Jeder Mensch hat das Recht ...
Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich wurden die Grundsteine für unsere moderne Gesellschaft gelegt, für unsere Freiheit und unsere unveräußerlichen Rechte.
Das Erstaunliche an diesen Deklarationen ist, dass sie nicht die Wirklichkeit widerspiegelten. Die großen Manifeste der Menschheit verlangten eine Ordnung der Gesellschaft, die es noch nicht gab. Es waren Utopien.
Heute stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Klimawandel: Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, waren vor 200 Jahren noch nicht einmal vorstellbar. Wir brauchen deshalb neue, zusätzliche Menschenrechte.
Heute müssen wir wieder über unsere Gesellschaft entscheiden - nicht wie sie ist, sondern so, wie wir sie uns wünschen. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Ist das nicht die eigentliche Aufgabe unsererZeit?
Mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich wurden die Grundsteine für unsere moderne Gesellschaft gelegt, für unsere Freiheit und unsere unveräußerlichen Rechte.
Das Erstaunliche an diesen Deklarationen ist, dass sie nicht die Wirklichkeit widerspiegelten. Die großen Manifeste der Menschheit verlangten eine Ordnung der Gesellschaft, die es noch nicht gab. Es waren Utopien.
Heute stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Globalisierung, Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Klimawandel: Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, waren vor 200 Jahren noch nicht einmal vorstellbar. Wir brauchen deshalb neue, zusätzliche Menschenrechte.
Heute müssen wir wieder über unsere Gesellschaft entscheiden - nicht wie sie ist, sondern so, wie wir sie uns wünschen. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Ist das nicht die eigentliche Aufgabe unsererZeit?
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensent Mark Siemons ist äußerst skeptisch. Man kann nicht einfach politische Ziele wie eine gesunde Umwelt, eine nicht lügende Verwaltung oder Digitalisierung zu "Grundrechten" erklären und dann hoffen, sie einklagen zu können. Diese Vorstellung widerspricht schon der Idee von Grundrechten, die nicht von ungefähr im Vorpolitischenn angesiedelt seien und jenseits der politischen Aktualität gültig sein sollen, so Siemons. Hier werde eine Art "moralische Wellness-Oase" geschaffen, kritisiert Siemons, der es durchaus gefährlich findet, das Grundrechtsprinzip auf diese Art zu überdehnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2021Grundrecht auf
Wahrheit
Ferdinand von Schirach fordert per Manifest
ein anderes Europa. Das wird schwierig
VON JOHAN SCHLOEMANN
Am Dienstag erscheint unter dem Titel „Jeder Mensch“ ein Manifest von Ferdinand von Schirach. Es soll über die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern des ganzen Kontinents im Internet dazu führen, der Europäischen Union neue Grundrechte zu verschaffen, etwa zum Schutz der Umwelt und vor digitaler Fremdbestimmung.
Der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach ist sehr prominent, weil er mit literarisierten True-Crime-Geschichten über die menschliche Fehlbarkeit Bestsellerautor wurde, und weil er Fernsehdramen über ethisch-politische Dilemmata meist mit dem Volksgericht der Zuschauerumfrage enden lässt. Hinzu kommt, und das führt er ausdrücklich als persönliches Motiv seiner Verfassungsinitiative an: Er ist einerseits sehr entfernt mit einem Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verwandt und andererseits der Enkel des Nazi-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach. Darin sieht er eine doppelte Verpflichtung.
Weil er sehr prominent ist, durfte Ferdinand von Schirach zu seinem Vorhaben schon vom Springer-Chef Mathias Döpfner interviewt werden und mit dem ZDF durch den Tiergarten laufen, und er darf die Hoffnung ausdrücken, eine Bewegung anzustoßen, die „den nachfolgenden Generationen etwas Glückliches, etwas Strahlendes hinterlassen“ werde, wie er schreibt. Ferdinand von Schirach möchte, trotz einer vornehmen Bescheidenheit und Zurückgezogenheit („Ich versuche, das Projekt ein wenig zum Laufen zu bringen, ja, aber dann bin ich raus“), ein neuer Solon, Lafayette oder Jefferson für ganz Europa werden. Damit zum Beispiel der Kampf gegen den Klimawandel, gegen Google oder gegen manipulierende Algorithmen besser einklagbares Recht wird.
