Der unbekannte Rudi Dutschke - Lebenszeugnis des Idols einer Generation
Zum ersten Mal werden Rudi Dutschkes Tagebücher vollständig veröffentlicht. Sie dokumentieren das geistige Innenleben einer der aufregendsten Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition und Mitbegründer der Grünen erweist sich in seinen Tagebüchern als ein kritischer und selbstkritischer Denker von außerordentlicher Originalität.
Rudi Dutschke war einer der originellsten politischen Köpfe der Bundesrepublik. Er kämpfte für eine sozialistische Revolution in Westdeutschland und gegen den Spätstalinismus in Osteuropa. Er gehörte zu den wenigen Linken, die die deutsche Einheit forderten. Er war das Idol einer Generation, die den Wohlstandsmief wie die Verdrängung des Nationalsozialismus in Frage stellte. Als er im Dezember 1979 an den Folgen des Attentats vom April 1968 starb, hinterließ er politisch eine Lücke, die nicht mehr geschlossen werden konnte.
Rudi Dutschkes Tagebücher, die bisher nur in Auszügen bekannt waren, werden in diesem Band zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. Sie offenbaren einen hellen Verstand und einen sensiblen Geist. Dutschke beobachtet aufmerksam, manchmal aufgeregt die Ereignisse seiner Zeit. Er protokolliert die Angstattacken, die dem Attentat folgen. Er schildert, wie er sich müht, seiner Rolle als Mann, Ehemann und Vater gerecht zu werden. Die Tagebücher dokumentieren Zweifel und Ratlosigkeit und ebenso seine unbeirrbare Überzeugung, dass die Gesellschaft radikal verändert werden muss, damit der Mensch ein Mensch sein kann.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Zum ersten Mal werden Rudi Dutschkes Tagebücher vollständig veröffentlicht. Sie dokumentieren das geistige Innenleben einer der aufregendsten Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition und Mitbegründer der Grünen erweist sich in seinen Tagebüchern als ein kritischer und selbstkritischer Denker von außerordentlicher Originalität.
Rudi Dutschke war einer der originellsten politischen Köpfe der Bundesrepublik. Er kämpfte für eine sozialistische Revolution in Westdeutschland und gegen den Spätstalinismus in Osteuropa. Er gehörte zu den wenigen Linken, die die deutsche Einheit forderten. Er war das Idol einer Generation, die den Wohlstandsmief wie die Verdrängung des Nationalsozialismus in Frage stellte. Als er im Dezember 1979 an den Folgen des Attentats vom April 1968 starb, hinterließ er politisch eine Lücke, die nicht mehr geschlossen werden konnte.
Rudi Dutschkes Tagebücher, die bisher nur in Auszügen bekannt waren, werden in diesem Band zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. Sie offenbaren einen hellen Verstand und einen sensiblen Geist. Dutschke beobachtet aufmerksam, manchmal aufgeregt die Ereignisse seiner Zeit. Er protokolliert die Angstattacken, die dem Attentat folgen. Er schildert, wie er sich müht, seiner Rolle als Mann, Ehemann und Vater gerecht zu werden. Die Tagebücher dokumentieren Zweifel und Ratlosigkeit und ebenso seine unbeirrbare Überzeugung, dass die Gesellschaft radikal verändert werden muss, damit der Mensch ein Mensch sein kann.
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literaturtest.de
Das Attentat
Rudi Dutschke wird 1940 als vierter Sohn eines Postbeamten in Schönfeld/Mark Brandenburg geboren. 1961, kurz vor dem Mauerbau, siedelt er nach West-Berlin über. Er wird zu einer der zentralen Figuren von Studentenbewegung und Außerparlamentarischer Opposition. 1968 wird er bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Am Heiligabend 1979 stirbt Rudi Dutschke an den Spätfolgen dieses Anschlags.
Ein reflektierender Kämpfer
Die nun erstmals vollständig veröffentlichten Tagebücher dokumentieren die Zeit zwischen 1963-1979. Sie zeigen einen Menschen, der zugleich Revolutionär, Familienvater und frommer Christ war. Das Adjektiv "widersprüchlich" kommt einem bei der Lektüre dieser Aufzeichnungen jedoch nicht in den Sinn, zumindest nicht in Bezug auf den Menschen Dutschke. Es ist, bei allen Wandlungen und Krisen, ein Charakter, dessen Spuren man als Leser folgt. Je länger man Dutschke zuhört, desto selbstverständlicher erscheint es einem, übergangslos zwischen christlichen Glaubensbekenntnissen, marxistischer Theorie, Szenen von Ehe und Familie und Beobachtungen zum eigenen Gesundheitszustand hin und her zu wechseln. Dutschke war nicht nur als politischer Aktivist, sondern in allem, was er tat, ein reflektierender Kämpfer ? egal, ob er gegen eine verlogene Gesellschaft oder seine eigenen Unzulänglichkeiten zu Felde zog. Das Selbstbildnis, das seine Tagebücher zeichnen, ist nicht immer schmeichelhaft. Aber es ist von einer Vitalität und Offenheit, die einen in Zeiten allgemeiner Coolness und Smartness regelrecht durchatmen lassen.
