Lance Armstrong gibt alles – immer. Sein Durchhaltewillen ist legendär. In Amerika wird der Weltsportler des Jahres 2003 nicht erst seit seinem fünften Sieg in Folge bei der Tour de France 2003 als Held gefeiert. Was hält diesen Mann im Sattel – das ganze Jahr, Tausende von Kilometern, in Schnee und glühender Hitze? Der Ausnahme-Radrennfahrer gibt die Antwort: Seine schwere Krebserkrankung, die ihn in die Nähe des Todes brachte, hat ihn gelehrt, was es bedeutet, wirklich zu leben. Seither beginnt er jeden Morgen in dem Bewusstsein, dass es diesen Tag nur einmal gibt, dass er nur diese eine Chance hat, ihn zu leben. Weder sportliche Niederlagen noch unbewiesene Dopingvorwürfe, weder die Welle feindseliger Gefühle, die ihm in Frankreich entgegenschlägt, noch Krisen im Privatleben können Armstrong aufhalten. Lance Armstrong hat die Fortsetzung seines Megasellers »Tour des Lebens« geschrieben. Er erzählt von seinem Leben als mehrfacher Tour-de-France-Sieger, von Familie und Freunden, seinem Sport – und von seinem täglichen Sieg über den Krebs. Er beschreibt, wie sehr die Krankheit sein Leben verändert hat, schildert die Jahre nach seinem ersten spektakulären Sieg 1999, gewährt einen faszinierenden Blick auf die besten Radrennprofis der Welt und gibt Auskunft über seine neu gewonnene Lebensphilosophie: »Jede Sekunde zählt« – im Leben wie im Sport. Ehrlich, direkt und mit Humor geschrieben: Lance Armstrongs Buch ist die bewegende Lebensgeschichte einer der größten Sportlerpersönlichkeiten unserer Zeit.
"Lance Armstrong ist ein Held.(...) Wer es außer ihm nicht wusste, muss nur einige Seiten seiner zweiten Autobiographie lesen." (Der Tagesspiegel, 20.01.2004) "Der Titel ist Programm und Lebensphilosophie zugleich." (Sächsische Zeitung) "Mit großer Offenheit beschreibt Armstrong, wie er aus Liebe zu seiner Frau und den Kindern nach einem Weg aus der Krise sucht. " (SAT1 Frühstücksfernsehen)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2004Zweiradkampf
Velobiographien zum Tour-Start: Armstrong gegen Ullrich
Radsportler sind - unter dem Aspekt der philosophischen Fallhöhe - keinesfalls langweiliger als Fußballer oder Sikläufer, im Gegenteil: Man erwartet mehr von ihnen, weil sie die Leistungsfähigkeit des Körpers am weitesten von allen Athleten ausreizen. Wer eine Tour (einen Giro d'Italia, eine Spanien-Rundfahrt) zu überstehen vermag, der müßte doch eigentlich gut sein für ein paar Einblicke in das Faszinosum menschlicher Abgründe? Vielleicht braucht ein solches Reflexionsniveau die Reife späterer Jahre, wenn die Erinnerung die Tretmühle in einem anderen Licht erscheinen läßt.
Immer wieder hat er es vergeblich beteuert: Er wolle kein Held sein, hat Jan Ullrich ein ums andere Mal versichert, aber nun am Vorabend seiner nächsten großen Prüfung scheint er es doch wissen zu wollen. "Ganz oder gar nicht" ist seine bei Econ erschienene Lebensbeschreibung betitelt, die der ARD-Sportkoordinator Hagen Boßdorf in Ichform für "Ulle" geschrieben hat. Das Buch kommt gerade rechtzeitig zum Start der Tour de France an diesem Samstag. Aber wie so oft war sein ewiger Konkurrent Lance Armstrong auch auf dem Buchmarkt schon im Frühjahr fit: Die Fortsetzung seiner Memoiren "Tour des Lebens" (2000) erschien im Februar unter dem Titel "Jede Sekunde zählt" bei C. Bertelsmann.