Nun ergeben sich auf der Ebene der Europäischen Union dafür ein paar Schwierigkeiten. Zunächst die, dass sich mit dem Thema Europa derzeit politisch kein Blumentopf gewinnen lässt. Die EU wird im kommenden Bundestagswahlkampf, auch wenn die „gemeinsame“ Kandidatenkür bei der Union entschieden ist, keinerlei Rolle spielen. Ähnliches gilt für die übrigen Länder zwischen Finnland und Portugal, zumal in Zeiten der Pandemie. Die EU interessiert, so viel Einfluss sie auch auf unser Leben hat, leider fast niemanden mehr außer natürlich ein paar engagierte Eliten.
Und wenn sich die Menschen aber mal politisch für Europa interessieren, dann sehen sie nur Probleme: Die EU findet seit Jahren keine Einigung in der Migrationspolitik und verletzt derweil die Menschenrechte. Sie ist zahnlos gegenüber Korruption, Nationalismus und den Abbau von Rechtsstaatlichkeit, hat Großbritannien verloren und war bei der Beschaffung von Impfstoff trotz hervorragender europäischer Pharmaforschung zu schwerfällig. Und dann noch das „Sofagate“ bei Erdoğan, das sich von einer diplomatischen Frage der Sitzordnung zu einem Symbol verselbständigt, zu einem für die Diskrepanz zwischen europäischer Werterhetorik und der wirklichen Politik.
Die zweite Schwierigkeit für von Schirachs Initiative greift tiefer, hängt aber mit dem Desinteresse und der Skepsis zusammen. Es gab schon einmal einen europäischen Verfassungskonvent. Er fand in den Jahren 2003 und 2004 statt und scheiterte schließlich 2006 durch ablehnende Volksabstimmungen in zwei Kernländern der EU, in Frankreich und in den Niederlanden. 2009 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtskräftig, wenn auch nicht vorbehaltlos. Diese Charta findet von Schirach zwar „brillant“, sie habe aber „nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789“, also der amerikanischen und französischen Revolutionsdokumente, schreibt er. Das klingt fast schon so, als wolle er die EU-Charta ersetzen, während es im Buch dann aber realistischer heißt, die neuen (kraftvolleren?) Schirach-Artikel, es sind sechs an der Zahl, sollten die Charta nur „ergänzen“.
„Wenn die Menschen einen europäischen Grundrechtekonvent wollen“, sagt von Schirach im Gespräch mit der Zeit, „wird er kommen.“ Und zu Mathias Döpfner: „Eigentlich ist es ganz einfach.“ Doch warum sollte nun ausgerechnet durch die Online-Petition eines deutschen Prominenten noch einmal ein ganz neuer Anlauf zur Verfassungsgebung gelingen, dem alle EU-Länder zustimmen?
Und selbst wenn wir da zu kleinmütig und pessimistisch sein sollten und es doch anders kommt, stößt das schlichte Pathos des historischen, ja revolutionären Neuanfangs doch auf weitere Hindernisse in der Verfassungswirklichkeit. Dabei soll sein Projekt „Jeder Mensch“ möglichst klar, kurz und verständlich sein, was ja sinnvoll in der politischen und verfassungsrechtlichen Kommunikation sein kann.
Ein Einwand wäre, dass sich die Schirach-Grundrechte zum Teil mit bereits bestehenden Artikeln der EU-Charta überschneiden, etwa mit deren Artikel 7 („Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation“) und Artikel 8 („Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten“). Damit ist das allgemeine, auch in den USA heftig debattierte Problem berührt, ob Verfassungen mit hehren Staatszielen alles ausformulieren müssen, was in späteren Schritten der historischen Entwicklung zum gesellschaftlichen Thema wird. Die alten Verfassungsmütter und Verfassungsväter hätten das Internet noch nicht gekannt, erklärt von Schirach. Das stimmt, und trotzdem hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe etwa den Datenschutz und das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ aus den bestehenden Grundrechten weiterentwickelt. Sogar so weitgehend, dass es manchen schon zu viel wird.