(Roland Große Holtforth)
»Ein Dokument: berührend, aufregend« (Die Zeit)
»Die Notizen sind so authentisch wie umfassend. Sie geben eine klare Antwort auf die Frage: Wer war Rudi Dutschke?« (Frankfurter Rundschau)
Das Attentat
Rudi Dutschke wird 1940 als vierter Sohn eines Postbeamten in Schönfeld/Mark Brandenburg geboren. 1961, kurz vor dem Mauerbau, siedelt er nach West-Berlin über. Er wird zu einer der zentralen Figuren von Studentenbewegung und Außerparlamentarischer Opposition. 1968 wird er bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Am Heiligabend 1979 stirbt Rudi Dutschke an den Spätfolgen dieses Anschlags.
Ein reflektierender Kämpfer
Die nun erstmals vollständig veröffentlichten Tagebücher dokumentieren die Zeit zwischen 1963-1979. Sie zeigen einen Menschen, der zugleich Revolutionär, Familienvater und frommer Christ war. Das Adjektiv "widersprüchlich" kommt einem bei der Lektüre dieser Aufzeichnungen jedoch nicht in den Sinn, zumindest nicht in Bezug auf den Menschen Dutschke. Es ist, bei allen Wandlungen und Krisen, ein Charakter, dessen Spuren man als Leser folgt. Je länger man Dutschke zuhört, desto selbstverständlicher erscheint es einem, übergangslos zwischen christlichen Glaubensbekenntnissen, marxistischer Theorie, Szenen von Ehe und Familie und Beobachtungen zum eigenen Gesundheitszustand hin und her zu wechseln. Dutschke war nicht nur als politischer Aktivist, sondern in allem, was er tat, ein reflektierender Kämpfer ? egal, ob er gegen eine verlogene Gesellschaft oder seine eigenen Unzulänglichkeiten zu Felde zog. Das Selbstbildnis, das seine Tagebücher zeichnen, ist nicht immer schmeichelhaft. Aber es ist von einer Vitalität und Offenheit, die einen in Zeiten allgemeiner Coolness und Smartness regelrecht durchatmen lassen.
(Roland Große Holtforth)
»Ein Dokument: berührend, aufregend« (Die Zeit)
»Die Notizen sind so authentisch wie umfassend. Sie geben eine klare Antwort auf die Frage: Wer war Rudi Dutschke?« (Frankfurter Rundschau)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003Schuften im keuchenden Morgenland der Erde
Rudi Dutschke, Star der Studentenbewegung, entfaltet in seinen Tagebüchern jene Leidenschaft für den Weltlauf, die Jürgen Busches Achtundsechziger vermissen lassen / Von Jochen Hieber
Guter und gelernter Marxist, der er war, lebte Rudi Dutschke selbstredend in der Überzeugung, daß nicht Individuen Geschichte machten, daß also auch sogenannte große Männer nichts anderes seien als die bloß zeitweiligen Agenten der noch viel größeren Bewegungsgesetze des Weltlaufs, des Klassenkampfs zumal. Dieser Überzeugung unterwarf er auch seinen Alltag. Da etwa hatte er im Februar 1974 an der Kirchlichen Hochschule in West-Berlin eine "Jutta" näher kennengelernt. Allein, die Geschichte mit ihr entwickelte sich zäh, das Ganze drohte in einer "Intellektuellen-Diskussion . . . über politisch-sexuelle Probleme" zu versickern. Aber dann faßt sich Rudi doch ein Herz und gesteht: "Jutta, du regst mich auf." Leider ist es da schon vier Uhr in der Früh', und das "direkte Verhältnis" muß noch einen weiteren Tag lang warten. Es kann so überwältigend nicht gewesen sein: "Wir liebten, soweit das möglich war", notiert Dutschke danach. Und er muß auch gleich weiter, er hat in Hamburg bei einem "Hearing" an der Uni zu sprechen und weiß: "Die Liebe zur Revolution und Politik bedeutet dann mehr als zu einer lieben Genossin."
Der Weltlauf, dem der 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde geborene Alfred Willi Rudolph Dutschke seine persönliche Produktivkraft zur Verfügung stellte, hatte einen nicht unkomplizierten Namen. Er lautete "demokra(tisch)-subversiver Kommunismus-Sozialismus" und war überaus bestrebt, sich von den Dogmatikern der maoistischen "K-Gruppen" ebenso abzusetzen wie von den langweiligen Kadern der sowjettreuen und aus der DDR umfassend unterstützten Deutschen Kommunistischen Partei. Den eigentlichen Feind nicht zu vergessen: das bloß pseudodemokratisch bemäntelte bürgerlich-kapitalistische System der alten Bundesrepublik. Klar, daß dieser Dauerdienst an der wahren Revolution aller Verhältnisse und Vorstellungsarten den ganzen Mann forderte und nicht ohne Auswirkungen auf den privaten Umgang mit ihm bleiben konnte. "Erneut wird mir der Vorwurf gemacht, mich um die ,Menschheit' zu kümmern, den einzelnen Menschen aber zu mißachten", schreibt er am 7. Juli 1979, wenige Monate vor seinem Tod, so selbstkritisch wie genervt.
Daß einer wie er überhaupt Tagebuch schrieb, ist höchst erstaunlich. Denn das Tagebuch ist, weit mehr noch als der Roman, die bürgerliche Gattung schlechthin - etwas für empfindsame Seelen eben, die das Zentrum der Zivilisation in der eigenen Außergewöhnlichkeit entdecken, etwas für Dichter, die an das Exemplarische ihrer Existenz glauben und bei jedem Eintrag ins Tagebuch schon an ihren Nachruhm denken. Aber ein Revolutionär, der Tagebuch führt: ist das nicht ein Ausweis finsteren Kults um die eigene Person? Und was soll man vom allerersten Satz halten, den der seltsame, weiland zweiundzwanzig Jahre alte Diarist Dutschke noch vor den dann gleich folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital zu Papier brachte? "Die Kälte des hereinströmenden Schlafes des Tages, die Äonen des Lichts entrissen mich der ,harmlosen' Welt des schwarzen Tages", so lautet er - auch vierzig Jahre nach seiner Niederschrift will sich da ein rechter Sinn nicht einstellen, ein wenig postpubertäre Gefühligkeit schon.
