Ein einzigartiges Panorama des Berliner Lebens in der Nazizeit: Hans Falladas eindrückliche und berührende Darstellung des Widerstands der kleinen Leute avanciert rund sechzig Jahre nach der Entstehung zum internationalen Publikumserfolg. Jetzt erscheint erstmals die ungekürzte Fassung nach dem bislang unveröffentlichten Originalmanuskript. Ein Berliner Ehepaar wagte einen aussichtslosen Widerstand gegen die Nazis und wurde 1943 hingerichtet. Von ihrem Schicksal erfuhr Hans Fallada aus einer Gestapo-Akte, die ihm durch den Dichter und späteren Kulturminister Johannes R. Becher in die Hände kam. Fieberhaft schrieb Fallada daraufhin im Herbst 1946 in weniger als vier Wochen seinen letzten Roman nieder und schuf ein Panorama des Lebens der normalen Leute im Berlin der Nazizeit: Nachdem ihr Sohn in Hitlers Krieg gefallen ist, wollen Anna und Otto Quangel Zeichen des Widerstands setzen. Sie schreiben Botschaften auf Karten und verteilen sie in der Stadt. Die stillen, nüchternen Eheleute träumen von einem weitreichenden Erfolg und ahnen nicht, dass Kommissar Escherich ihnen längst auf der Spur ist. Diese Neuausgabe präsentiert Falladas letzten Roman erstmals in der ungekürzten Originalfassung und zeigt ihn rauer, intensiver, authentischer. Ergänzt wird der Text durch ein Nachwort, Glossar und Dokumente zum zeithistorischen Kontext.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2011Der Weltempfänger jener Jahre
Befreit vom Grundrauschen der Moral und der Ideologie: Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein"
Fallada, das ist die Heiterkeit seines Romans, hat den Glauben, dass selbst der Deutsche ein freier Mensch sei. Frei genug, den Führer als Mörder zu beschimpfen. Frei genug, dafür mit dem Leben zu bezahlen.
Unter all den Fragen, die irgendwann im Raum stehen, wenn man darin alleine ist mit einem Werk der Kunst, ist diese hier die erste und die simpelste; und sie klingt so unendlich naiv, dass die Kenner und die Kritiker sich selten trauen, diese Frage einfach mal zu stellen:
Was wollte uns der Autor eigentlich sagen mit seinem Werk? Was wollte Hans Fallada seinen Lesern sagen mit dem Roman "Jeder stirbt für sich allein", siebenhundert Seiten dick, 1947 geschrieben und in diesem Frühjahr in einer ungekürzten Fassung wiederaufgelegt?
Es spricht nicht gegen Hans Fallada und schon gar nicht gegen sein Buch, dass die Antwort nicht versteckt und kaum verschlüsselt ist; dass sie in jedem Kapitel gut lesbar hingeschrieben und vom Personal dieses Buchs sehr anschaulich durch dessen Taten und Unterlassungen belegt wird. Die Antwort läuft darauf hinaus, dass es, damit die Herrschaft der Nazis zwölf Jahre dauern konnte, nicht bloß eine verschworene Clique von Verbrechern an der Spitze des Staates und seiner Institutionen brauchte. Sondern dass diese Herrschaft sich nicht hätte halten können, wenn nicht viel zu viele Deutsche so korrupt und verroht gewesen wären, amoralisch und brutal genug, aus den Verbrechen des Regimes noch ihren Profit zu schlagen. Und sie hätte sich erst recht nicht halten können, wenn nicht noch viel mehr Deutsche, recht eigentlich die große Mehrheit, zu ängstlich und zu feige gewesen wären, sich zu wehren gegen diese Amoral. Vor allem aber läuft die Antwort darauf hinaus, dass es einige gab, die eben doch widerstanden, einfache Leute, Arbeiter wie Anna und Otto Quangel, die, nicht belesen und kaum gebildet, doch kein Freisemester brauchten, um zu erkennen, wie falsch das alles war, was in Deutschland geschah. Und die, als sie dann gefasst und gefangen waren, den Hass der Mehrheit dafür bekamen, dass sie die Entschuldigung der Feigen und der Ängstlichen, "man" habe doch nichts tun können, als sich zu ducken und zu gehorchen, durch ihre Taten dementierten.
Wer jetzt erwidern möchte, dass all diese Aussagen bekannt und außerdem trivial seien; dass man also keine siebenhundert Seiten lesen müsse, um sich noch einmal vor Augen zu führen, wie das sogenannte Dritte Reich funktionierte und warum: Der soll doch bitte noch einmal kurz das Meinungsbild der vergangenen vier, fünf Jahre genau betrachten, all die Bücher und Artikel, die Podiumsdiskussionen und feierlichen Reden, welche, alles in allem, eher die These stützten, dass die Nazis, weil sie Pöbel waren, nur die Arbeiter und die Kleinbürger hätten beeindrucken können. Den feineren Leuten seien die Nazis zu vulgär gewesen, und der Adel war ja angeblich nicht in der SS. Sondern im Widerstand.
Was Hans Fallada uns sagen will mit diesem Buch, das kann man also auch heute gar nicht oft und laut genug sagen - aber noch viel interessanter ist die Frage, was alles Fallada uns nicht sagen wollte mit diesem Buch. Was steht also da drin, was nicht vom Autor intendiert ist, was spricht der Text, wenn Fallada schweigt?
