Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund - die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken - Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch staunt und versteht schließlich, weshalb dieser Roman des ehemaligen Nordamerika-Korrespondenten des "Nouvel Observateur" den Prix Goncourt gewonnen hat. "Auf fast aufreizend leisen Sohlen" nämlich schleicht sich Jean-Paul Dubois heran, meint die Kritikerin, die erst nach und nach versteht, weshalb dieser eigensinnige, auf Pointen und Wertungen verzichtende Roman sie derart in den Bann zieht. Die Geschichte um den Franzosen Paul Hansen, der mit dem sensiblen Hells Angel Patrick im Knast in Montreal sitzt, entfaltet ihre ganze "Würze" erst im Leser selbst, versichert Teutsch. Erst spät erfährt sie von Pauls Verbrechen, vielmehr bewundert sie, wie Dubois das Verhältnis der beiden Gefängniskumpane beschreibt. Vor allem aber verliebt sie sich in Dubois' "bescheidenen" Helden: Ein "moderner Hiob", schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2020Hiob kommt auch bis Kanada
Als der geduldige Hausmeister es mit dem Haustyrannen aufnimmt: Der Roman "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" von Jean-Paul Dubois
Selten war der Titel eines Buchs so sehr Programm für das, was sich weltanschaulich in ihm zeigen würde. "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" hat im vergangenen Jahr den renommierten Prix Goncourt erhalten. Mit mehr als zwanzig Büchern, von denen bislang fünf ins Deutsche übertragen wurden, gehört der ehemalige Nordamerika-Korrespondent des "Nouvel Observateur" zum literarischen Paris der Gegenwart. Er selbst lebt in seinem Elternhaus in Toulouse, wo er auch seinen Helden Paul aufwachsen lässt: als Sohn einer Programmkinobesitzerin, die sich später das Leben nehmen wird, und eines von Glaubenskrisen gebeutelten dänischen Pastors, der später nach Kanada auswandern wird. Zuvor hatte seine Frau in ihrem Kino "Deep Throat" gezeigt. Ein irreparabler Schaden für die Ehe der Hansens.
Von diesen beiden Menschen erfahren wir in der ersten Romanhälfte mehr als über den Ich-Erzähler. Es ist, als würden die Ankerpunkte seiner Existenz beschrieben, ohne die kein Verständnis von der Person gelingen kann. In welcher Weise einer die Welt "bewohnt", erscheint hier als logische Konsequenz von Herkunft und Ereignis.
Das Buch selbst beginnt auf der anderen Seite des Globus, in Montreal. Es ist Winter dort. "Seit einer Woche schneit es", lautet der erste Satz. Zwei Jahre ohne Bewährung ist das Strafmaß, das für Paul Hansen festgelegt wurde, weil er keinerlei Reue gezeigt haben soll. Wir befinden uns in einer Gefängniszelle. Die Knastheizkörper kommen kaum über die vierzehn Grad. Das Essen schmeckt abscheulich. Das Klo befindet sich mitten in der Zelle. Die teilt sich Paul mit einem Hells Angel namens Patrick, der sich in einem Bandenkrieg blutige Finger geholt haben soll, sich aber im Verlauf der Lektüre als grüblerisches Sensibelchen entpuppt.
Schon bei der Schilderung dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft wird deutlich, worin das Wunder dieses Buchs besteht: Hat man zunächst das Gefühl, hier hätte jemand ohne Salz und Pfeffer beschrieben, begreift man schnell, dass die Würze im Leser selbst entsteht. Erstaunlicherweise wächst jede Figur in diesem Roman, der nicht wertet und keine Pointen setzt, mit jeder Zeile, die sich ihrer Funktionalisierung verweigert. So wird Patrick unter dem Blick seines Zellengenossen nicht zum Menschen mit einem Gewaltproblem, sondern zu einem mit einer Geschichte: einem Sohn, der nach der Liebe seiner Mutter sucht, einem Jungen, der über seine Harley redet, als wäre sie ihm Freund und Frau zugleich, einem Mann mit einer Haarschneidephobie, der die delikate Friseuraufgabe seinem Zellengenossen überlässt. "Ich lasse Patricks Haare durch meine Finger gleiten. Mit äußerster Behutsamkeit dünne ich Strähne für Strähne diesen Fellhaufen aus."