Rudi Dutschkes erhaltene Tagebücher beginnen im Februar 1963. Kontinuierlich hat er sie nicht geführt, bisweilen liegen Wochen und Monate zwischen den Einträgen, für die Jahre 1972 und 1976 fehlen sie ganz - selbst die Herausgeberin, Dutschkes Ehefrau Gretchen, kann nicht mehr klären, ob ihr Mann damals einfach keine Lust auf persönliche Notizen hatte oder ob sie schlicht verlorengegangen sind. Was sich erhielt, ist gleichwohl ausführlich und detailreich genug, um Rudi Dutschke trotz der bisherigen biographischen Bemühungen um ihn in einem neuen Licht zu zeigen - als wirklichen Helden. Weniger als Heroen der Revolution und der Reflexion jedoch, vielmehr als unermüdlichen Kämpfer gegen die physischen und psychischen Dauerfolgen des Attentats, dessen Opfer er im April 1968 wurde, als sehr verantwortungsvollen Vater zweier Kinder zudem und als einen Menschen, der sich, von Selbstqual frei, immer wieder in Frage stellte und zur inneren Ordnung rief. Daß er der Star der Studentenbewegung war, verzeichnete er bei Gelegenheit nicht ohne Genugtuung, zur Stilisierung seiner Alltagsnotate führte das nicht. Sichtbar wird in ihnen ein Zeitgenosse, dessen Sorgen, Nöte und Glücksmomente, dessen Größe und Kleinlichkeit, dessen Stolz und Ehrgeiz stets authentisch erscheinen, der vor sich selber keine Rolle zu spielen braucht - und deshalb sympathisch wirkt.
Unerquickliche Passagen gelten dem Freund, Genossen und Konkurrenten Bernd Rabehl, wie Dutschke führendes Mitglied im Berliner SDS, wie er aus der DDR stammend und geflohen. Unter dem Titel "Marx und Lenin" hatte Rabehl 1973 seine Doktorarbeit publiziert, "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen" hieß im Jahr danach Dutschkes Druckfassung der eigenen Dissertation. Wochenlang kennt das Tagebuch nun kein anderes Thema als das mögliche Freundesplagiat. Akribisch vergleicht Dutschke Seite um Seite der beiden Bücher, legt Listen über die Unterschiede in den Fassungen von Rabehls Text an, redet von "Schweinerei", von einem "Betrugssystem mit linkem Schleier" und natürlich von Verrat. Da beider Bücher den Weltlauf, selbst den "demokra(tisch)-subversiven", nicht sonderlich beeinflußten, lohnt heute die Aufregung nicht mehr.
Aber der Verdacht will nicht weichen, daß sich Dutschke auch damals schon so obsessiv wie eher künstlich echauffierte. Man hatte sich doch lustvoll entschieden für ein Leben im "permanenten Diskussionszusammenhang", man zitierte Meister Bertolt Brechts Diktum von der "Laxheit in Fragen geistigen Eigentums" nur zu gern und hielt noch die ureigensten Privattheorien für eine Eingebung des kollektiven Gedankenstroms. Dutschkes bohrendes Insistieren auf seinem Ingenium beweist deshalb nur, daß die kleinbürgerlichen Befangenheiten auch ihn nicht verschonten. In einer Kneipe zu Osnabrück kleidet Ende 1978 ein Genosse seine Bewunderung für die Massenwirksamkeit des Stars in die gönnerische Frage: "Warum kommen zu dir 700 und zu Rabehl 70?" Sofort ist der autobiographische Notierer Dutschke wieder voll auf der Höhe des Kollektivgeistes - und kanzelt die Frage als "schwachsinnig" ab. Nicht ohne befriedigt gleich hinzuzufügen, die "SPD/FDP", also die Regierung in Bonn, sei ihm gegenüber mißtrauisch: "Haben ziemlich Schiß." Ja, die guten alten Widersprüche zwischen revolutionärer Demut und reaktionärem Größenwahn machten auch vor ihm nicht halt.
In einer Rezension für diese Zeitung hat Rabehl, mittlerweile vor der Emeritierung stehender Soziologieprofessor, vor einigen Jahren ganz entschieden auf die streng protestantische Herkunft Dutschkes verwiesen (F.A.Z. vom 21. November 1996). Jetzt, da die Tagebücher vorliegen, ist dieser Hinweis besonders nützlich. Denn der Protestantismus, den zumal Dutschkes Mutter ihren Söhnen vorlebte, rückt den Entschluß, Tagebuch zu führen und damit trotz temporärer Nachlässigkeit nie aufzuhören, in die Tradition, in die er gehört - in die Tradition pietistischer Selbstbefragung. Kein Wunder deshalb, daß Dutschkes Aufzeichnungen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre noch voll religiösen Vokabulars waren - und daß sie unter dem wie eine Offenbarung empfundenen Eindruck der Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs die christliche Überlieferung scheinbar bruchlos ins allmählich entstehende marxistische Denkgebäude integrierten. "In diesen Stunden", schreibt der Diarist an Ostern 1964, "verschied im keuchenden Morgenlande der Welt größter Revolutionär - Jesus Christus; die nichtwissende ,Konterrevolution' schlug ihn ans Kreuz."