Zwei Sportheldenleben zur Tour-Begleitung: Kommt es in den nächsten drei Wochen zum erhofften Duell, wird es eine "Große Schleife", die mit Sicherheit Sportgeschichte schreibt. Siegt Armstrong zum sechsten Mal in Folge, wäre er der erste, dem solches gelänge - eine neue Dimension in der Riege der Unsterblichen, die je fünfmal gewannen: Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault, Miguel Induráin. Ullrich war einmal Erster, fünfmal Zweiter. Siegt Armstrong, wird sich aber auch die Frage seines Rücktritts wieder stellen und somit die Frage nach dem Horror vacui. Er werde "immer irgend etwas führen, ob nun meine Stiftung, ein Geschäft oder sonstwas", hat er dem früheren britischen Regierungssprecher Alastair Campbell in der Zeitschrift "Procycling" gesagt. So redet einer, der nach dem Motto "Verlieren ist wie sterben" fährt; einer, der den Krebs besiegt hat, aber den Sinn des Lebens nach dem Sport noch nicht gefunden hat - zumindest seine Autobiographie verrät ihn uns nicht.
Armstrong tut sich nicht nur in Deutschland mit seinen Sympathiewerten schwer gegen Ullrich, weil der zur Winterspeckbildung neigende "Ulle" mehr den menschlichen Faktor mobilisiert als der Perfektionist aus Texas. Daß sich Ullrich häufig verspätet aber immer wieder auch rechtzeitig, auf Großereignisse vorbereitet, wird in Deutschland mit Sorge verfolgt, aber letztlich verziehen. Sportler der alten Schule bevorzugen freilich Armstrongs klassische Methode, sich durch Rennen auf Rennen vorzubereiten. Da kommt der stahlharte Willens- und Allesüberwinder Armstrong dem nietzscheanischen Überradler schon recht nahe.
Beide Bücher sind also Hagiographien im Wortsinn: Heiligengeschichten, die an nichts weniger interessiert sind als an Aufklärung. Sie folgen dem Rennverlauf, die Herzensbildung wirkt immer wie nebenher. Geschrieben sind sie von Leuten, die "zur Familie" gehören. Es ist viel spekuliert und diskutiert worden über die Parallelen dieser Velobiographien. 1971 beziehungsweise 1973 geboren, wachsen Armstrong in Texas und Ullrich in Mecklenburg vaterlos auf; Ullrichs Vater verschwindet regelrecht aus dem Leben des Knaben, der von Armstrong taucht erst auf, als der Sohn schon ein erfolgreicher Sportler ist. Es sind Aufsteigerbiographien, sie wurzeln in der Tristesse eines texanischen Provinznests namens Plano und in ärmlichen Verhältnissen eines Kaffs namens Papendorf nahe Rostock. In beiden Fällen wirken starke und unerschrockene Mütter als Stütze und Antrieb.
Während Armstrong zunächst seine Erfolge im Triathlon einfährt - Rennradfahren ist in Amerika bis heute ein Exotensport -, ist Ullrich ein Produkt des DDR-Sportsystems. Die Tour de France kennt er nur vom Hörensagen, die Friedensfahrt ist das Nonplusultra. Heimlich sieht er in seiner Berliner Sportschule im verbotenen Westfernsehen das 1989er Tour-Finale Greg LeMond gegen Laurent Fignon an. Die Mauer fällt kurz vor Ullrichs siebzehntem Geburtstag, auf seine politische Sozialisierung hat dieser Epochenwechsel keinen Einfluß: "Ich interessierte mich nicht für Politik und war, vermutlich ohne es zu wissen, einfach pragmatisch. Mein Talent bestand darin, daß ich schnell radfahren konnte."