Aber sogar dann, wenn ein neuer Schirach-Konvent die EU-Grundrechte ändern und einklagbar machen sollte, bleibt die fortlaufende Kärrnerarbeit, wie sie denn in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Oberste nationale und europäische Gerichte reiben sich scharf aneinander, die Verflechtungen und Gegensätze von europäischem und nationalem Recht sind kompliziert, und die bereits bestehenden rechtlich-politischen Konflikte zwischen Brüssel und den einzelnen Regierungen um Pestizide oder Datenschutz oder Urheberrecht sind doch erheblich. Über diese Mühen der Ebene verliert der heroische Nomothet in seinem Manifest leider kein einziges Wort. Stattdessen schreibt er Sätze wie: „Wir müssen heute erneut entscheiden, wer wir sein wollen.“
Das soll nun aber nicht in Abrede stellen, dass Ferdinand von Schirach allerbeste Absichten hegt. Das System Brüssel kann sich den Ansprüchen neuer Generationen nicht verschließen, von „Fridays for Future“ bis zur künstlichen Intelligenz ist ja jede grundsätzliche und grundrechtliche Diskussion willkommen, die mal ein wenig von der Realpolitik, von Viktor Orbán und Lobbyinteressen absieht. Deshalb erfährt von Schirach auch einige Sympathie von Staatsrechtlern, die auf Europa hoffen. Der Münchner Professor Jens Kersten springt dieser „Jeder Mensch“-Sache schon mit „revolutionärem“ Elan bei, der Berliner Kollege Christoph Möllers sieht darin im Spiegel einen möglichen „Köder“, „um die Bürgerinnen und Bürger Europas aus der allgemeinen Lethargie (...) zu bewegen“. Katarina Barley, die SPD-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments, schließt sich an; fast unvermeidlich auch Jan Böhmermann und viele andere.
Was dann in der Sache dabei herauskommt, müssen Klickzahlen und die politischen Reaktionen zeigen. Dass es nicht einfach werden wird mit der Schirach-Revolution, zeigt besonders das kurioseste der sechs Grundrechte, die er formuliert hat: „Artikel 4: Wahrheit. Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Drei Anwaltskollegen schreiben dazu in einem flankierenden Kommentar, dies könne ein „einklagbares Recht gegen staatlich verbreitete Unwahrheiten“ sein.
Wie bitte? Man versteht ja das europäische Trump-Trauma. Aber wenn zum Beispiel Armin Laschet sagt: „NRW setzt die Notbremse konsequent durch“ – sollen wir dann vor einen europäischen Wahrheitsgerichtshof ziehen? Oder um mal im Schirach-Ton der großen historischen Persönlichkeiten zurückzufragen – mit Blick darauf, wie demokratische Politik funktioniert: Was ist Wahrheit?
Die Verfassungsvorfahren
kannten das Internet noch
nicht, lautet seine Lehre
Münchner Professoren springen
der „Jeder Mensch“-Sache schon
mit „revolutionärem“ Elan bei
„Eigentlich ist es ganz einfach“: Ferdinand von Schirach.
Foto: Luchterhand Verlag
Ferdinand von
Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand Verlag,
München 2021.
31 Seiten, 5 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wahrheit
Ferdinand von Schirach fordert per Manifest
ein anderes Europa. Das wird schwierig
VON JOHAN SCHLOEMANN
Am Dienstag erscheint unter dem Titel „Jeder Mensch“ ein Manifest von Ferdinand von Schirach. Es soll über die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern des ganzen Kontinents im Internet dazu führen, der Europäischen Union neue Grundrechte zu verschaffen, etwa zum Schutz der Umwelt und vor digitaler Fremdbestimmung.
Der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach ist sehr prominent, weil er mit literarisierten True-Crime-Geschichten über die menschliche Fehlbarkeit Bestsellerautor wurde, und weil er Fernsehdramen über ethisch-politische Dilemmata meist mit dem Volksgericht der Zuschauerumfrage enden lässt. Hinzu kommt, und das führt er ausdrücklich als persönliches Motiv seiner Verfassungsinitiative an: Er ist einerseits sehr entfernt mit einem Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verwandt und andererseits der Enkel des Nazi-Kriegsverbrechers Baldur von Schirach. Darin sieht er eine doppelte Verpflichtung.