Für die allermeisten Kombattanten des SDS und der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, spielte die Einheit Deutschlands keine Rolle mehr, man fühlte sich, war man im Westen aufgewachsen, keineswegs unwohl mit den beiden real existierenden Staaten. Ganz anders Rudi Dutschke - und mit ihm so mancher Studentenbewegte, der die DDR vor dem Mauerbau verlassen hatte oder nach 1961 floh: Ihnen war "die Nation" zumindest als Problem bewußt. Schon ganz im Jargon der säkularen Rebellion heißt es im Tagebuch von 1970: "Hier wäre auch eine sozialistisch-antiautoritäre Beleuchtung der Deutschlandfrage von grundlegender Relevanz." Und bald darauf, mit dem Distanzblick aus England, wo der Rekonvaleszent vorübergehend lebt: "Die Entwicklung im geliebten, aber auch verachteten Deutschland bereitet mir immer mehr Sorgen." Verachtet haben das bloße Wort Deutschland damals fast alle, die auf sich hielten. Daß man das Land seiner Herkunft aber gar lieben könne - so wie die Revolution und also mehr als "Jutta" -, das konnte, war man zugleich Marxist, nur ein protestantischer Patriot aus dem Osten.
Kennenzulernen ist der private Dutschke. Einer also, der bereits verheiratet ist, als die Studentenbewegung 1967 mit den Demonstrationen gegen den Schah von Persien und den Unruhen nach dem Tod von Benno Ohnesorg ihren deutschen Höhepunkt erreicht. Die Ehe von Gretchen und Rudi Dutschke passiert in den Tagebüchern des Mannes nun noch einmal Revue. Daß deren Herausgeberin sowohl die Protokolle der alltäglichen Mißhelligkeiten als auch die Schilderung der tiefer gehenden Differenzen des Paars nicht unterdrückt hat, spricht für ihre Souveränität. Und es spricht für Dutschke, daß er nie nur nach Gretchens Anteil an den zeitweiligen Miseren fragt.
Das Attentat vom April 1968 und seine Folgen haben fortan Dutschkes Leben nicht nur geprägt, sondern bestimmt. Liefert das Tagebuch gerade ab 1966 oft nur flüchtig hingeworfene Stichwörter, weil der Schreiber nun als Starredner und Handlungsreisender der Revolte vollauf zu tun hat, so kann es im Mai 1968 eben nicht mit einem Abstecher ins revolutionär brodelnde Paris aufwarten - sondern, bewegend genug, mit einer langen Wörterliste, die dem Patienten hilft, Sprechen und Schreiben Schritt für Schritt zurückzuerobern. Bis zum Tod durch die Spätfolgen der schweren Gehirnverletzung wird sich Dutschke immer wieder ermahnen, auf ausreichenden Schlaf zu achten, die Medikamente gegen die epileptischen Anfälle rechtzeitig zu besorgen und einzunehmen - und er wird, gerade auch mit den Wörtern und Sätzen seines Lebensjournals, um seelische Stabilität, geistige Präsenz und tatenvolle Alltäglichkeit ringen. Natürlich will er, ob er nun in London oder, seit 1971, im dänischen Aarhus lebt, vor allem eines: zurück in die deutschen Verhältnisse, zurück in die frühere Existenz als politischer Agitator, politischer Publizist - und Liebling der bürgerlichen Medien.
Wolf Biermann steht ihm biographisch und künstlerisch besonders nahe, ganze Passagen aus den Gedichten und Liedern schreibt sich Dutschke ins Tagebuch ab. Nach Biermanns Ausbürgerung aus der DDR im November 1976 treffen sich die beiden auch relativ regelmäßig. Sie liegen auf derselben Wellenlänge, es vereint sie die Verachtung des jenseits der Elbe herrschenden Staatssozialismus. Aber zutiefst melancholisch notiert Dutschke am 26. März 1977 auch den Unterschied: "Wenn ich bloß die Lage von mir nach der Schießerei mit der von W nach der Ausbürgerung vergleiche - Welten liegen dazwischen. Er ist im realen gesellschaftlichen Leben dran und drin, ich mußte x Jahre schuften, um überhaupt wieder heranzukommen." Fürwahr, er hat geschuftet - und er war fast wieder dran, wollte nach Bremen umsiedeln und bei den Gründungsakten der "Grünen" seine Rolle wahrnehmen. Die Tagebücher, die er hinterließ und die wir nun lesen können, sind emphatisch auch ein Dokument seines Willens zu überleben.
Das Buch des Publizisten und Journalisten Jürgen Busche heißt "Die 68er". Den bloß äußeren Anlaß, die fünfunddreißigste Wiederkehr des für eine ganze Spezies namengebenden Jahrs, vergißt man rasch. Denn Busche vermag es, die "Biographie einer Generation" leichthin, ja fast im Plauderton zu erzählen, ohne doch je ins Anekdotische abzugleiten. Zudem sind seine analytischen Setzungen und Sentenzen fast immer einleuchtend. Er schildert die "absolut sicheren Berufsaussichten", die zumindest bis zum Radikalenerlaß der späteren siebziger Jahre auf die Revoluzzer von 1968 warteten. Er leitet überzeugend her, daß im vergangenen Jahrhundert wohl keine Generation in ihrer Kindheit "so stark unter dem Einfluß der Kirchen" gewesen sei wie die der Achtundsechziger. Er weiß um die "fröhliche Grausamkeit" und den "Psychoterror", mit dem konservative Professoren weiland konfrontiert wurden. Richtig ist, daß die Achtundsechziger angesichts des "gesellschaftlichen Reichtums" privat meist sehr gut zurechtkamen, "dabei aber immer ein zerfurchtes Gesicht ob des Elends anderswo zur Schau" trugen. Sehr richtig ist, daß sie ganz im Gegensatz zu ihren älteren Brüdern, die noch bewußt den Nationalsozialismus und das Kriegsende erlebt hatten, zu einer Rolle nicht taugten: zu der des "Ziehkinds" - sei's eines Großordinarius, sei's eines politischen Übervaters.