Die Verankerung des Radsports ist noch heute in bestimmten Milieus stärker ausgeprägt als bei anderen Sportarten - trotz der früh einsetzenden Globalisierung dieser Sportart. Gegen eine nationale Identifikation mit den Profiteams spricht eigentlich deren multinationale Personalstruktur; aber ein Team wie Gerolsteiner oder T-Mobile gilt eben dennoch als deutsche Mannschaft. War das Rennrad, historisch betrachtet, die Chance für Aufsteiger, den tristen Kohlerevieren Frankreichs und Flanderns zu entkommen, ist es auch heute noch ein Vehikel, das nur den allerwenigsten der weltweit rund zweitausend Profifahrer eine Garantie für ein schönes Leben bietet: Zu starr sind die Hierarchien, zu gußeisern die Vorgaben für die Domestiken im Peloton. "Nicht alle Helden tragen Gelb" ist deshalb das bis 2003 aktualisierte Standardwerk von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp überschrieben (Verlag Die Werkstatt), das auch jenseits der Sieger Ehre für die Sportler einlegt.
Man kann, wie es Sebastian Moll und Alexander Heflik in ihrem das Branchenübliche weit überragenden Essay "Das Duell" (Covadonga Verlag) behaupten, im Zweikampf von Armstrong und Ullrich den Nachhall des alten Systemstreits aus dem Kalten Krieg sehen - zugespitzt heißt es dort "Ich-AG gegen VEB": Selbstverantwortung predigender Kapitalismus versus staatlicher Fürsorgezwang inklusive Apathie. Mehr als ein Echo kann das heute aber nicht mehr sein. Lance Armstrong ist längst Multimillionär, engagiert sich für seine Krebsstiftung und verkehrt im Bedarfsfall mit Präsident Bush und Hollywood-Schauspielern. Und Jan Ullrich hat seine sozialistische Jugendhaut abgestreift und ist ein guter Wessi geworden, der wie viele deutsche Spitzensportpatrioten in der Schweiz lebt. Ein komfortabler Sponsorenvertrag sichert ihm jetzt schon nach seiner aktiven Zeit als Berater der Telekom materielle Unabhängigkeit.
Der Radsport hat früh mit dem Klischee aufgeräumt, das heute nur noch dem Bildungsbürgertum gefällt - dem vom Amateurstatus des Spitzensportlers. Schon in den Anfangsjahren der Tour wurde schnell klar, daß hier nur gewinnen konnte, wer sich ganzjährig und ausschließlich darauf vorbereitet. Nicht von ungefähr ist die Leistung der Pioniere trotz der Fortschritte in Körper- und Materialoptimierung noch immer ungemein beeindruckend: Die längste Tour, die des Jahres 1926, war sage und schreibe 2389 Kilometer länger als die des Jahrgangs 2004.
Daß die Skandalwolke der Doping-Vorwürfe nicht abziehen will, sondern im Gegenteil regelmäßig vor jeder Tour sich verdüstert, scheint schon zum schlechten Ton zu gehören. Soeben haben die Sportjournalisten Pierre Ballester und David Walsh in dem zunächst nur auf französisch erhältlichen Band "L.A. Confidential" (Éditions de La Martinière) schwere Vorwürfe gegen Armstrong erhoben. Das erregt merkwürdigerweise niemand mehr so richtig; nur wenn Doping wie im Falle des Italieners Pantani mittelbar zum Tod führt, werden die gefährlichen Folgen greifbarer. Ansonsten gilt Harald Schmidts Diktum, die meisten Fahrer dopten nicht, um das Rennen durchzuhalten, sondern "die anschließenden Interviews mit Jürgen Emig".
Je näher das Fernsehen mit Luftbild und Pulsfrequenzübertragung das dreiwöchige Tourismus-Spektakel den Zuschauern bringt, desto weniger lassen sich offenbar die wahren Fans davon abhalten, an der Strecke auf Tuchfühlung zu gehen. Karawanen von Wohnmobilen machen sich alljährlich auf den Weg zu den Gipfeln der Pyrenäen und der Westalpen. Ein nach Dauer des Kontakts zwar kurzes, aber intensives Erlebnis, das Millionen von Menschen dazu bringt, auf die Straße zu gehen. Denn dort kommen ihre Helden zu ihnen, und sie tun es - anders als in allen anderen Sportarten - noch immer umsonst.
