Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 4,50 €
Produktdetails
  • Aufbau Taschenbücher
  • Verlag: Aufbau TB
  • Nachdr.
  • Seitenzahl: 627
  • Gewicht: 472g
  • ISBN-13: 9783746653013
  • Artikelnr.: 24238948
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2010

Eine Viertelmillion Blicke in die Vergangenheit

Dreißig Jahre lang war Hans Fallada in Großbritannien völlig vergessen. Warum ist sein Roman "Jeder stirbt für sich allein" dort jetzt so beliebt, dass er im Supermarkt verkauft wird?

LONDON, 4. August

Gewöhnlich sind es Prominenten-Memoiren, Schmöker oder Kochbücher, die britische Supermärkte in ihrem zwischen Zeitschriften, Videos und Süßigkeiten eingeklemmten Büchersortiment anbieten. Seit etwa zwei Wochen aber findet sich bei Tesco und Sainsbury, den zwei größten hiesigen Ketten, auch ein in der Klassikerreihe des Penguin-Verlags erschienener deutscher Roman, der über Jahre hinweg von einem britischen Verlag nach dem anderen abgelehnt wurde: Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein".

Der Lektor eines großen Taschenbuchverlages hatte gegen eine Publikation der Übersetzung eingewandt, das Buch spräche nur ein gehobenes Publikum an, dem es nichts ausmache, bei der Lektüre kein Vergnügen zu haben. Ein anderes renommiertes Haus lehnte ab, weil der Autor nicht mehr lebt und somit nicht in eine Werbeaktion eingespannt werden konnte. Dabei hatte Primo Levi den Roman einmal als das beste Buch angepriesen, das je über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geschrieben worden sei.

Der 1947 in furiosem Tempo geschriebene Roman aber ist in England - und in bisher etwas geringerem Maße auch in den Vereinigten Staaten - zum verlegerischen Phänomen geworden. Die im vergangenen Frühjahr unter dem Titel "Alone in Berlin" (in Amerika "Every Man Dies Alone") erschienene Übersetzung des Lyrikers Michael Hofmann wurde von der Kritik als große Entdeckung gefeiert und hat sich in der gebundenen Ausgabe gut verkauft. Das vor sechs Monaten erschienene Taschenbuch findet nun jedoch geradezu reißenden Absatz: Allein die Londoner Buchhandlung Daunt hat in ihren fünf Filialen bislang schon mehr als dreitausend Exemplare verkauft. "Alone in Berlin" musste mehr als fünfzehnmal nachgedruckt werden und hat mittlerweile eine Auflage von 220 000 Exemplaren erreicht.

Nachdem die Supermärkte den Titel führten, wurden die Verkaufszahlen immer höher. Adam Freudenheim, der bei Penguin die Klassikerreihe herausgibt, spricht von einem Schneeballeffekt. Der Erfolg von Falladas Buch ist umso bemerkenswerter, wenn man die Hürden bedenkt, die überwunden werden mussten, bis es zu dieser Übersetzung kam. In den dreißiger Jahren waren Falladas Romane regelmäßig ins Englische übertragen und auch wohlwollend rezensiert worden. Graham Greene und J. B. Priestley gehörten zu den Kritikern, die "Kleiner Mann - was nun?" lobten.