Patricks Verbrechen liefert diesem Roman keinen Erzählanlass, obwohl das naheliegen würde. Auch über Pauls Vergehen erfährt man lange nichts. Nur, dass Patrick ihn dafür bewundert: "Das hast du richtig gemacht. Gar keine Frage. Ich hätte ihn gekillt." Paul, so enthüllt der Roman auf seinen nur 250 Seiten, war mehr als zwanzig Jahre lang Hausmeister in einer großen Wohnanlage mit Swimmingpool und Gemeinschaftsgarten. Dieses "Excelsior" ist eine Wohnstadt, und Hansen war ihr Statthalter. In Rückblicken erfahren wir nun vom Leben und Wirken eines guten Geistes, der zunächst als Techniker ins Haus gekommen. Bald kennt er den Maschinenraum des Wohnschiffs so gut wie den eigenen Körper. Und neben dem Maschinenraum gilt es, die Blutbahn des Gebäudes kalkfrei zu halten. Mit den Dienstjahren altern auch die Bewohner, und so wird Paul Hansen bald zu einem Faktotum. Er kümmert sich um die Demenzkranken, die durch die Flure irren. Er redet mit den Einsamen. Er reanimiert die Sterbenden. Er macht all das, ohne sich selbst darin zu gefallen - eher reflexhaft als reflektiert. "Es gibt nichts Gutes: Außer man tut es", hat Erich Kästner einmal gedichtet. Dieses Buch über einen Menschen, dem das Gute das Natürliche ist, hat es nicht nötig zu moralisieren. Es ist moralisch.
Paul Hansen, so erfährt der Leser seines Berichts, hat eine Ehefrau, die von den Algonkin abstammt. Mit ihr teilt er eine tiefe Verbundenheit mit der Natur. Eine entschlossene Person, die ihren Lebensunterhalt als Pilotin eines Wasserflugzeugs verdient, mit dem sie Menschen in entlegene Seenlandschaften befördert. Die beiden retten einer Hündin das Leben und führen fortan ein zufriedenes Leben in der Hausmeisterwohnung des Excelsior. Und dann, um den Jahrtausendwechsel herum, beginnt der Abstieg. Das Haus bekommt im Zuge einer Kältewelle erste Risse. Die Sitten werden mit dem neuen Chef der Eigentümerversammlung roher. Unter Schmerzen liest man das Protokoll einer systematischen Vernichtung. Der Hausmeister soll weg; er kostet zu viel und kümmert sich um Sachen, für die er nicht bezahlt wird. Auf einer gespenstischen einmütigen Eigentümerversammlung wird Hansen öffentlich gedemütigt. Trotz seiner Beliebtheit.
Als Hansens Frau Winona bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt, verliert der eselsgeduldige Hausmeister den Boden unter den Füßen. Und auf jemand, der am Boden liegt, kann man gut herumtrampeln. Davon macht der neue Haustyrann ausgiebig Gebrauch. Bis es zum wölfischen Kampf zwischen den beiden Männern kommt. "Er setzte sich zur Wehr, wie es Tiere tun, die noch leben wollen, während die Menschen sie ersäufen, weil sie sie nicht mehr wollen. Ohne mir dessen bewusst zu sein, fuhrwerkte ich schon seit Jahren genauso verzweifelt in diesem krankmachenden Haus herum, das mir nach und nach alles genommen hatte."
Was ist das für ein Buch, dem es auf fast aufreizend leisen Sohlen gelungen ist, den wichtigsten Literaturpreis seines Landes zu gewinnen? Es erzählt von einem Menschen, der zufrieden ist und damit ganz anders als die hadernden Helden der Weltliteratur. Paul Hansen ist ein moderner Hiob, der auch nach vielen Prüfungen und einer geduldig abgesessenen Haftstrafe noch in der Lage ist zu sagen: "Dennoch bereue ich nichts von diesem Leben, das nicht viel hermachte, mir aber genügte."