Nach Jan Ullrichs erstem Tour-Sieg 1997 gerät der junge Mann in den Strudel jener sattsam bekannten Fernsehprominenz von Gottschalk bis Lindenberg - und verliert darüber die Bodenhaftung. Jürgen Kindervater, damals Pressechef der Telekom und als solcher für die Vermarktung des radelnden Helden verantwortlich, redet dem aus der Form gelaufenen Schützling ins Gewissen: "Entweder du bringst es zu einem Beckenbauer. Das heißt, du wirst auch über deine Leistungssportler-Karriere hinaus zu einer außerordentlichen Persönlichkeit. Oder aber du wirst ein abgetakelter Exsportler, der irgendwann feststellen muß, daß er sein Talent verschleudert hat."
Man kann heute im Rückblick, nach vielen Berg-und-Tal-Fahrten, nach Knieoperation, Rotweinseligkeit, Beziehungskrise und nach der Aufputschpillen-Affäre von 2002, eine vorsichtige Zwischenbilanz ziehen: Ullrich ist - was Popularität und Führungsanspruch angeht - auf dem Weg in Richtung Beckenbauer. Man muß für ihn und den deutschen Radsport hoffen, daß er dort nie ankommt.
HANNES HINTERMEIER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Velobiographien zum Tour-Start: Armstrong gegen Ullrich
Radsportler sind - unter dem Aspekt der philosophischen Fallhöhe - keinesfalls langweiliger als Fußballer oder Sikläufer, im Gegenteil: Man erwartet mehr von ihnen, weil sie die Leistungsfähigkeit des Körpers am weitesten von allen Athleten ausreizen. Wer eine Tour (einen Giro d'Italia, eine Spanien-Rundfahrt) zu überstehen vermag, der müßte doch eigentlich gut sein für ein paar Einblicke in das Faszinosum menschlicher Abgründe? Vielleicht braucht ein solches Reflexionsniveau die Reife späterer Jahre, wenn die Erinnerung die Tretmühle in einem anderen Licht erscheinen läßt.
Immer wieder hat er es vergeblich beteuert: Er wolle kein Held sein, hat Jan Ullrich ein ums andere Mal versichert, aber nun am Vorabend seiner nächsten großen Prüfung scheint er es doch wissen zu wollen. "Ganz oder gar nicht" ist seine bei Econ erschienene Lebensbeschreibung betitelt, die der ARD-Sportkoordinator Hagen Boßdorf in Ichform für "Ulle" geschrieben hat. Das Buch kommt gerade rechtzeitig zum Start der Tour de France an diesem Samstag. Aber wie so oft war sein ewiger Konkurrent Lance Armstrong auch auf dem Buchmarkt schon im Frühjahr fit: Die Fortsetzung seiner Memoiren "Tour des Lebens" (2000) erschien im Februar unter dem Titel "Jede Sekunde zählt" bei C. Bertelsmann.
Zwei Sportheldenleben zur Tour-Begleitung: Kommt es in den nächsten drei Wochen zum erhofften Duell, wird es eine "Große Schleife", die mit Sicherheit Sportgeschichte schreibt. Siegt Armstrong zum sechsten Mal in Folge, wäre er der erste, dem solches gelänge - eine neue Dimension in der Riege der Unsterblichen, die je fünfmal gewannen: Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Bernard Hinault, Miguel Induráin. Ullrich war einmal Erster, fünfmal Zweiter. Siegt Armstrong, wird sich aber auch die Frage seines Rücktritts wieder stellen und somit die Frage nach dem Horror vacui. Er werde "immer irgend etwas führen, ob nun meine Stiftung, ein Geschäft oder sonstwas", hat er dem früheren britischen Regierungssprecher Alastair Campbell in der Zeitschrift "Procycling" gesagt. So redet einer, der nach dem Motto "Verlieren ist wie sterben" fährt; einer, der den Krebs besiegt hat, aber den Sinn des Lebens nach dem Sport noch nicht gefunden hat - zumindest seine Autobiographie verrät ihn uns nicht.
Armstrong tut sich nicht nur in Deutschland mit seinen Sympathiewerten schwer gegen Ullrich, weil der zur Winterspeckbildung neigende "Ulle" mehr den menschlichen Faktor mobilisiert als der Perfektionist aus Texas. Daß sich Ullrich häufig verspätet aber immer wieder auch rechtzeitig, auf Großereignisse vorbereitet, wird in Deutschland mit Sorge verfolgt, aber letztlich verziehen. Sportler der alten Schule bevorzugen freilich Armstrongs klassische Methode, sich durch Rennen auf Rennen vorzubereiten. Da kommt der stahlharte Willens- und Allesüberwinder Armstrong dem nietzscheanischen Überradler schon recht nahe.
Beide Bücher sind also Hagiographien im Wortsinn: Heiligengeschichten, die an nichts weniger interessiert sind als an Aufklärung. Sie folgen dem Rennverlauf, die Herzensbildung wirkt immer wie nebenher. Geschrieben sind sie von Leuten, die "zur Familie" gehören. Es ist viel spekuliert und diskutiert worden über die Parallelen dieser Velobiographien. 1971 beziehungsweise 1973 geboren, wachsen Armstrong in Texas und Ullrich in Mecklenburg vaterlos auf; Ullrichs Vater verschwindet regelrecht aus dem Leben des Knaben, der von Armstrong taucht erst auf, als der Sohn schon ein erfolgreicher Sportler ist. Es sind Aufsteigerbiographien, sie wurzeln in der Tristesse eines texanischen Provinznests namens Plano und in ärmlichen Verhältnissen eines Kaffs namens Papendorf nahe Rostock. In beiden Fällen wirken starke und unerschrockene Mütter als Stütze und Antrieb.
Während Armstrong zunächst seine Erfolge im Triathlon einfährt - Rennradfahren ist in Amerika bis heute ein Exotensport -, ist Ullrich ein Produkt des DDR-Sportsystems. Die Tour de France kennt er nur vom Hörensagen, die Friedensfahrt ist das Nonplusultra. Heimlich sieht er in seiner Berliner Sportschule im verbotenen Westfernsehen das 1989er Tour-Finale Greg LeMond gegen Laurent Fignon an. Die Mauer fällt kurz vor Ullrichs siebzehntem Geburtstag, auf seine politische Sozialisierung hat dieser Epochenwechsel keinen Einfluß: "Ich interessierte mich nicht für Politik und war, vermutlich ohne es zu wissen, einfach pragmatisch. Mein Talent bestand darin, daß ich schnell radfahren konnte."
Die Verankerung des Radsports ist noch heute in bestimmten Milieus stärker ausgeprägt als bei anderen Sportarten - trotz der früh einsetzenden Globalisierung dieser Sportart. Gegen eine nationale Identifikation mit den Profiteams spricht eigentlich deren multinationale Personalstruktur; aber ein Team wie Gerolsteiner oder T-Mobile gilt eben dennoch als deutsche Mannschaft. War das Rennrad, historisch betrachtet, die Chance für Aufsteiger, den tristen Kohlerevieren Frankreichs und Flanderns zu entkommen, ist es auch heute noch ein Vehikel, das nur den allerwenigsten der weltweit rund zweitausend Profifahrer eine Garantie für ein schönes Leben bietet: Zu starr sind die Hierarchien, zu gußeisern die Vorgaben für die Domestiken im Peloton. "Nicht alle Helden tragen Gelb" ist deshalb das bis 2003 aktualisierte Standardwerk von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp überschrieben (Verlag Die Werkstatt), das auch jenseits der Sieger Ehre für die Sportler einlegt.
Man kann, wie es Sebastian Moll und Alexander Heflik in ihrem das Branchenübliche weit überragenden Essay "Das Duell" (Covadonga Verlag) behaupten, im Zweikampf von Armstrong und Ullrich den Nachhall des alten Systemstreits aus dem Kalten Krieg sehen - zugespitzt heißt es dort "Ich-AG gegen VEB": Selbstverantwortung predigender Kapitalismus versus staatlicher Fürsorgezwang inklusive Apathie. Mehr als ein Echo kann das heute aber nicht mehr sein. Lance Armstrong ist längst Multimillionär, engagiert sich für seine Krebsstiftung und verkehrt im Bedarfsfall mit Präsident Bush und Hollywood-Schauspielern. Und Jan Ullrich hat seine sozialistische Jugendhaut abgestreift und ist ein guter Wessi geworden, der wie viele deutsche Spitzensportpatrioten in der Schweiz lebt. Ein komfortabler Sponsorenvertrag sichert ihm jetzt schon nach seiner aktiven Zeit als Berater der Telekom materielle Unabhängigkeit.
Der Radsport hat früh mit dem Klischee aufgeräumt, das heute nur noch dem Bildungsbürgertum gefällt - dem vom Amateurstatus des Spitzensportlers. Schon in den Anfangsjahren der Tour wurde schnell klar, daß hier nur gewinnen konnte, wer sich ganzjährig und ausschließlich darauf vorbereitet. Nicht von ungefähr ist die Leistung der Pioniere trotz der Fortschritte in Körper- und Materialoptimierung noch immer ungemein beeindruckend: Die längste Tour, die des Jahres 1926, war sage und schreibe 2389 Kilometer länger als die des Jahrgangs 2004.
Daß die Skandalwolke der Doping-Vorwürfe nicht abziehen will, sondern im Gegenteil regelmäßig vor jeder Tour sich verdüstert, scheint schon zum schlechten Ton zu gehören. Soeben haben die Sportjournalisten Pierre Ballester und David Walsh in dem zunächst nur auf französisch erhältlichen Band "L.A. Confidential" (Éditions de La Martinière) schwere Vorwürfe gegen Armstrong erhoben. Das erregt merkwürdigerweise niemand mehr so richtig; nur wenn Doping wie im Falle des Italieners Pantani mittelbar zum Tod führt, werden die gefährlichen Folgen greifbarer. Ansonsten gilt Harald Schmidts Diktum, die meisten Fahrer dopten nicht, um das Rennen durchzuhalten, sondern "die anschließenden Interviews mit Jürgen Emig".
Je näher das Fernsehen mit Luftbild und Pulsfrequenzübertragung das dreiwöchige Tourismus-Spektakel den Zuschauern bringt, desto weniger lassen sich offenbar die wahren Fans davon abhalten, an der Strecke auf Tuchfühlung zu gehen. Karawanen von Wohnmobilen machen sich alljährlich auf den Weg zu den Gipfeln der Pyrenäen und der Westalpen. Ein nach Dauer des Kontakts zwar kurzes, aber intensives Erlebnis, das Millionen von Menschen dazu bringt, auf die Straße zu gehen. Denn dort kommen ihre Helden zu ihnen, und sie tun es - anders als in allen anderen Sportarten - noch immer umsonst.
Nach Jan Ullrichs erstem Tour-Sieg 1997 gerät der junge Mann in den Strudel jener sattsam bekannten Fernsehprominenz von Gottschalk bis Lindenberg - und verliert darüber die Bodenhaftung. Jürgen Kindervater, damals Pressechef der Telekom und als solcher für die Vermarktung des radelnden Helden verantwortlich, redet dem aus der Form gelaufenen Schützling ins Gewissen: "Entweder du bringst es zu einem Beckenbauer. Das heißt, du wirst auch über deine Leistungssportler-Karriere hinaus zu einer außerordentlichen Persönlichkeit. Oder aber du wirst ein abgetakelter Exsportler, der irgendwann feststellen muß, daß er sein Talent verschleudert hat."
Man kann heute im Rückblick, nach vielen Berg-und-Tal-Fahrten, nach Knieoperation, Rotweinseligkeit, Beziehungskrise und nach der Aufputschpillen-Affäre von 2002, eine vorsichtige Zwischenbilanz ziehen: Ullrich ist - was Popularität und Führungsanspruch angeht - auf dem Weg in Richtung Beckenbauer. Man muß für ihn und den deutschen Radsport hoffen, daß er dort nie ankommt.
HANNES HINTERMEIER
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