Keine Einwände, nirgends. Unangestrengt läßt Busche auch das Personal der Zeit auftreten und verfolgt die späteren Karrieren von Mitläufern oder Seiteneinsteigern der Studentenbewegung wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Oskar Lafontaine - letzterer "ein Mann für Bars und Barrikaden". "Der archäologische Furor der sechziger Jahre" wird, Helmuth Lethens Formel folgend, anhand der Renaissance von "Großväter"-Philosophen wie Bloch, Herbert Marcuse oder Walter Benjamin trefflich illustriert. Und als "imponierende Leistung" billigt Busche den von ihm Porträtierten zu, sie hätten das westdeutsche Bürgertum an das zivilisatorische Niveau der westlichen Welt herangeführt, "ohne die deutsche Geschichte vor 1945 zu ignorieren und ohne auf die Achtung vor der deutschen Geschichte vor 1933 zu verzichten".
Alle Achtung, möchte man da sagen. Und doch, es fehlt Busches seltsam befriedeter Darstellung etwas Wesentliches: Engagement - und wenigstens ein bißchen Leidenschaft für den Gegenstand. Dies erstaunt, weil man den Autor als Freund exzentrischer Thesen und rauflustigster Hypothesen zu kennen meinte. Daß er - Jahrgang 1944, ergo zumindest potentieller "68er" - uns jedwede autobiographische Bemerkung erspart, kann hingehen. Daß er die höchst kontroversen Positionen, die in der Sache 1968 etwa von Autoren wie Karl Heinz Bohrer, Hermann Lübbe oder Gerd Koenen bezogen werden, weder referiert noch diskutiert, ist schon mißlich. Ganz unverständlich ist, daß ihn die schwierige Grenze zwischen den antiautoritären Genossen des alten SDS und den autoritären Terroristen der späteren RAF so gar nicht interessiert. Busche betrachtet seine "68er" jedenfalls mit fast großväterlicher Langmut und aus luftiger Bergeshöh'. Zweifellos bringt diese Perspektive manchen Gewinn, der Verlust indes liegt auf der Hand. Er heißt Verharmlosung.
Rudi Dutschke: "Jeder hat sein Leben ganz zu leben". Die Tagebücher 1963-1979. Hrsg. von Gretchen Dutschke. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 432 S., zahlr. Abb., geb., 22,90 [Euro].
Jürgen Busche: "Die 68er". Biographie einer Generation. Berlin Verlag, Berlin 2003. 189 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rudi Dutschke, Star der Studentenbewegung, entfaltet in seinen Tagebüchern jene Leidenschaft für den Weltlauf, die Jürgen Busches Achtundsechziger vermissen lassen / Von Jochen Hieber
Guter und gelernter Marxist, der er war, lebte Rudi Dutschke selbstredend in der Überzeugung, daß nicht Individuen Geschichte machten, daß also auch sogenannte große Männer nichts anderes seien als die bloß zeitweiligen Agenten der noch viel größeren Bewegungsgesetze des Weltlaufs, des Klassenkampfs zumal. Dieser Überzeugung unterwarf er auch seinen Alltag. Da etwa hatte er im Februar 1974 an der Kirchlichen Hochschule in West-Berlin eine "Jutta" näher kennengelernt. Allein, die Geschichte mit ihr entwickelte sich zäh, das Ganze drohte in einer "Intellektuellen-Diskussion . . . über politisch-sexuelle Probleme" zu versickern. Aber dann faßt sich Rudi doch ein Herz und gesteht: "Jutta, du regst mich auf." Leider ist es da schon vier Uhr in der Früh', und das "direkte Verhältnis" muß noch einen weiteren Tag lang warten. Es kann so überwältigend nicht gewesen sein: "Wir liebten, soweit das möglich war", notiert Dutschke danach. Und er muß auch gleich weiter, er hat in Hamburg bei einem "Hearing" an der Uni zu sprechen und weiß: "Die Liebe zur Revolution und Politik bedeutet dann mehr als zu einer lieben Genossin."
Der Weltlauf, dem der 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde geborene Alfred Willi Rudolph Dutschke seine persönliche Produktivkraft zur Verfügung stellte, hatte einen nicht unkomplizierten Namen. Er lautete "demokra(tisch)-subversiver Kommunismus-Sozialismus" und war überaus bestrebt, sich von den Dogmatikern der maoistischen "K-Gruppen" ebenso abzusetzen wie von den langweiligen Kadern der sowjettreuen und aus der DDR umfassend unterstützten Deutschen Kommunistischen Partei. Den eigentlichen Feind nicht zu vergessen: das bloß pseudodemokratisch bemäntelte bürgerlich-kapitalistische System der alten Bundesrepublik. Klar, daß dieser Dauerdienst an der wahren Revolution aller Verhältnisse und Vorstellungsarten den ganzen Mann forderte und nicht ohne Auswirkungen auf den privaten Umgang mit ihm bleiben konnte. "Erneut wird mir der Vorwurf gemacht, mich um die ,Menschheit' zu kümmern, den einzelnen Menschen aber zu mißachten", schreibt er am 7. Juli 1979, wenige Monate vor seinem Tod, so selbstkritisch wie genervt.
Daß einer wie er überhaupt Tagebuch schrieb, ist höchst erstaunlich. Denn das Tagebuch ist, weit mehr noch als der Roman, die bürgerliche Gattung schlechthin - etwas für empfindsame Seelen eben, die das Zentrum der Zivilisation in der eigenen Außergewöhnlichkeit entdecken, etwas für Dichter, die an das Exemplarische ihrer Existenz glauben und bei jedem Eintrag ins Tagebuch schon an ihren Nachruhm denken. Aber ein Revolutionär, der Tagebuch führt: ist das nicht ein Ausweis finsteren Kults um die eigene Person? Und was soll man vom allerersten Satz halten, den der seltsame, weiland zweiundzwanzig Jahre alte Diarist Dutschke noch vor den dann gleich folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital zu Papier brachte? "Die Kälte des hereinströmenden Schlafes des Tages, die Äonen des Lichts entrissen mich der ,harmlosen' Welt des schwarzen Tages", so lautet er - auch vierzig Jahre nach seiner Niederschrift will sich da ein rechter Sinn nicht einstellen, ein wenig postpubertäre Gefühligkeit schon.
Rudi Dutschkes erhaltene Tagebücher beginnen im Februar 1963. Kontinuierlich hat er sie nicht geführt, bisweilen liegen Wochen und Monate zwischen den Einträgen, für die Jahre 1972 und 1976 fehlen sie ganz - selbst die Herausgeberin, Dutschkes Ehefrau Gretchen, kann nicht mehr klären, ob ihr Mann damals einfach keine Lust auf persönliche Notizen hatte oder ob sie schlicht verlorengegangen sind. Was sich erhielt, ist gleichwohl ausführlich und detailreich genug, um Rudi Dutschke trotz der bisherigen biographischen Bemühungen um ihn in einem neuen Licht zu zeigen - als wirklichen Helden. Weniger als Heroen der Revolution und der Reflexion jedoch, vielmehr als unermüdlichen Kämpfer gegen die physischen und psychischen Dauerfolgen des Attentats, dessen Opfer er im April 1968 wurde, als sehr verantwortungsvollen Vater zweier Kinder zudem und als einen Menschen, der sich, von Selbstqual frei, immer wieder in Frage stellte und zur inneren Ordnung rief. Daß er der Star der Studentenbewegung war, verzeichnete er bei Gelegenheit nicht ohne Genugtuung, zur Stilisierung seiner Alltagsnotate führte das nicht. Sichtbar wird in ihnen ein Zeitgenosse, dessen Sorgen, Nöte und Glücksmomente, dessen Größe und Kleinlichkeit, dessen Stolz und Ehrgeiz stets authentisch erscheinen, der vor sich selber keine Rolle zu spielen braucht - und deshalb sympathisch wirkt.
Unerquickliche Passagen gelten dem Freund, Genossen und Konkurrenten Bernd Rabehl, wie Dutschke führendes Mitglied im Berliner SDS, wie er aus der DDR stammend und geflohen. Unter dem Titel "Marx und Lenin" hatte Rabehl 1973 seine Doktorarbeit publiziert, "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen" hieß im Jahr danach Dutschkes Druckfassung der eigenen Dissertation. Wochenlang kennt das Tagebuch nun kein anderes Thema als das mögliche Freundesplagiat. Akribisch vergleicht Dutschke Seite um Seite der beiden Bücher, legt Listen über die Unterschiede in den Fassungen von Rabehls Text an, redet von "Schweinerei", von einem "Betrugssystem mit linkem Schleier" und natürlich von Verrat. Da beider Bücher den Weltlauf, selbst den "demokra(tisch)-subversiven", nicht sonderlich beeinflußten, lohnt heute die Aufregung nicht mehr.
Aber der Verdacht will nicht weichen, daß sich Dutschke auch damals schon so obsessiv wie eher künstlich echauffierte. Man hatte sich doch lustvoll entschieden für ein Leben im "permanenten Diskussionszusammenhang", man zitierte Meister Bertolt Brechts Diktum von der "Laxheit in Fragen geistigen Eigentums" nur zu gern und hielt noch die ureigensten Privattheorien für eine Eingebung des kollektiven Gedankenstroms. Dutschkes bohrendes Insistieren auf seinem Ingenium beweist deshalb nur, daß die kleinbürgerlichen Befangenheiten auch ihn nicht verschonten. In einer Kneipe zu Osnabrück kleidet Ende 1978 ein Genosse seine Bewunderung für die Massenwirksamkeit des Stars in die gönnerische Frage: "Warum kommen zu dir 700 und zu Rabehl 70?" Sofort ist der autobiographische Notierer Dutschke wieder voll auf der Höhe des Kollektivgeistes - und kanzelt die Frage als "schwachsinnig" ab. Nicht ohne befriedigt gleich hinzuzufügen, die "SPD/FDP", also die Regierung in Bonn, sei ihm gegenüber mißtrauisch: "Haben ziemlich Schiß." Ja, die guten alten Widersprüche zwischen revolutionärer Demut und reaktionärem Größenwahn machten auch vor ihm nicht halt.
In einer Rezension für diese Zeitung hat Rabehl, mittlerweile vor der Emeritierung stehender Soziologieprofessor, vor einigen Jahren ganz entschieden auf die streng protestantische Herkunft Dutschkes verwiesen (F.A.Z. vom 21. November 1996). Jetzt, da die Tagebücher vorliegen, ist dieser Hinweis besonders nützlich. Denn der Protestantismus, den zumal Dutschkes Mutter ihren Söhnen vorlebte, rückt den Entschluß, Tagebuch zu führen und damit trotz temporärer Nachlässigkeit nie aufzuhören, in die Tradition, in die er gehört - in die Tradition pietistischer Selbstbefragung. Kein Wunder deshalb, daß Dutschkes Aufzeichnungen in der ersten Hälfte der sechziger Jahre noch voll religiösen Vokabulars waren - und daß sie unter dem wie eine Offenbarung empfundenen Eindruck der Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs die christliche Überlieferung scheinbar bruchlos ins allmählich entstehende marxistische Denkgebäude integrierten. "In diesen Stunden", schreibt der Diarist an Ostern 1964, "verschied im keuchenden Morgenlande der Welt größter Revolutionär - Jesus Christus; die nichtwissende ,Konterrevolution' schlug ihn ans Kreuz."
Für die allermeisten Kombattanten des SDS und der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, spielte die Einheit Deutschlands keine Rolle mehr, man fühlte sich, war man im Westen aufgewachsen, keineswegs unwohl mit den beiden real existierenden Staaten. Ganz anders Rudi Dutschke - und mit ihm so mancher Studentenbewegte, der die DDR vor dem Mauerbau verlassen hatte oder nach 1961 floh: Ihnen war "die Nation" zumindest als Problem bewußt. Schon ganz im Jargon der säkularen Rebellion heißt es im Tagebuch von 1970: "Hier wäre auch eine sozialistisch-antiautoritäre Beleuchtung der Deutschlandfrage von grundlegender Relevanz." Und bald darauf, mit dem Distanzblick aus England, wo der Rekonvaleszent vorübergehend lebt: "Die Entwicklung im geliebten, aber auch verachteten Deutschland bereitet mir immer mehr Sorgen." Verachtet haben das bloße Wort Deutschland damals fast alle, die auf sich hielten. Daß man das Land seiner Herkunft aber gar lieben könne - so wie die Revolution und also mehr als "Jutta" -, das konnte, war man zugleich Marxist, nur ein protestantischer Patriot aus dem Osten.
Kennenzulernen ist der private Dutschke. Einer also, der bereits verheiratet ist, als die Studentenbewegung 1967 mit den Demonstrationen gegen den Schah von Persien und den Unruhen nach dem Tod von Benno Ohnesorg ihren deutschen Höhepunkt erreicht. Die Ehe von Gretchen und Rudi Dutschke passiert in den Tagebüchern des Mannes nun noch einmal Revue. Daß deren Herausgeberin sowohl die Protokolle der alltäglichen Mißhelligkeiten als auch die Schilderung der tiefer gehenden Differenzen des Paars nicht unterdrückt hat, spricht für ihre Souveränität. Und es spricht für Dutschke, daß er nie nur nach Gretchens Anteil an den zeitweiligen Miseren fragt.
Das Attentat vom April 1968 und seine Folgen haben fortan Dutschkes Leben nicht nur geprägt, sondern bestimmt. Liefert das Tagebuch gerade ab 1966 oft nur flüchtig hingeworfene Stichwörter, weil der Schreiber nun als Starredner und Handlungsreisender der Revolte vollauf zu tun hat, so kann es im Mai 1968 eben nicht mit einem Abstecher ins revolutionär brodelnde Paris aufwarten - sondern, bewegend genug, mit einer langen Wörterliste, die dem Patienten hilft, Sprechen und Schreiben Schritt für Schritt zurückzuerobern. Bis zum Tod durch die Spätfolgen der schweren Gehirnverletzung wird sich Dutschke immer wieder ermahnen, auf ausreichenden Schlaf zu achten, die Medikamente gegen die epileptischen Anfälle rechtzeitig zu besorgen und einzunehmen - und er wird, gerade auch mit den Wörtern und Sätzen seines Lebensjournals, um seelische Stabilität, geistige Präsenz und tatenvolle Alltäglichkeit ringen. Natürlich will er, ob er nun in London oder, seit 1971, im dänischen Aarhus lebt, vor allem eines: zurück in die deutschen Verhältnisse, zurück in die frühere Existenz als politischer Agitator, politischer Publizist - und Liebling der bürgerlichen Medien.
Wolf Biermann steht ihm biographisch und künstlerisch besonders nahe, ganze Passagen aus den Gedichten und Liedern schreibt sich Dutschke ins Tagebuch ab. Nach Biermanns Ausbürgerung aus der DDR im November 1976 treffen sich die beiden auch relativ regelmäßig. Sie liegen auf derselben Wellenlänge, es vereint sie die Verachtung des jenseits der Elbe herrschenden Staatssozialismus. Aber zutiefst melancholisch notiert Dutschke am 26. März 1977 auch den Unterschied: "Wenn ich bloß die Lage von mir nach der Schießerei mit der von W nach der Ausbürgerung vergleiche - Welten liegen dazwischen. Er ist im realen gesellschaftlichen Leben dran und drin, ich mußte x Jahre schuften, um überhaupt wieder heranzukommen." Fürwahr, er hat geschuftet - und er war fast wieder dran, wollte nach Bremen umsiedeln und bei den Gründungsakten der "Grünen" seine Rolle wahrnehmen. Die Tagebücher, die er hinterließ und die wir nun lesen können, sind emphatisch auch ein Dokument seines Willens zu überleben.
Das Buch des Publizisten und Journalisten Jürgen Busche heißt "Die 68er". Den bloß äußeren Anlaß, die fünfunddreißigste Wiederkehr des für eine ganze Spezies namengebenden Jahrs, vergißt man rasch. Denn Busche vermag es, die "Biographie einer Generation" leichthin, ja fast im Plauderton zu erzählen, ohne doch je ins Anekdotische abzugleiten. Zudem sind seine analytischen Setzungen und Sentenzen fast immer einleuchtend. Er schildert die "absolut sicheren Berufsaussichten", die zumindest bis zum Radikalenerlaß der späteren siebziger Jahre auf die Revoluzzer von 1968 warteten. Er leitet überzeugend her, daß im vergangenen Jahrhundert wohl keine Generation in ihrer Kindheit "so stark unter dem Einfluß der Kirchen" gewesen sei wie die der Achtundsechziger. Er weiß um die "fröhliche Grausamkeit" und den "Psychoterror", mit dem konservative Professoren weiland konfrontiert wurden. Richtig ist, daß die Achtundsechziger angesichts des "gesellschaftlichen Reichtums" privat meist sehr gut zurechtkamen, "dabei aber immer ein zerfurchtes Gesicht ob des Elends anderswo zur Schau" trugen. Sehr richtig ist, daß sie ganz im Gegensatz zu ihren älteren Brüdern, die noch bewußt den Nationalsozialismus und das Kriegsende erlebt hatten, zu einer Rolle nicht taugten: zu der des "Ziehkinds" - sei's eines Großordinarius, sei's eines politischen Übervaters.
Keine Einwände, nirgends. Unangestrengt läßt Busche auch das Personal der Zeit auftreten und verfolgt die späteren Karrieren von Mitläufern oder Seiteneinsteigern der Studentenbewegung wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Oskar Lafontaine - letzterer "ein Mann für Bars und Barrikaden". "Der archäologische Furor der sechziger Jahre" wird, Helmuth Lethens Formel folgend, anhand der Renaissance von "Großväter"-Philosophen wie Bloch, Herbert Marcuse oder Walter Benjamin trefflich illustriert. Und als "imponierende Leistung" billigt Busche den von ihm Porträtierten zu, sie hätten das westdeutsche Bürgertum an das zivilisatorische Niveau der westlichen Welt herangeführt, "ohne die deutsche Geschichte vor 1945 zu ignorieren und ohne auf die Achtung vor der deutschen Geschichte vor 1933 zu verzichten".
Alle Achtung, möchte man da sagen. Und doch, es fehlt Busches seltsam befriedeter Darstellung etwas Wesentliches: Engagement - und wenigstens ein bißchen Leidenschaft für den Gegenstand. Dies erstaunt, weil man den Autor als Freund exzentrischer Thesen und rauflustigster Hypothesen zu kennen meinte. Daß er - Jahrgang 1944, ergo zumindest potentieller "68er" - uns jedwede autobiographische Bemerkung erspart, kann hingehen. Daß er die höchst kontroversen Positionen, die in der Sache 1968 etwa von Autoren wie Karl Heinz Bohrer, Hermann Lübbe oder Gerd Koenen bezogen werden, weder referiert noch diskutiert, ist schon mißlich. Ganz unverständlich ist, daß ihn die schwierige Grenze zwischen den antiautoritären Genossen des alten SDS und den autoritären Terroristen der späteren RAF so gar nicht interessiert. Busche betrachtet seine "68er" jedenfalls mit fast großväterlicher Langmut und aus luftiger Bergeshöh'. Zweifellos bringt diese Perspektive manchen Gewinn, der Verlust indes liegt auf der Hand. Er heißt Verharmlosung.
Rudi Dutschke: "Jeder hat sein Leben ganz zu leben". Die Tagebücher 1963-1979. Hrsg. von Gretchen Dutschke. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 432 S., zahlr. Abb., geb., 22,90 [Euro].
Jürgen Busche: "Die 68er". Biographie einer Generation. Berlin Verlag, Berlin 2003. 189 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Im Italowestern der APO, weiß Barbara Sichtermann, war Baader der "Böse", Krahl der "Philosoph" und Rudi Dutschke der "Gute". Der Gute? Wie kam es eigentlich dazu? Seine jetzt veröffentlichten Tagebücher haben ihr eine Antwort gegeben; Dutschkes "christliche Haltung" und "freundlich-gelassene Art" waren ja schon bekannt, jetzt aber werde deutlich: "Der Mann war ein Kämpfer", ein Draufgänger - idealistisch, ungebrochen und tragisch. Wie er nach seiner schweren Verletzung wieder um körperliche und geistige Gesundheit rang, wie er bis zuletzt von der Weltrevolution träumte, obwohl die politische Lage keinen Anlass dazu bot, das habe Dutschke so sympathisch gemacht. Ebenso die "Selbstverständlichkeit, mit der er als Revolutionär zugleich Familienvater war". Und all das - die politischen Bestandsaufnahmen, das tägliche Rehaprogramm, die Kontaktpflege, die Entwicklung seiner Kinder, die Resignation und die nie ganz verebbende Hoffnung - könne man jetzt nachlesen, "wie es aussieht unzensiert, allen Privatkram einschließend". Sichtermann hat das "mit großer Anteilnahme" getan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein Dokument: berührend, aufregend« Die Zeit