Man muss wohl, um allen Antwortversuchen eine halbwegs solide Grundlage zu geben, noch einmal kurz skizzieren, wann dieses Buch entstand, wer der Mann war, der es geschrieben hat, und wie es dem Autor und dem Text dann erging. Fallada war damals ein Versehrter, ein Mann, der mit zu vielen Drogen zu viele Probleme hatte, sich einer Entziehungskur anscheinend einigermaßen erfolgreich unterzog. Und dann setzte er sich hin und schrieb, wie es heißt, das Manuskript (das eine wahre Geschichte als Grundlage hatte) in einem Monat; drei Monate später starb, gerade 53-jährig, Hans Fallada, und im sozialistischen Aufbau-Verlag setzten sie sich daran, die schönsten Ambivalenzen und die vehementesten Widersprüche aus dem Text zu streichen, damit der Aufbau des Sozialismus nicht durch zu anspruchsvolle Lektüre gefährdet werde.
Wir lesen heute also einen ganz anderen Text - was aber nicht nur an den wiederhergestellten Textpassagen liegt, den Widersprüchen, die jetzt zugelassen sind: Es liegt vor allem an uns, die wir so anders sind und anders leben als die Leute, für die Fallada diesen Text geschrieben hat. Es liegt an der Zeit, an den siebzig Jahren, die vergangen sind seit dem, was die Gegenwart dieses Textes ist. Wer sehr schnell und sehr viel schreibt (und dabei nicht nur die vorgeformten Textbausteine des Trivialen aufeinanderschichtet), der muss (wie Rainald Goetz das einmal nannte) zum Weltempfänger werden; der hat gar nicht die Chance, all das, was ihm so an Erfahrung, Anschauung, Empirie zur Verfügung steht, so lange zu formen, zu kneten und zu bearbeiten, bis sich noch das letzte Detail der schriftstellerischen Absicht unterworfen hat.
Das ist der Grund, warum es, nur zum Beispiel, solch ein Vergnügen macht, Balzacs Romane gegen die Intentionen ihres Autors zu lesen. Und das ist das Wunder von "Jeder stirbt für sich allein": dass sich diese Prosa häufig so liest, als ob Fallada nicht bloß Autor wäre, sondern zugleich das Medium, das Empfangsgerät, durch welches die Stimmen jener Jahre manchmal ganz direkt, ungefiltert und ohne das Grundrauschen einer moralischen oder ideologischen Absicht zu uns zu sprechen scheinen.
Es ist viel Poesie in diesem Buch, das doch so nüchtern geschrieben ist, es ist eine Poesie, die daher kommt, dass aus dem Abstand, den die siebzig Jahre schaffen, die Formen deutlicher sichtbar werden: die Form der Sprache und die Formen der Verhältnisse, welche diese Sprache beschreibt. Das war nicht zu haben für die Leser der Erstausgabe, denen die Handlung und die Personen als längst nicht abgeschlossene Fastgegenwart oder Jüngstvergangenheit erscheinen mussten - und für uns heute fängt das schon mit dem Schauplatz an, der Jablonskistraße am Prenzlauer Berg, wo die Quangels wohnen, den Vierteln zwischen der Prenzlauer Allee und dem Friedrichshain, einer Gegend also, die fast jeder, der Berlin besucht hat, als frischgestrichen und von halbwegs gutverdienenden Grünenwählern bevölkert vor Augen hat. In der Doppelbelichtung, die bei der Lektüre Falladas entsteht, sieht man dann im Souterrain des Hinterhauses, wo eben der Yogakurs für schicke Anfangsvierziger zu Ende ging, plötzlich den kleinen Spitzel mit seiner Frau, der Gelegenheitsprostituierten, und fünf Kindern auf fünfzig Quadratmetern und im physischen und seelischen Elend hausen. Was, selbst wenn man weder das eine noch das andere sympathisch findet, doch dem Schauplatz die Tiefe und der Beschreibung einen Zauber verleiht.
Am Anfang spürt man fast eine Sehnsucht nach der Sprache dieser Leute, einem Deutsch, das noch nicht cool und selten ironisch klingt, nach Sätzen, die wärmer und kraftvoller zu wirken scheinen als die, die wir einander heute sagen - und dann erschrickt man beim Lesen umso mehr, wenn in der nächsten Szene schon anschaulich wird, dass genau dieses Deutsch das Medium des Verrats, der Denunziation und der abscheulichsten Beschimpfungen wird: Dass Wörter wie "verrecken" und "Judensau" kaum noch gebräuchlich sind, muss man nicht bedauern. Und so geht es einem mit so vielem, was Fallada ganz lakonisch beschreibt: Man spürt eine Verführung, die von den Menschen, den Schauplätzen, den scheinbar so stabilen Verhältnissen ausgeht. Und erfährt doch zwei Seiten später wieder, dass, während die Häuser der Stadt noch stehen, von der Moral nur noch Trümmer und Ruinen übrig sind. Und es gehört eher zu den Stärken dieses Textes, als dass man es als Mangel empfände, wenn man, angesichts der sich immer heftiger steigernden Brutalität, die, wenn am Schluss beide Quangels und ein paar Menschen mehr im Gefängnis ihren Folterern gegenüberstehen, fast schon eine Splatter-Prosa erzwingt - wenn man also bei dieser zutiefst beunruhigenden Lektüre niemals eine gesicherte Erkenntnis darüber bekommt, ob diese Totalverrohung tatsächlich eine Wirkung der Naziherrschaft war. Oder eine der Ursachen.