Weil er sehr prominent ist, durfte Ferdinand von Schirach zu seinem Vorhaben schon vom Springer-Chef Mathias Döpfner interviewt werden und mit dem ZDF durch den Tiergarten laufen, und er darf die Hoffnung ausdrücken, eine Bewegung anzustoßen, die „den nachfolgenden Generationen etwas Glückliches, etwas Strahlendes hinterlassen“ werde, wie er schreibt. Ferdinand von Schirach möchte, trotz einer vornehmen Bescheidenheit und Zurückgezogenheit („Ich versuche, das Projekt ein wenig zum Laufen zu bringen, ja, aber dann bin ich raus“), ein neuer Solon, Lafayette oder Jefferson für ganz Europa werden. Damit zum Beispiel der Kampf gegen den Klimawandel, gegen Google oder gegen manipulierende Algorithmen besser einklagbares Recht wird.
Nun ergeben sich auf der Ebene der Europäischen Union dafür ein paar Schwierigkeiten. Zunächst die, dass sich mit dem Thema Europa derzeit politisch kein Blumentopf gewinnen lässt. Die EU wird im kommenden Bundestagswahlkampf, auch wenn die „gemeinsame“ Kandidatenkür bei der Union entschieden ist, keinerlei Rolle spielen. Ähnliches gilt für die übrigen Länder zwischen Finnland und Portugal, zumal in Zeiten der Pandemie. Die EU interessiert, so viel Einfluss sie auch auf unser Leben hat, leider fast niemanden mehr außer natürlich ein paar engagierte Eliten.
Und wenn sich die Menschen aber mal politisch für Europa interessieren, dann sehen sie nur Probleme: Die EU findet seit Jahren keine Einigung in der Migrationspolitik und verletzt derweil die Menschenrechte. Sie ist zahnlos gegenüber Korruption, Nationalismus und den Abbau von Rechtsstaatlichkeit, hat Großbritannien verloren und war bei der Beschaffung von Impfstoff trotz hervorragender europäischer Pharmaforschung zu schwerfällig. Und dann noch das „Sofagate“ bei Erdoğan, das sich von einer diplomatischen Frage der Sitzordnung zu einem Symbol verselbständigt, zu einem für die Diskrepanz zwischen europäischer Werterhetorik und der wirklichen Politik.
Die zweite Schwierigkeit für von Schirachs Initiative greift tiefer, hängt aber mit dem Desinteresse und der Skepsis zusammen. Es gab schon einmal einen europäischen Verfassungskonvent. Er fand in den Jahren 2003 und 2004 statt und scheiterte schließlich 2006 durch ablehnende Volksabstimmungen in zwei Kernländern der EU, in Frankreich und in den Niederlanden. 2009 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtskräftig, wenn auch nicht vorbehaltlos. Diese Charta findet von Schirach zwar „brillant“, sie habe aber „nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789“, also der amerikanischen und französischen Revolutionsdokumente, schreibt er. Das klingt fast schon so, als wolle er die EU-Charta ersetzen, während es im Buch dann aber realistischer heißt, die neuen (kraftvolleren?) Schirach-Artikel, es sind sechs an der Zahl, sollten die Charta nur „ergänzen“.
„Wenn die Menschen einen europäischen Grundrechtekonvent wollen“, sagt von Schirach im Gespräch mit der Zeit, „wird er kommen.“ Und zu Mathias Döpfner: „Eigentlich ist es ganz einfach.“ Doch warum sollte nun ausgerechnet durch die Online-Petition eines deutschen Prominenten noch einmal ein ganz neuer Anlauf zur Verfassungsgebung gelingen, dem alle EU-Länder zustimmen?
Und selbst wenn wir da zu kleinmütig und pessimistisch sein sollten und es doch anders kommt, stößt das schlichte Pathos des historischen, ja revolutionären Neuanfangs doch auf weitere Hindernisse in der Verfassungswirklichkeit. Dabei soll sein Projekt „Jeder Mensch“ möglichst klar, kurz und verständlich sein, was ja sinnvoll in der politischen und verfassungsrechtlichen Kommunikation sein kann.
