einer von ihm geführten Hofschranzenclique; vielmehr fürchtete er um das von ihm mitgewirkte dichte "Personalnetz" zwischen Valois-Frankreich und dem mit England verbündeten Herzogtum Burgund, das der blinde Bellizismus der Pucelle zu zerstören drohte. Wie dicht das Netz war, konnten neuere prosopographische Arbeiten nachweisen, die Thomas im Literaturverzeichnis nennt, doch nicht genutzt hat.
So ließe sich etwa fragen, ob die Übergabe von Troyes Anfang Juli 1429 in die Gewalt der zur Krönung Karls VII. nach Reims ziehenden Franzosen allein Johanna zu verdanken war. Oder spielte nicht auch der Umstand eine Rolle, daß der verhandelnde Ortsbischof Jean Leguisé seit seinen Studientagen am Pariser Navarrakolleg über die Kriegsparteien hinweg eng mit einem der wichtigsten Männer in Karls Gefolge verbunden war: dem Beichtvater Gérard Machet; von Thomas übrigens notorisch mit dem königlichen Rat und Kammerherrn Christophe d'Harcourt verwechselt?
Regnault de Chartres oder Gérard Machet, sie stehen für eine unbeschadet aller Intrigen und Rückschläge Wirkkraft entfaltende Politik der Kontinuität; eine Politik, die zudem durch die sich nicht nur in der Person König Heinrichs VI. manifestierende Schwäche des englischen Gegners begünstigt wurde. Daß die Engländer den Belagerungsring um Orléans nicht mehr zu schließen vermochten, daß Johanna und ihre Gefährten einige Tage vor den entscheidenden Kämpfen die Stadt ungehindert aufsuchen und verlassen konnten, scheint symptomatisch. Auf Dauer hatte das ressourcenärmere Inselkönigreich trotz kontinentaler Besitzungen seine Kräfte im Kampf gegen eine ungleich reicher fundierte französische Macht überspannt. Weil der Hundertjährige Krieg mehr als hundert Jahre dauerte, hieß der Sieger eben Frankreich.
Dennoch war die Pucelle keineswegs eine nur Geschichten machende Marginalie der französischen Geschichte. Ihr mitreißender Kampfeswille, ihre immer wieder bestätigte Siegesgewißheit schufen Fakten, von denen letztlich auch die "Ausgleichspolitiker" am Hof profitierten, weil damit das Gesetz des Handelns wieder an Frankreich überging. Mit ihrem royalistischen Patriotismus hat Johanna König und Krone in kritischer Phase gestärkt, als sie mit dem Schwert jenen Kampf der Federn fortsetzte, den die intellektuellen Propagatoren und Apologeten des Valois-Königtums mit ihren Traktaten gegen die englischen Ansprüche führten - nur zwei von ihnen, die sich direkt mit Johanna beschäftigten und sich für sie einsetzten, Jean Gerson und Christine de Pisan, finden bei Thomas Erwähnung.
Quellenkritische Studien zu Leben und Wirken der Jeanne d'Arc: Trüge das Buch diesen zugegeben wenig attraktiven Titel, die kritischen Einwürfe könnten entfallen. So liefert es "nur" einer international höchst regen Jeanne-d'Arc-Forschung eine Fülle neuer und oft verblüffend-unkonventioneller Lösungsangebote für zahlreiche strittige Fragen und Probleme; weiterhin rege Diskussionen stehen dank Thomas also zu erwarten. Den Defiziten zum Trotz: Mit diesem Buch und der vor einem guten Jahrzehnt erschienenen Monographie von Gerd Krumeich über die kirchliche und politische Instrumentalisierung Johannas im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (F.A.Z. vom 5. Dezember 1989) hat sich die deutsche Forschung bei einem zentralen Thema der spätmittelalterlichen Geschichte Westeuropas jedenfalls nach langer Absenz wieder zu Wort gemeldet.
Heinz Thomas: "Jeanne d'Arc". Jungfrau und Tochter Gottes. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 623 S., Abb., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Johanna-Biografie oder quellenkritische Studie zu Leben und Wirken der Jungfrau von Orléans? Ginge es nach Heribert Müller, hätte das Buch wohl einen wissenschaftlicheren Titel getragen - einfach um Missverständnissen vorzubeugen. Denn all die psychologisch fundierten Untersuchungen zum Geisteszustand der Jeanne d`Arc, die der Autor anstellt, seine "scharfsinnige Quelleninterpretation" und "faktenbefrachtete und genealogieverliebte Pedanterie" wollen sich in den Augen des Rezensenten zu keiner geschlossenen Biografie fügen. So aber bleibt das Lesevergnügen auf der Strecke und dem Autor der Trost, den Fragen der Jeanne-d`Arc-Forschung "eine Fülle neuer und oft verblüffend unkonventioneller Lösungsangebote" geliefert zu haben.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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