Man kann, weil er so spannend ist, den Roman fast so schnell und atemlos lesen, wie er geschrieben ist. Man kann ihn aber, in einem Moment der Besinnlichkeit, auch beiseitelegen und noch einmal nachschauen, was im "Doktor Faustus" steht, jenem Roman, den Thomas Mann fast zur selben Zeit abgeschlossen hat, weit weg von Berlin, in Kalifornien, und der doch nicht so sehr das Gegenteil von Falladas Roman ist, sondern dessen Komplement, eine Tiefenbohrung in unsere Geistesgeschichte, und ganz unten findet Thomas Mann die Frage, ob, was 1945 zur Hölle fuhr, schon mit Martin Luther oder noch früher begonnen habe.
Fallada, das ist die grundsätzliche Heiterkeit seines Romans, hat den Glauben, dass selbst der Deutsche ein freier Mensch sei. Frei von den Fesseln seiner Herkunft und Geschichte. Frei genug, Postkarten zu schreiben, auf denen der Führer als Mörder beschimpft wird. Frei genug, dafür mit dem Leben zu bezahlen. Uns Lesern bleibt die Freiheit zu entscheiden, ob wir uns erschrecken oder freuen sollen über diesen Text: Erschrecken darüber, wie nah das alles ist. Oder uns freuen daran, wie es sich mit jedem Tag entfernt.
CLAUDIUS SEIDL
Hans Fallada: "Jeder stirbt für sich allein". Aufbau-Verlag, 700 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Befreit vom Grundrauschen der Moral und der Ideologie: Hans Falladas "Jeder stirbt für sich allein"
Fallada, das ist die Heiterkeit seines Romans, hat den Glauben, dass selbst der Deutsche ein freier Mensch sei. Frei genug, den Führer als Mörder zu beschimpfen. Frei genug, dafür mit dem Leben zu bezahlen.
Unter all den Fragen, die irgendwann im Raum stehen, wenn man darin alleine ist mit einem Werk der Kunst, ist diese hier die erste und die simpelste; und sie klingt so unendlich naiv, dass die Kenner und die Kritiker sich selten trauen, diese Frage einfach mal zu stellen:
Was wollte uns der Autor eigentlich sagen mit seinem Werk? Was wollte Hans Fallada seinen Lesern sagen mit dem Roman "Jeder stirbt für sich allein", siebenhundert Seiten dick, 1947 geschrieben und in diesem Frühjahr in einer ungekürzten Fassung wiederaufgelegt?
Es spricht nicht gegen Hans Fallada und schon gar nicht gegen sein Buch, dass die Antwort nicht versteckt und kaum verschlüsselt ist; dass sie in jedem Kapitel gut lesbar hingeschrieben und vom Personal dieses Buchs sehr anschaulich durch dessen Taten und Unterlassungen belegt wird. Die Antwort läuft darauf hinaus, dass es, damit die Herrschaft der Nazis zwölf Jahre dauern konnte, nicht bloß eine verschworene Clique von Verbrechern an der Spitze des Staates und seiner Institutionen brauchte. Sondern dass diese Herrschaft sich nicht hätte halten können, wenn nicht viel zu viele Deutsche so korrupt und verroht gewesen wären, amoralisch und brutal genug, aus den Verbrechen des Regimes noch ihren Profit zu schlagen. Und sie hätte sich erst recht nicht halten können, wenn nicht noch viel mehr Deutsche, recht eigentlich die große Mehrheit, zu ängstlich und zu feige gewesen wären, sich zu wehren gegen diese Amoral. Vor allem aber läuft die Antwort darauf hinaus, dass es einige gab, die eben doch widerstanden, einfache Leute, Arbeiter wie Anna und Otto Quangel, die, nicht belesen und kaum gebildet, doch kein Freisemester brauchten, um zu erkennen, wie falsch das alles war, was in Deutschland geschah. Und die, als sie dann gefasst und gefangen waren, den Hass der Mehrheit dafür bekamen, dass sie die Entschuldigung der Feigen und der Ängstlichen, "man" habe doch nichts tun können, als sich zu ducken und zu gehorchen, durch ihre Taten dementierten.
Wer jetzt erwidern möchte, dass all diese Aussagen bekannt und außerdem trivial seien; dass man also keine siebenhundert Seiten lesen müsse, um sich noch einmal vor Augen zu führen, wie das sogenannte Dritte Reich funktionierte und warum: Der soll doch bitte noch einmal kurz das Meinungsbild der vergangenen vier, fünf Jahre genau betrachten, all die Bücher und Artikel, die Podiumsdiskussionen und feierlichen Reden, welche, alles in allem, eher die These stützten, dass die Nazis, weil sie Pöbel waren, nur die Arbeiter und die Kleinbürger hätten beeindrucken können. Den feineren Leuten seien die Nazis zu vulgär gewesen, und der Adel war ja angeblich nicht in der SS. Sondern im Widerstand.
Was Hans Fallada uns sagen will mit diesem Buch, das kann man also auch heute gar nicht oft und laut genug sagen - aber noch viel interessanter ist die Frage, was alles Fallada uns nicht sagen wollte mit diesem Buch. Was steht also da drin, was nicht vom Autor intendiert ist, was spricht der Text, wenn Fallada schweigt?
Man muss wohl, um allen Antwortversuchen eine halbwegs solide Grundlage zu geben, noch einmal kurz skizzieren, wann dieses Buch entstand, wer der Mann war, der es geschrieben hat, und wie es dem Autor und dem Text dann erging. Fallada war damals ein Versehrter, ein Mann, der mit zu vielen Drogen zu viele Probleme hatte, sich einer Entziehungskur anscheinend einigermaßen erfolgreich unterzog. Und dann setzte er sich hin und schrieb, wie es heißt, das Manuskript (das eine wahre Geschichte als Grundlage hatte) in einem Monat; drei Monate später starb, gerade 53-jährig, Hans Fallada, und im sozialistischen Aufbau-Verlag setzten sie sich daran, die schönsten Ambivalenzen und die vehementesten Widersprüche aus dem Text zu streichen, damit der Aufbau des Sozialismus nicht durch zu anspruchsvolle Lektüre gefährdet werde.