Es ist ungeheuer tröstlich, einen bescheidenen Helden im Zentrum einer Erzählung aus dem 21. Jahrhundert zu wissen. Er kann die Brutalisierung der Konventionen zwar nicht aufhalten. Aber er kann ihr einen Humanismus entgegenhalten, der beständiger ist. Das Erbe des dänischen Pastorenvaters spielt ganz am Ende des Romans noch einmal eine unerwartet schöne Rolle.
KATHARINA TEUTSCH
Jean-Paul Dubois: "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver. Dtv, München 2020. 256 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als der geduldige Hausmeister es mit dem Haustyrannen aufnimmt: Der Roman "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" von Jean-Paul Dubois
Selten war der Titel eines Buchs so sehr Programm für das, was sich weltanschaulich in ihm zeigen würde. "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" hat im vergangenen Jahr den renommierten Prix Goncourt erhalten. Mit mehr als zwanzig Büchern, von denen bislang fünf ins Deutsche übertragen wurden, gehört der ehemalige Nordamerika-Korrespondent des "Nouvel Observateur" zum literarischen Paris der Gegenwart. Er selbst lebt in seinem Elternhaus in Toulouse, wo er auch seinen Helden Paul aufwachsen lässt: als Sohn einer Programmkinobesitzerin, die sich später das Leben nehmen wird, und eines von Glaubenskrisen gebeutelten dänischen Pastors, der später nach Kanada auswandern wird. Zuvor hatte seine Frau in ihrem Kino "Deep Throat" gezeigt. Ein irreparabler Schaden für die Ehe der Hansens.
Von diesen beiden Menschen erfahren wir in der ersten Romanhälfte mehr als über den Ich-Erzähler. Es ist, als würden die Ankerpunkte seiner Existenz beschrieben, ohne die kein Verständnis von der Person gelingen kann. In welcher Weise einer die Welt "bewohnt", erscheint hier als logische Konsequenz von Herkunft und Ereignis.
Das Buch selbst beginnt auf der anderen Seite des Globus, in Montreal. Es ist Winter dort. "Seit einer Woche schneit es", lautet der erste Satz. Zwei Jahre ohne Bewährung ist das Strafmaß, das für Paul Hansen festgelegt wurde, weil er keinerlei Reue gezeigt haben soll. Wir befinden uns in einer Gefängniszelle. Die Knastheizkörper kommen kaum über die vierzehn Grad. Das Essen schmeckt abscheulich. Das Klo befindet sich mitten in der Zelle. Die teilt sich Paul mit einem Hells Angel namens Patrick, der sich in einem Bandenkrieg blutige Finger geholt haben soll, sich aber im Verlauf der Lektüre als grüblerisches Sensibelchen entpuppt.
Schon bei der Schilderung dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft wird deutlich, worin das Wunder dieses Buchs besteht: Hat man zunächst das Gefühl, hier hätte jemand ohne Salz und Pfeffer beschrieben, begreift man schnell, dass die Würze im Leser selbst entsteht. Erstaunlicherweise wächst jede Figur in diesem Roman, der nicht wertet und keine Pointen setzt, mit jeder Zeile, die sich ihrer Funktionalisierung verweigert. So wird Patrick unter dem Blick seines Zellengenossen nicht zum Menschen mit einem Gewaltproblem, sondern zu einem mit einer Geschichte: einem Sohn, der nach der Liebe seiner Mutter sucht, einem Jungen, der über seine Harley redet, als wäre sie ihm Freund und Frau zugleich, einem Mann mit einer Haarschneidephobie, der die delikate Friseuraufgabe seinem Zellengenossen überlässt. "Ich lasse Patricks Haare durch meine Finger gleiten. Mit äußerster Behutsamkeit dünne ich Strähne für Strähne diesen Fellhaufen aus."
Patricks Verbrechen liefert diesem Roman keinen Erzählanlass, obwohl das naheliegen würde. Auch über Pauls Vergehen erfährt man lange nichts. Nur, dass Patrick ihn dafür bewundert: "Das hast du richtig gemacht. Gar keine Frage. Ich hätte ihn gekillt." Paul, so enthüllt der Roman auf seinen nur 250 Seiten, war mehr als zwanzig Jahre lang Hausmeister in einer großen Wohnanlage mit Swimmingpool und Gemeinschaftsgarten. Dieses "Excelsior" ist eine Wohnstadt, und Hansen war ihr Statthalter. In Rückblicken erfahren wir nun vom Leben und Wirken eines guten Geistes, der zunächst als Techniker ins Haus gekommen. Bald kennt er den Maschinenraum des Wohnschiffs so gut wie den eigenen Körper. Und neben dem Maschinenraum gilt es, die Blutbahn des Gebäudes kalkfrei zu halten. Mit den Dienstjahren altern auch die Bewohner, und so wird Paul Hansen bald zu einem Faktotum. Er kümmert sich um die Demenzkranken, die durch die Flure irren. Er redet mit den Einsamen. Er reanimiert die Sterbenden. Er macht all das, ohne sich selbst darin zu gefallen - eher reflexhaft als reflektiert. "Es gibt nichts Gutes: Außer man tut es", hat Erich Kästner einmal gedichtet. Dieses Buch über einen Menschen, dem das Gute das Natürliche ist, hat es nicht nötig zu moralisieren. Es ist moralisch.
Paul Hansen, so erfährt der Leser seines Berichts, hat eine Ehefrau, die von den Algonkin abstammt. Mit ihr teilt er eine tiefe Verbundenheit mit der Natur. Eine entschlossene Person, die ihren Lebensunterhalt als Pilotin eines Wasserflugzeugs verdient, mit dem sie Menschen in entlegene Seenlandschaften befördert. Die beiden retten einer Hündin das Leben und führen fortan ein zufriedenes Leben in der Hausmeisterwohnung des Excelsior. Und dann, um den Jahrtausendwechsel herum, beginnt der Abstieg. Das Haus bekommt im Zuge einer Kältewelle erste Risse. Die Sitten werden mit dem neuen Chef der Eigentümerversammlung roher. Unter Schmerzen liest man das Protokoll einer systematischen Vernichtung. Der Hausmeister soll weg; er kostet zu viel und kümmert sich um Sachen, für die er nicht bezahlt wird. Auf einer gespenstischen einmütigen Eigentümerversammlung wird Hansen öffentlich gedemütigt. Trotz seiner Beliebtheit.
Als Hansens Frau Winona bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt, verliert der eselsgeduldige Hausmeister den Boden unter den Füßen. Und auf jemand, der am Boden liegt, kann man gut herumtrampeln. Davon macht der neue Haustyrann ausgiebig Gebrauch. Bis es zum wölfischen Kampf zwischen den beiden Männern kommt. "Er setzte sich zur Wehr, wie es Tiere tun, die noch leben wollen, während die Menschen sie ersäufen, weil sie sie nicht mehr wollen. Ohne mir dessen bewusst zu sein, fuhrwerkte ich schon seit Jahren genauso verzweifelt in diesem krankmachenden Haus herum, das mir nach und nach alles genommen hatte."
Was ist das für ein Buch, dem es auf fast aufreizend leisen Sohlen gelungen ist, den wichtigsten Literaturpreis seines Landes zu gewinnen? Es erzählt von einem Menschen, der zufrieden ist und damit ganz anders als die hadernden Helden der Weltliteratur. Paul Hansen ist ein moderner Hiob, der auch nach vielen Prüfungen und einer geduldig abgesessenen Haftstrafe noch in der Lage ist zu sagen: "Dennoch bereue ich nichts von diesem Leben, das nicht viel hermachte, mir aber genügte."
Es ist ungeheuer tröstlich, einen bescheidenen Helden im Zentrum einer Erzählung aus dem 21. Jahrhundert zu wissen. Er kann die Brutalisierung der Konventionen zwar nicht aufhalten. Aber er kann ihr einen Humanismus entgegenhalten, der beständiger ist. Das Erbe des dänischen Pastorenvaters spielt ganz am Ende des Romans noch einmal eine unerwartet schöne Rolle.
KATHARINA TEUTSCH
Jean-Paul Dubois: "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver. Dtv, München 2020. 256 S., geb., 22,- [Euro].
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Alles schillert und oszilliert in diesem prachtvollen Roman zwischen Komik und Melancholie. Berliner Zeitung 20201217