Ein Einwand wäre, dass sich die Schirach-Grundrechte zum Teil mit bereits bestehenden Artikeln der EU-Charta überschneiden, etwa mit deren Artikel 7 („Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation“) und Artikel 8 („Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten“). Damit ist das allgemeine, auch in den USA heftig debattierte Problem berührt, ob Verfassungen mit hehren Staatszielen alles ausformulieren müssen, was in späteren Schritten der historischen Entwicklung zum gesellschaftlichen Thema wird. Die alten Verfassungsmütter und Verfassungsväter hätten das Internet noch nicht gekannt, erklärt von Schirach. Das stimmt, und trotzdem hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe etwa den Datenschutz und das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ aus den bestehenden Grundrechten weiterentwickelt. Sogar so weitgehend, dass es manchen schon zu viel wird.
Aber sogar dann, wenn ein neuer Schirach-Konvent die EU-Grundrechte ändern und einklagbar machen sollte, bleibt die fortlaufende Kärrnerarbeit, wie sie denn in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Oberste nationale und europäische Gerichte reiben sich scharf aneinander, die Verflechtungen und Gegensätze von europäischem und nationalem Recht sind kompliziert, und die bereits bestehenden rechtlich-politischen Konflikte zwischen Brüssel und den einzelnen Regierungen um Pestizide oder Datenschutz oder Urheberrecht sind doch erheblich. Über diese Mühen der Ebene verliert der heroische Nomothet in seinem Manifest leider kein einziges Wort. Stattdessen schreibt er Sätze wie: „Wir müssen heute erneut entscheiden, wer wir sein wollen.“
Das soll nun aber nicht in Abrede stellen, dass Ferdinand von Schirach allerbeste Absichten hegt. Das System Brüssel kann sich den Ansprüchen neuer Generationen nicht verschließen, von „Fridays for Future“ bis zur künstlichen Intelligenz ist ja jede grundsätzliche und grundrechtliche Diskussion willkommen, die mal ein wenig von der Realpolitik, von Viktor Orbán und Lobbyinteressen absieht. Deshalb erfährt von Schirach auch einige Sympathie von Staatsrechtlern, die auf Europa hoffen. Der Münchner Professor Jens Kersten springt dieser „Jeder Mensch“-Sache schon mit „revolutionärem“ Elan bei, der Berliner Kollege Christoph Möllers sieht darin im Spiegel einen möglichen „Köder“, „um die Bürgerinnen und Bürger Europas aus der allgemeinen Lethargie (...) zu bewegen“. Katarina Barley, die SPD-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments, schließt sich an; fast unvermeidlich auch Jan Böhmermann und viele andere.
Was dann in der Sache dabei herauskommt, müssen Klickzahlen und die politischen Reaktionen zeigen. Dass es nicht einfach werden wird mit der Schirach-Revolution, zeigt besonders das kurioseste der sechs Grundrechte, die er formuliert hat: „Artikel 4: Wahrheit. Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Drei Anwaltskollegen schreiben dazu in einem flankierenden Kommentar, dies könne ein „einklagbares Recht gegen staatlich verbreitete Unwahrheiten“ sein.
Wie bitte? Man versteht ja das europäische Trump-Trauma. Aber wenn zum Beispiel Armin Laschet sagt: „NRW setzt die Notbremse konsequent durch“ – sollen wir dann vor einen europäischen Wahrheitsgerichtshof ziehen? Oder um mal im Schirach-Ton der großen historischen Persönlichkeiten zurückzufragen – mit Blick darauf, wie demokratische Politik funktioniert: Was ist Wahrheit?
Die Verfassungsvorfahren
kannten das Internet noch
nicht, lautet seine Lehre
Münchner Professoren springen
der „Jeder Mensch“-Sache schon
mit „revolutionärem“ Elan bei
„Eigentlich ist es ganz einfach“: Ferdinand von Schirach.
Foto: Luchterhand Verlag
Ferdinand von
Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand Verlag,
München 2021.
31 Seiten, 5 Euro.
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