Wir lesen heute also einen ganz anderen Text - was aber nicht nur an den wiederhergestellten Textpassagen liegt, den Widersprüchen, die jetzt zugelassen sind: Es liegt vor allem an uns, die wir so anders sind und anders leben als die Leute, für die Fallada diesen Text geschrieben hat. Es liegt an der Zeit, an den siebzig Jahren, die vergangen sind seit dem, was die Gegenwart dieses Textes ist. Wer sehr schnell und sehr viel schreibt (und dabei nicht nur die vorgeformten Textbausteine des Trivialen aufeinanderschichtet), der muss (wie Rainald Goetz das einmal nannte) zum Weltempfänger werden; der hat gar nicht die Chance, all das, was ihm so an Erfahrung, Anschauung, Empirie zur Verfügung steht, so lange zu formen, zu kneten und zu bearbeiten, bis sich noch das letzte Detail der schriftstellerischen Absicht unterworfen hat.
Das ist der Grund, warum es, nur zum Beispiel, solch ein Vergnügen macht, Balzacs Romane gegen die Intentionen ihres Autors zu lesen. Und das ist das Wunder von "Jeder stirbt für sich allein": dass sich diese Prosa häufig so liest, als ob Fallada nicht bloß Autor wäre, sondern zugleich das Medium, das Empfangsgerät, durch welches die Stimmen jener Jahre manchmal ganz direkt, ungefiltert und ohne das Grundrauschen einer moralischen oder ideologischen Absicht zu uns zu sprechen scheinen.
Es ist viel Poesie in diesem Buch, das doch so nüchtern geschrieben ist, es ist eine Poesie, die daher kommt, dass aus dem Abstand, den die siebzig Jahre schaffen, die Formen deutlicher sichtbar werden: die Form der Sprache und die Formen der Verhältnisse, welche diese Sprache beschreibt. Das war nicht zu haben für die Leser der Erstausgabe, denen die Handlung und die Personen als längst nicht abgeschlossene Fastgegenwart oder Jüngstvergangenheit erscheinen mussten - und für uns heute fängt das schon mit dem Schauplatz an, der Jablonskistraße am Prenzlauer Berg, wo die Quangels wohnen, den Vierteln zwischen der Prenzlauer Allee und dem Friedrichshain, einer Gegend also, die fast jeder, der Berlin besucht hat, als frischgestrichen und von halbwegs gutverdienenden Grünenwählern bevölkert vor Augen hat. In der Doppelbelichtung, die bei der Lektüre Falladas entsteht, sieht man dann im Souterrain des Hinterhauses, wo eben der Yogakurs für schicke Anfangsvierziger zu Ende ging, plötzlich den kleinen Spitzel mit seiner Frau, der Gelegenheitsprostituierten, und fünf Kindern auf fünfzig Quadratmetern und im physischen und seelischen Elend hausen. Was, selbst wenn man weder das eine noch das andere sympathisch findet, doch dem Schauplatz die Tiefe und der Beschreibung einen Zauber verleiht.
Am Anfang spürt man fast eine Sehnsucht nach der Sprache dieser Leute, einem Deutsch, das noch nicht cool und selten ironisch klingt, nach Sätzen, die wärmer und kraftvoller zu wirken scheinen als die, die wir einander heute sagen - und dann erschrickt man beim Lesen umso mehr, wenn in der nächsten Szene schon anschaulich wird, dass genau dieses Deutsch das Medium des Verrats, der Denunziation und der abscheulichsten Beschimpfungen wird: Dass Wörter wie "verrecken" und "Judensau" kaum noch gebräuchlich sind, muss man nicht bedauern. Und so geht es einem mit so vielem, was Fallada ganz lakonisch beschreibt: Man spürt eine Verführung, die von den Menschen, den Schauplätzen, den scheinbar so stabilen Verhältnissen ausgeht. Und erfährt doch zwei Seiten später wieder, dass, während die Häuser der Stadt noch stehen, von der Moral nur noch Trümmer und Ruinen übrig sind. Und es gehört eher zu den Stärken dieses Textes, als dass man es als Mangel empfände, wenn man, angesichts der sich immer heftiger steigernden Brutalität, die, wenn am Schluss beide Quangels und ein paar Menschen mehr im Gefängnis ihren Folterern gegenüberstehen, fast schon eine Splatter-Prosa erzwingt - wenn man also bei dieser zutiefst beunruhigenden Lektüre niemals eine gesicherte Erkenntnis darüber bekommt, ob diese Totalverrohung tatsächlich eine Wirkung der Naziherrschaft war. Oder eine der Ursachen.
Man kann, weil er so spannend ist, den Roman fast so schnell und atemlos lesen, wie er geschrieben ist. Man kann ihn aber, in einem Moment der Besinnlichkeit, auch beiseitelegen und noch einmal nachschauen, was im "Doktor Faustus" steht, jenem Roman, den Thomas Mann fast zur selben Zeit abgeschlossen hat, weit weg von Berlin, in Kalifornien, und der doch nicht so sehr das Gegenteil von Falladas Roman ist, sondern dessen Komplement, eine Tiefenbohrung in unsere Geistesgeschichte, und ganz unten findet Thomas Mann die Frage, ob, was 1945 zur Hölle fuhr, schon mit Martin Luther oder noch früher begonnen habe.
Fallada, das ist die grundsätzliche Heiterkeit seines Romans, hat den Glauben, dass selbst der Deutsche ein freier Mensch sei. Frei von den Fesseln seiner Herkunft und Geschichte. Frei genug, Postkarten zu schreiben, auf denen der Führer als Mörder beschimpft wird. Frei genug, dafür mit dem Leben zu bezahlen. Uns Lesern bleibt die Freiheit zu entscheiden, ob wir uns erschrecken oder freuen sollen über diesen Text: Erschrecken darüber, wie nah das alles ist. Oder uns freuen daran, wie es sich mit jedem Tag entfernt.
CLAUDIUS SEIDL
Hans Fallada: "Jeder stirbt für sich allein". Aufbau-Verlag, 700 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2011„Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden!“
Hans Falladas Erfolgsroman „Jeder stirbt für sich allein“ aus dem Jahr 1947 liegt jetzt erstmals in der ungekürzten Fassung vor
Über die Schicksale des letzten Romans von Hans Fallada ließe sich gut ein ganzes Buch schreiben, voller berührender, aufwühlender Geschichten, voller Sterben. „Jeder stirbt für sich allein“, aktuell ein Bestseller in England und Israel, erschien zuerst 1947, kurz nach Falladas Tod, in Ost-Berlin. Erzählt wird die Geschichte der Eheleute Quangel, die sich zum Widerstand gegen Hitler aufraffen, nachdem ihr Sohn im Frankreich-Feldzug gefallen ist.
Sie schreiben Postkarten und legen sie in Berliner Häusern aus, dort, wo viele Leute verkehren. „Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden!“, steht auf der ersten Karte. Lange geht das gut, Wochen, Monate, ein Jahr . . . dann häufen sich Missgeschicke, Unvorsichtigkeiten, Zufälle. Die Gestapo verhaftet Otto und Anna Quangel, der Volksgerichtshof verurteilt sie zum Tode.
Das Buch über den Roman „Jeder stirbt für sich allein“ könnte im Berliner Wedding beginnen, in der Amsterdamer Straße 10. Dort hängt heute eine Gedenktafel: „Hier stand das Haus, in dem Otto Hampel (21.6.1897 - 8.4. 1943) und Elise Hampel (27.10.1903 - 8.4.1943) von 1943 bis zu ihrer Verhaftung lebten. Das Arbeiterehehepaar wurde am 8. April 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.“ Leben und Taten der Hampels waren, soweit er sie aus der Gestapo-Akte kannte, das Vorbild für die Quangels im Roman Falladas. Die Akte hatte ihm Johannes R. Becher gegeben – man könnte das Buch über den Roman auch gut mit der Begegnung beider Autoren in der Sowjetischen Besatzungszone anfangen lassen.
Becher und Fallada schätzten einander, verstanden sich schnell, hinter ihnen lagen ähnliche Erfahrungen. Sie hatten beide unter ihren autoritären Vätern – Juristen des wilhelminischen Kaiserreichs – gelitten. Beide hatten sie im Kleist-Jahr 1911 den Ausweg in der Kleist-Imitation und einem Doppelselbstmord gesucht. Becher war dabei die Geliebte gestorben, Fallada, der bürgerlich Rudolf Ditzen hieß, verlor den Freund. Becher wie Fallada überlebten schwer verletzt, kamen straffrei davon, wurden suchtkrank, anhängig: der eine mehr vom Alkohol, der andere vom Morphium.
Dann aber gingen sie sehr verschiedene Wege, das expressionistisch überbordende lyrische Talent Becher wurde Kommunist und emigrierte in die Sowjetunion. Als er nach Deutschland zurückkam, wollte Becher alle geistigen, kulturellen Kräfte für ein anderes, besseres Deutschland vereinen, gründete den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und, eng mit diesem verbunden, den Aufbau-Verlag.
Becher gab Hans Fallada, der als Autor neusachlicher Romane bekannt geworden war, die Gestapo-Akte, damit er über die Widerständler schriebe. Aber Fallada wollte nicht recht. Er war im Dritten Reich geblieben, hatte mitgemacht, sich angepasst, nun er wollte sich nicht auf die bessere Seite schreiben. Dann aber ließ er sich doch überreden, unterzeichnete einen Vertrag mit dem Aufbau-Verlag über einen Roman, Arbeitstitel: „Im Namen des deutschen Volkes! Streng geheim!“
Zunächst verfasst Fallada nur einen Aufsatz über die Hampels, der in der Kulturbund-Zeitschrift Aufbau erscheint. Anfang 1946 beginnt Fallada eine Entziehungskur, dann bricht er zusammen. Erst Ende September beginnt er die Niederschrift des Romans. Nach atemberaubend kurzer Zeit ist er fertig und ziemlich zufrieden mit dem Ergebnis. Schon am 30. Oktober 1946 schreibt er: „Zu meiner Freude kann ich Ihnen heute mitteilen, dass ich soeben meinen zweiten Roman nach dem Umsturz beendet habe . . . Es ist ein ziemlich umfangreiches Buch von 550 Druckseiten geworden. Das Schicksal eines Berliner Arbeiterehepaares wird darin behandelt, das in den Jahren 1940 bis 1942 antifaschistisch tätig war und das im Jahre 1943 hingerichtet wurde. Der Roman folgt in seinem äußeren Ablauf ziemlich genau aufgefundenen Akten der Gestapo. Ich glaube, ein gutes Stück Arbeit geleistet zu haben, endlich habe ich wieder nach so langer Pause meine alte Kraft gefunden.“
Die Gutachter sind anderer Meinung. Sie finden sachliche Fehler, kritisieren Unwahrscheinlichkeiten, fühlen sich unwohl mit den sämtlich sehr extremen Charakteren, vermissen die Mittelschicht, anständige Menschen. Einer meint gar, es handle sich um einen „Zuhälterroman mit politischem Aufputz“. Der Verlag aber steht zu seinem Autor. Der allerdings kann den Text nicht mehr selbst bearbeiten, am 5. Februar 1947 stirbt er in Berlin.
Und so müsste ein Buch über Falladas letzten Roman gerechterweise auf dem Schreibtisch Paul Wieglers (1878-1949) beginnen. Der hatte einst im Ullstein-Verlag die Romanabteilung geleitet und später die bis heute einzigartige Zeitschrift Sinn und Form mitbegründet. Er lektorierte Falladas Typoskript; in der Form, die Wiegler ihm gab, begeisterte der Roman Leser in aller Welt, inspirierte Verfilmungen in beiden Teilen Deutschlands. „Das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geschrieben wurde“, meinte Primo Levi. Über sechzig Jahre nach dem Tod des Verfassers wurde die englische Übersetzung unter dem an Christopher Isherwood und „Cabaret“ erinnernden Titel „Alone in Berlin“ ein Bestseller.
Diesem Erfolg verdanken wir wohl auch die ungekürzte Neuausgabe nach dem für den Satz eingerichteten, überwiegend von Paul Wiegler korrigierten Typoskript. Sie lädt dazu ein, einen authentischeren, raueren Text kennenzulernen. Das 17. Kapitel – „Auch Anna Quangel macht sich frei“ – kann man nun zum ersten Mal überhaupt so lesen, wie Fallada es wünschte. Es zeigt, wie Anna Quangel ihren kleinen Posten in der NS-Frauenschaft durch Schläue und Frechheit wieder los wurde. Die Mitläuferschaft der Quangels hatte Wiegler getilgt, auch die Parteimitgliedschaft der Postbotin, ebenso den kommunistischen Hintergrund einer unbeholfenen, wenig sympathischen Widerstandsgruppe. Wiegler hat die Hinweise der Gutachter zur Kenntnis genommen, aber alles in allem doch im Dienst des Textes gearbeitet. Ein Fall politischer Zensur ist das nicht. Die Überarbeitung erfolgte, so heißt es im instruktiven Nachwort von Almut Giesecke, „im Sinne kulturpolitischer Korrektheit“.
Das ist auch ein Zeichen für einen Wandel in der Erinnerung an das Dritte Reich: man wollte nicht länger mitgemacht haben, man wollte als „verführt“ gelten. Fallada schildert den Alltag nazi-durchtränkt, von Angst und Gewalt durchherrscht, die Gesellschaft zersetzt, jedes Vertrauen zerstört. Die Streichungen belegen, wie man begann, die NS-Herrschaft allmählich zu entsorgen, indem man sie zu etwas Fremdem, Dämonischen, Unverständlichen erklärte.
1947 fielen auch vulgäre Ausdrücke und drastische Beschreibungen unter den Tisch, sie sind nun wieder hergestellt. Das Buch besticht durchs Atmosphärische, durch Milieuschilderung. Auch den Bösewichtern, Denunzianten, Gestapo-Kommissaren, wird ein Innenleben, wird seelische Entwicklung zugestanden.
Das wirkliche Ende der Hampels war freilich um einiges furchtbarer als das der Quangels. Fallada lässt die Liebe der Eheleute über die Bosheit triumphieren. In der Wirklichkeit des Jahres 1943 war es anders: um ihre Leben zu retten, haben Otto und Elise Hampel einander bezichtigt und verraten. Er habe, schrieb etwa Otto, sich von den Meinungen seiner Frau beeinflussen lassen; Elise wiederum versuchte, ihm alle Schuld in die Schuhe zu schieben. Es wäre selbstgerecht, darüber zu urteilen, aber in dem Wissen darum liest man den letzten Teil des Romans anders.
Der Germanist Manfred Kuhnke hat gute Gründe für die Annahme zusammengetragen, dass Hans Fallada nur einen Auszug aus der Gestapo-Akte in die Hände bekommen hatte und von den traurigen Gnadengesuchen der beiden nichts wusste.
JENS BISKY
HANS FALLADA: Jeder stirbt für sich allein. Roman. Ungekürzte Neuausgabe. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Almut Giesecke. Mit 12 Abbildungen. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 704 Seiten, 19,95 Euro.
„,Letzten Endes: der ganze Staat,
das ist die Gestapo. Ohne
uns bräche alles zusammen . . . “
Ein Gutachter meinte, es handle
sich um einen „Zuhälterroman
mit politischem Aufputz“
Der Schriftsteller Hans Fallada (1893-1947) mit seiner Frau Anna Issel, von der er 1944 geschieden wurde. Rechts ist die erste Seite des ersten Kapitels aus dem Typoskript zu „Jeder stirbt für sich allein“ mit den Korrekturen zu sehen.
Foto: Scherl (oben)/ Abb. aus dem bespr. Band)
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Hans Falladas Erfolgsroman „Jeder stirbt für sich allein“ aus dem Jahr 1947 liegt jetzt erstmals in der ungekürzten Fassung vor
Über die Schicksale des letzten Romans von Hans Fallada ließe sich gut ein ganzes Buch schreiben, voller berührender, aufwühlender Geschichten, voller Sterben. „Jeder stirbt für sich allein“, aktuell ein Bestseller in England und Israel, erschien zuerst 1947, kurz nach Falladas Tod, in Ost-Berlin. Erzählt wird die Geschichte der Eheleute Quangel, die sich zum Widerstand gegen Hitler aufraffen, nachdem ihr Sohn im Frankreich-Feldzug gefallen ist.
Sie schreiben Postkarten und legen sie in Berliner Häusern aus, dort, wo viele Leute verkehren. „Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden!“, steht auf der ersten Karte. Lange geht das gut, Wochen, Monate, ein Jahr . . . dann häufen sich Missgeschicke, Unvorsichtigkeiten, Zufälle. Die Gestapo verhaftet Otto und Anna Quangel, der Volksgerichtshof verurteilt sie zum Tode.
Das Buch über den Roman „Jeder stirbt für sich allein“ könnte im Berliner Wedding beginnen, in der Amsterdamer Straße 10. Dort hängt heute eine Gedenktafel: „Hier stand das Haus, in dem Otto Hampel (21.6.1897 - 8.4. 1943) und Elise Hampel (27.10.1903 - 8.4.1943) von 1943 bis zu ihrer Verhaftung lebten. Das Arbeiterehehepaar wurde am 8. April 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.“ Leben und Taten der Hampels waren, soweit er sie aus der Gestapo-Akte kannte, das Vorbild für die Quangels im Roman Falladas. Die Akte hatte ihm Johannes R. Becher gegeben – man könnte das Buch über den Roman auch gut mit der Begegnung beider Autoren in der Sowjetischen Besatzungszone anfangen lassen.
Becher und Fallada schätzten einander, verstanden sich schnell, hinter ihnen lagen ähnliche Erfahrungen. Sie hatten beide unter ihren autoritären Vätern – Juristen des wilhelminischen Kaiserreichs – gelitten. Beide hatten sie im Kleist-Jahr 1911 den Ausweg in der Kleist-Imitation und einem Doppelselbstmord gesucht. Becher war dabei die Geliebte gestorben, Fallada, der bürgerlich Rudolf Ditzen hieß, verlor den Freund. Becher wie Fallada überlebten schwer verletzt, kamen straffrei davon, wurden suchtkrank, anhängig: der eine mehr vom Alkohol, der andere vom Morphium.
Dann aber gingen sie sehr verschiedene Wege, das expressionistisch überbordende lyrische Talent Becher wurde Kommunist und emigrierte in die Sowjetunion. Als er nach Deutschland zurückkam, wollte Becher alle geistigen, kulturellen Kräfte für ein anderes, besseres Deutschland vereinen, gründete den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und, eng mit diesem verbunden, den Aufbau-Verlag.
Becher gab Hans Fallada, der als Autor neusachlicher Romane bekannt geworden war, die Gestapo-Akte, damit er über die Widerständler schriebe. Aber Fallada wollte nicht recht. Er war im Dritten Reich geblieben, hatte mitgemacht, sich angepasst, nun er wollte sich nicht auf die bessere Seite schreiben. Dann aber ließ er sich doch überreden, unterzeichnete einen Vertrag mit dem Aufbau-Verlag über einen Roman, Arbeitstitel: „Im Namen des deutschen Volkes! Streng geheim!“
Zunächst verfasst Fallada nur einen Aufsatz über die Hampels, der in der Kulturbund-Zeitschrift Aufbau erscheint. Anfang 1946 beginnt Fallada eine Entziehungskur, dann bricht er zusammen. Erst Ende September beginnt er die Niederschrift des Romans. Nach atemberaubend kurzer Zeit ist er fertig und ziemlich zufrieden mit dem Ergebnis. Schon am 30. Oktober 1946 schreibt er: „Zu meiner Freude kann ich Ihnen heute mitteilen, dass ich soeben meinen zweiten Roman nach dem Umsturz beendet habe . . . Es ist ein ziemlich umfangreiches Buch von 550 Druckseiten geworden. Das Schicksal eines Berliner Arbeiterehepaares wird darin behandelt, das in den Jahren 1940 bis 1942 antifaschistisch tätig war und das im Jahre 1943 hingerichtet wurde. Der Roman folgt in seinem äußeren Ablauf ziemlich genau aufgefundenen Akten der Gestapo. Ich glaube, ein gutes Stück Arbeit geleistet zu haben, endlich habe ich wieder nach so langer Pause meine alte Kraft gefunden.“
Die Gutachter sind anderer Meinung. Sie finden sachliche Fehler, kritisieren Unwahrscheinlichkeiten, fühlen sich unwohl mit den sämtlich sehr extremen Charakteren, vermissen die Mittelschicht, anständige Menschen. Einer meint gar, es handle sich um einen „Zuhälterroman mit politischem Aufputz“. Der Verlag aber steht zu seinem Autor. Der allerdings kann den Text nicht mehr selbst bearbeiten, am 5. Februar 1947 stirbt er in Berlin.
Und so müsste ein Buch über Falladas letzten Roman gerechterweise auf dem Schreibtisch Paul Wieglers (1878-1949) beginnen. Der hatte einst im Ullstein-Verlag die Romanabteilung geleitet und später die bis heute einzigartige Zeitschrift Sinn und Form mitbegründet. Er lektorierte Falladas Typoskript; in der Form, die Wiegler ihm gab, begeisterte der Roman Leser in aller Welt, inspirierte Verfilmungen in beiden Teilen Deutschlands. „Das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geschrieben wurde“, meinte Primo Levi. Über sechzig Jahre nach dem Tod des Verfassers wurde die englische Übersetzung unter dem an Christopher Isherwood und „Cabaret“ erinnernden Titel „Alone in Berlin“ ein Bestseller.
Diesem Erfolg verdanken wir wohl auch die ungekürzte Neuausgabe nach dem für den Satz eingerichteten, überwiegend von Paul Wiegler korrigierten Typoskript. Sie lädt dazu ein, einen authentischeren, raueren Text kennenzulernen. Das 17. Kapitel – „Auch Anna Quangel macht sich frei“ – kann man nun zum ersten Mal überhaupt so lesen, wie Fallada es wünschte. Es zeigt, wie Anna Quangel ihren kleinen Posten in der NS-Frauenschaft durch Schläue und Frechheit wieder los wurde. Die Mitläuferschaft der Quangels hatte Wiegler getilgt, auch die Parteimitgliedschaft der Postbotin, ebenso den kommunistischen Hintergrund einer unbeholfenen, wenig sympathischen Widerstandsgruppe. Wiegler hat die Hinweise der Gutachter zur Kenntnis genommen, aber alles in allem doch im Dienst des Textes gearbeitet. Ein Fall politischer Zensur ist das nicht. Die Überarbeitung erfolgte, so heißt es im instruktiven Nachwort von Almut Giesecke, „im Sinne kulturpolitischer Korrektheit“.
Das ist auch ein Zeichen für einen Wandel in der Erinnerung an das Dritte Reich: man wollte nicht länger mitgemacht haben, man wollte als „verführt“ gelten. Fallada schildert den Alltag nazi-durchtränkt, von Angst und Gewalt durchherrscht, die Gesellschaft zersetzt, jedes Vertrauen zerstört. Die Streichungen belegen, wie man begann, die NS-Herrschaft allmählich zu entsorgen, indem man sie zu etwas Fremdem, Dämonischen, Unverständlichen erklärte.
1947 fielen auch vulgäre Ausdrücke und drastische Beschreibungen unter den Tisch, sie sind nun wieder hergestellt. Das Buch besticht durchs Atmosphärische, durch Milieuschilderung. Auch den Bösewichtern, Denunzianten, Gestapo-Kommissaren, wird ein Innenleben, wird seelische Entwicklung zugestanden.
Das wirkliche Ende der Hampels war freilich um einiges furchtbarer als das der Quangels. Fallada lässt die Liebe der Eheleute über die Bosheit triumphieren. In der Wirklichkeit des Jahres 1943 war es anders: um ihre Leben zu retten, haben Otto und Elise Hampel einander bezichtigt und verraten. Er habe, schrieb etwa Otto, sich von den Meinungen seiner Frau beeinflussen lassen; Elise wiederum versuchte, ihm alle Schuld in die Schuhe zu schieben. Es wäre selbstgerecht, darüber zu urteilen, aber in dem Wissen darum liest man den letzten Teil des Romans anders.
Der Germanist Manfred Kuhnke hat gute Gründe für die Annahme zusammengetragen, dass Hans Fallada nur einen Auszug aus der Gestapo-Akte in die Hände bekommen hatte und von den traurigen Gnadengesuchen der beiden nichts wusste.
JENS BISKY
HANS FALLADA: Jeder stirbt für sich allein. Roman. Ungekürzte Neuausgabe. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Almut Giesecke. Mit 12 Abbildungen. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 704 Seiten, 19,95 Euro.
„,Letzten Endes: der ganze Staat,
das ist die Gestapo. Ohne
uns bräche alles zusammen . . . “
Ein Gutachter meinte, es handle
sich um einen „Zuhälterroman
mit politischem Aufputz“
Der Schriftsteller Hans Fallada (1893-1947) mit seiner Frau Anna Issel, von der er 1944 geschieden wurde. Rechts ist die erste Seite des ersten Kapitels aus dem Typoskript zu „Jeder stirbt für sich allein“ mit den Korrekturen zu sehen.
Foto: Scherl (oben)/ Abb. aus dem bespr. Band)
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Monatelang stand Hans Falladas Roman auf den internationalen Bestsellerlisten, bis er auch hierzulande wieder zum großen Verkaufserfolg wurde. Adam Soboczynski reibt sich verwundert die Augen: Dieser "verblüffend schlechte Roman"? Fallada, der sich durch die NS-Zeit als Mitglied der Reichsschrifttumkammer und schwer drogenabhängig schleppte, hat ihn 1945 innerhalb weniger Wochen verfasst, kurz darauf starb er. Er erzählt darin von einem Arbeiterehepaar, das nach dem Tod seines Sohns an der Front beginnt, regimekritische Flugblätter zu verteilen, und von der Gestapo gejagt und gefangen wird. Nach literarischen Gesichtspunkten taugt der Roman in Soboczynskis Augen nicht viel: Die Charaktere sind völlig unplausibel, die unglaubwürdigsten Begebenheiten werden "herbeierzählt", alles wird behauptet, nichts beschrieben. Was das Buch dann aber für den Rezensenten zum "großartigen Roman" macht, ist seine Sicht auf die Deutschen. Nicht ideologisch angetrieben erscheinen sie hier, sondern von blanker Gier. Was Soboczynski beeindruckt, sind die von Fallada geschilderte "alltägliche Bestialität" und das nachbarliche Denunziantentum. Hier sei nicht die Frage, was die Deutschen von Auschwitz wussten, meint Soboczynski, sondern wie sie mit ihrem Nachbarn im dritten Stock umgingen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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