Nach dem Krieg aber erschienen nur noch zwei Titel von Fallada auf Englisch: "Der Trinker", das bestürzende, stark autobiographisch gefärbte Psychogramm eines Alkoholsüchtigen, und ein Kinderbuch. Der Schriftsteller geriet dreißig Jahre lang in Vergessenheit, bis Nicholas Jacobs, der Gründer des verdienstvollen kleinen Libris Verlags, der sich vernachlässigter deutscher Literatur widmet, 1989 die alte Übersetzung von "Der Trinker" neu herausbrachte. Jacobs erklärt das geschwundene Interesse an Fallada mit dessen Entschluss, nicht zu emigrieren - in der britischen Wahrnehmung wurde alles, was in die Hitler-Jahre fiel, über einen Kamm geschoren. Die "Times" schrieb denn auch in ihrem Nachruf auf den 1947 gestorbenen Fallada, es bestehe kein Zweifel, dass sein späteres Schaffen beeinträchtigt sei durch die Notwendigkeit, Bücher zu schreiben, die unter keinem Umstand auch nur andeutungsweise als Kritik am Regime interpretiert werden konnten. Man ahnte damals nichts von der bewegenden Geschichte des Widerstands der kleinen Leute gegen den Nationalsozialismus, die Fallada anhand von Gestapo-Akten in "Jeder stirbt für sich allein" festgehalten hat.

Jacobs, der 1996 eine neue Übersetzung des in der ersten englischen Fassung gestrafften und bereinigten Textes publizierte und 1998 auch die später beim Aufbau-Verlag erschienene Fallada-Biographie "Mehr Leben als eins" der in Dublin lehrenden Germanistin Jenny Williams auf Englisch herausbrachte, bemühte sich vergeblich um eine Taschenbuchpublikation für die Romane; angesichts des schleppenden Verkaufs der gebundenen Ausgaben schienen weitere Veröffentlichungen nur bei Einbindung eines Taschenbuchverlags kommerziell tragbar. Jacobs erhielt zehn Absagen. Dann drehte sich plötzlich der Wind: Innerhalb kürzester Zeit bewarben sich sowohl der amerikanische Verlag Melville Press und Penguin bei Aufbau um die Rechte.

Die beiden Häuser hatten auf völlig unterschiedliche Wege zu dem Roman gefunden. Bei Melville war Dennis Johnson durch die Modeschöpferin Diane von Fürstenberg auf "Jeder stirbt für sich allein" aufmerksam gemacht worden, Adam Freudenreich wiederum hatte aus einem Gespräch mit dem französischen Verleger des Buchs Mut geschöpft. Melville Press kam ihm zwar knapp zuvor, aber Freudenreich vermittelte den amerikanischen Kollegen den Übersetzer Michael Hofmann.

Inzwischen hat Melville Press auch "Wolf unter Wölfen" neu aufgelegt, in einer um die ursprünglich gekürzten Passagen ergänzten Fassung. Bei Penguin erscheint demnächst ein wieder von Hofmann übersetzter Band mit den zwei autobiographischen Erzählungen "Sachlicher Bericht über das Glück" und "Drei Jahre kein Mensch". Der Roman "Bauern, Bonzen und Bomben" kommt ebenfalls ins Programm, und für 2011/12 sind ungekürzte Überarbeitungen der alten Übersetzungen von "Der eiserne Gustav" und "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" vorgesehen. Penguin hat von Libris auch die Fallada-Biographie übernommen. Darüber hinaus arbeiten Vincent Perez und Stefan Andte an einer Verfilmung von "Jeder stirbt für sich allein", und im November wird die BBC ein Hörspiel nach dem Buch ausstrahlen.

Nicholas Jacobs kam mit seinem Einsatz für Fallada zu früh. Erst in den letzten Jahren haben die Briten begonnen, deutschsprachige Autoren wie Stefan Zweig wiederzuentdecken und auch die Gegenwartsliteratur aus Deutschland wahrzunehmen. "Jeder stirbt für sich allein" unterscheide sich aber von anderen Romanen über diese Zeit, weil es nicht vom Holocaust handle, sondern den kleinbürgerlichen Alltag der Deutschen im Krieg schildere, erklärt Adam Freundreich die große Resonanz im englischen Sprachraum. Beim Lesen von Falladas eindringlicher Darstellung dränge sich die Frage auf: "Was hätte ich getan?" Der Erfolg von "Jeder stirbt für sich allein" zeigt, dass das britische Schwarzweißbild der Hitlerjahre endlich einer nuancierteren Wahrnehmung weicht.

GINA THOMAS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr