Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2017Prüfungsangst im Fach Liebe
Der Roman "Jener Sommer" von Anna Xiulan Zeeck besucht eine chinesische Schule der Gefühle
Die zwölfjährige Shuya kriegt eine heiße Stirn, wenn sie an den gleichaltrigen Wenhua denkt. Sie ist eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse, aber weder so gut wie Wenhua noch so erfolgreich wie ihre Freundin Hanshan. Deren Herz klopft ebenfalls schnell, wenn sie an Wenhua denkt. Der erwidert aber Shuyas, nicht Hanshans Gefühle, obwohl Hanshan ihm sozial näher steht denn sie kommt aus einer einflussreichen Familie; während Shuyas Mutter an dem Tag, an dem sie ihre Tochter bei einer Nachhilfeschule anmeldet, um dem begabten Kind etwas Rückenwind zu verschaffen, Tränen unterdrücken muss, als ihr klar wird, dass die bescheidene Zukunftsinvestition sie auf unbestimmte Zeit die Hälfte des Monatseinkommens der Familie kosten wird.
Der Jugendroman "Jener Sommer" von Anna Xiulan Zeeck verniedlicht seine drei Hauptfiguren nicht zu putzigen unfertigen Erwachsenen, sondern nimmt sie ernst: "Er musste sich eingestehen, dass er dieses hübsche Mädchen liebte", heißt es über die Selbsterforschung Wenhuas, weil es der Autorin nie einfallen würde, ihn "verknallt" zu nennen. Er ringt nämlich mit Entscheidungen, die ihn aus der vorgezeichneten Ausbildungsbahn werfen könnten.
Der in diesem Buch eindrucksvoll anschaulich geschilderte Leistungs- und Konkurrenzdruck des heutigen chinesischen Schulsystems - man erfährt, was eine "Superschule" ist. wer hindarf und wie's da zugeht - könnte westlichen Leserinnen und Lesern exotisch grausam vorkommen. Grund zum Hochmut haben sie nicht: Wo in China bei Exerzierübungen der Jüngsten die rote Fahne flattert, knattert im Westen bereits über den Kitas der Börsenzettel, weil westliche Politik das Bildungswesen zunehmend als eine Fabrik missversteht, deren Produkte marktfähige Computer-Apps auf zwei Beinen sein sollen. China hat im letzten Jahrhundert wie Russland eine Revolution erlebt, die einem wenig industriell entwickelten Agrarland eine große Zukunft erobern wollte. In bürgerlichen Gesellschaften war der Antrieb zur Leistung stets die Angst vor Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, das russische Riesenexperiment dagegen begann vor hundert Jahren unter anderem mit einer Alphabetisierungskampagne, die noch die Ärmsten in die Lage versetzten sollte, Programme der neuen Regierung zu lesen, welche versprachen, dass niemand je wieder aus der Gesellschaft fallen würde. Solche Programme laden der Administration eine gewaltige Verantwortung auf. In China hat Mao Tse-tung, um zu verhindern, dass diese Administration sich bürokratisch verhärtet, die sogenannte Kulturrevolution entfesselt, deren militante Jugend und wütende Unwissenheit die Zivilisation dort in ernste Bedrängnis brachte. Deng Xiaoping hat diese Zivilisation knapp gerettet, nicht nur mit Losungen wie "achtet Wissen, achtet Fachkräfte" - und nicht einfach als "großer Mann", wie naive Geschichtstheorien sich solche Leute denken, sondern als zeitweilige Verkörperung großer gesamtgesellschaftlicher Richtungskämpfe.
Ob sich Dengs Erbe zum hundsgewöhnlichen Kapitalismus mausern wird oder sich eine List der Geschichte entfaltet, bei der Wettbewerb außer Profit auch Dämme gegen den Verlust sozialer Errungenschaften erwirtschaften kann, werden erst die Enkelinnen und Enkel von Shuya, Hanshan und Wenhua wissen. Es gibt Prüfungen der Seelen Einzelner und ganzer Gesellschaften, deren Erfolg sie nur selbst beurteilen können, weil es keine Behörde gibt, die ihnen das abnimmt. Von solchen Prüfungen handelt "Jener Sommer", das macht dieses schmale Buch auch für Erwachsene, etwa hiesige Eltern, zum vielschichtigen Lernerlebnis.
DIETMAR DATH
Anna Xiulan Zeeck: "Jener Sommer".
Roman.
Desina Verlag, Oldenburg 2017. 128 S., geb., 13,90 [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Roman "Jener Sommer" von Anna Xiulan Zeeck besucht eine chinesische Schule der Gefühle
Die zwölfjährige Shuya kriegt eine heiße Stirn, wenn sie an den gleichaltrigen Wenhua denkt. Sie ist eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse, aber weder so gut wie Wenhua noch so erfolgreich wie ihre Freundin Hanshan. Deren Herz klopft ebenfalls schnell, wenn sie an Wenhua denkt. Der erwidert aber Shuyas, nicht Hanshans Gefühle, obwohl Hanshan ihm sozial näher steht denn sie kommt aus einer einflussreichen Familie; während Shuyas Mutter an dem Tag, an dem sie ihre Tochter bei einer Nachhilfeschule anmeldet, um dem begabten Kind etwas Rückenwind zu verschaffen, Tränen unterdrücken muss, als ihr klar wird, dass die bescheidene Zukunftsinvestition sie auf unbestimmte Zeit die Hälfte des Monatseinkommens der Familie kosten wird.
Der Jugendroman "Jener Sommer" von Anna Xiulan Zeeck verniedlicht seine drei Hauptfiguren nicht zu putzigen unfertigen Erwachsenen, sondern nimmt sie ernst: "Er musste sich eingestehen, dass er dieses hübsche Mädchen liebte", heißt es über die Selbsterforschung Wenhuas, weil es der Autorin nie einfallen würde, ihn "verknallt" zu nennen. Er ringt nämlich mit Entscheidungen, die ihn aus der vorgezeichneten Ausbildungsbahn werfen könnten.
Der in diesem Buch eindrucksvoll anschaulich geschilderte Leistungs- und Konkurrenzdruck des heutigen chinesischen Schulsystems - man erfährt, was eine "Superschule" ist. wer hindarf und wie's da zugeht - könnte westlichen Leserinnen und Lesern exotisch grausam vorkommen. Grund zum Hochmut haben sie nicht: Wo in China bei Exerzierübungen der Jüngsten die rote Fahne flattert, knattert im Westen bereits über den Kitas der Börsenzettel, weil westliche Politik das Bildungswesen zunehmend als eine Fabrik missversteht, deren Produkte marktfähige Computer-Apps auf zwei Beinen sein sollen. China hat im letzten Jahrhundert wie Russland eine Revolution erlebt, die einem wenig industriell entwickelten Agrarland eine große Zukunft erobern wollte. In bürgerlichen Gesellschaften war der Antrieb zur Leistung stets die Angst vor Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, das russische Riesenexperiment dagegen begann vor hundert Jahren unter anderem mit einer Alphabetisierungskampagne, die noch die Ärmsten in die Lage versetzten sollte, Programme der neuen Regierung zu lesen, welche versprachen, dass niemand je wieder aus der Gesellschaft fallen würde. Solche Programme laden der Administration eine gewaltige Verantwortung auf. In China hat Mao Tse-tung, um zu verhindern, dass diese Administration sich bürokratisch verhärtet, die sogenannte Kulturrevolution entfesselt, deren militante Jugend und wütende Unwissenheit die Zivilisation dort in ernste Bedrängnis brachte. Deng Xiaoping hat diese Zivilisation knapp gerettet, nicht nur mit Losungen wie "achtet Wissen, achtet Fachkräfte" - und nicht einfach als "großer Mann", wie naive Geschichtstheorien sich solche Leute denken, sondern als zeitweilige Verkörperung großer gesamtgesellschaftlicher Richtungskämpfe.
Ob sich Dengs Erbe zum hundsgewöhnlichen Kapitalismus mausern wird oder sich eine List der Geschichte entfaltet, bei der Wettbewerb außer Profit auch Dämme gegen den Verlust sozialer Errungenschaften erwirtschaften kann, werden erst die Enkelinnen und Enkel von Shuya, Hanshan und Wenhua wissen. Es gibt Prüfungen der Seelen Einzelner und ganzer Gesellschaften, deren Erfolg sie nur selbst beurteilen können, weil es keine Behörde gibt, die ihnen das abnimmt. Von solchen Prüfungen handelt "Jener Sommer", das macht dieses schmale Buch auch für Erwachsene, etwa hiesige Eltern, zum vielschichtigen Lernerlebnis.
DIETMAR DATH
Anna Xiulan Zeeck: "Jener Sommer".
Roman.
Desina Verlag, Oldenburg 2017. 128 S., geb., 13,90 [Euro]. Ab 10 J.
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