An einem Spätsommertag auf Martha's Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen - um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium während der Vietnamkriegsjahre sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway. Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen - oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich geliebt hat. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert? Richard Russo erzählt von drei Menschen, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit 'Jenseitsder Erwartungen' zeigt Russo seine ganze Meisterschaft - als großer Erzähler und als Menschenkenner.
Vernunftbegabt und guten Willens
Wie geht es eigentlich dem amerikanischen Traum? In „Jenseits der Erwartungen“ erzählt
der amerikanische Schriftsteller Richard Russo vom Zustand des weißen Amerikas im Jahr 2015 – dem letzten Jahr vor Trump
VON MARTIN EBEL
Wer an Literatur den Anspruch stellt, die Menschen in ihrer farblichen Vielfalt abzubilden – also „diversity“ zu praktizieren –, der wird den neuen Roman von Richard Russo enttäuscht beiseite legen. „Jenseits der Erwartungen” hat ein ausnahmslos weißes Personal, die aktuelle Rassenproblematik spielt keine Rolle. Aber das Land, das uns der große US-amerikanische Autor zeigt, ist auch in seiner weißen Mehrheit ein zutiefst zerrissenes, entlang verschiedener Frontlinien verfeindetes, geradezu in sich verbissenes Land.
Der Roman spielt hauptsächlich in der Vorwahlphase 2015, noch ist Donald Trump bloß ein Wahlkampfplakat in einem Vorgarten. Noch regiert ein schwarzer Präsident, aber diese Tatsache täuscht über die wahren Verhältnisse hinweg. Obama, meint Lincoln, einer der drei Helden des Romans, „glaubte tatsächlich, die Welt sei ein rationaler Ort, und die meisten Menschen seien vernunftbegabt und guten Willens“. Lincoln, gemäßigter Republikaner, ein Immobilienmakler, dem die Beinahe-Pleite seiner Firma in der Finanzkrise noch in den Knochen steckt, weiß es besser. Vor allem sein Autor Russo weiß es besser, und wir Leser wissen es spätestens nach der Lektüre auch. Der Hass, mit dem die verschiedenen Teile der USA einander begegnen, schwelt schon vor Trumps Präsidentschaft, jederzeit bereit, hell aufzulodern.
Das erlebt Teddy, der zweite Held, Verleger spiritueller Werke an einer Provinzuniversität. Er trifft bei einem Ausflug auf eine Touristengruppe aus den Südstaaten, die aus ihrem Ressentiment gegen den Norden, den sie für arrogant und snobistisch halten, keinen Hehl machen. Der Trump-Wähler unter ihnen wirkt noch wie ein Exot, aber sein Spruch „Sperrt sie ein!“ ( gemeint ist Hillary Clinton) bleibt unwidersprochen.
Die größte Kluft trennt Reich und Arm, diejenigen, denen die Großchancen schon in die Wiege gelegt wurden, und die sie sich als Beweis eigener Auserwähltheit oder gar eigenen Verdienstes zuschreiben, von denen, die sich abstrampeln, um wenigstens ein kleines Stück vom Kuchen abzukriegen. In seinen vorangehenden Romanen wie „Diese gottverdammten Träume“ (Original: „Empire Falls“, Pulitzer-Preis 2002) oder „Ein Mann der Tat“ hat Russo immer wieder abgehängte Städte porträtiert und ihre sich durchwurstelnden Bewohner; potenzielle Trump-Wähler lange vor Trump.
Um Chancen, solche, die man hat, und solche, die einem verwehrt werden, um den freien Willen, die Gene und das Schicksal geht es in diesem Roman, der seinen Originaltitel „Chances are ...“ einem sentimentalen Song von Johnny Mathis entnommen hat. Also letztlich um das uramerikanische Selbstbild einer Nation, in der jeder alles erreichen kann, wenn er nur will. Es wird, einmal mehr, in unseren Tagen als Lebenslüge entlarvt, durch die unterschiedliche Verteilung der Corona-Toten, der Gefängnisinsassen, durch Polizeigewalt und vieles mehr. Russos neuer Roman bildet einen mal bittersüßen, mal sarkastischen Kommentar dazu.
Lincoln, Teddy und Mickey, der dritte im Bunde, Arbeitersohn italienisch-irischer Herkunft, haben sich auf einem mittelmäßigen College kennengelernt, dort ein Zimmer geteilt und gemeinsam im Theta House, wo die Mädchen aus gutem Hause studierten, gekellnert. Alle waren sie in Jacy verliebt, eine wilde, unberechenbare Schönheit, die zwar mit einem reichen Schnösel verlobt ist, aber vor dem Leben, das dieser ihr bietet, eine Kopie seiner konventionellen Eltern, zurückschreckt.
Am Memorial Day 1971 – das ist die zweite Zeitebene des Romans – haben die „drei Musketiere“ mit Jacy ein Wochenende auf St. Martha’s Vineyard verbracht, im Ferienhaus von Lincolns Mutter. Für einen amerikanischen Kritiker erklärt der Roman, warum Trump die Stimmen derer erhalten hat, „die nicht solche Häuser haben“, aber das ist doch etwas zu viel der Politisierung. Bei Russo geht es immer etwas subtiler, subkutaner zu.
Nach dem Wochenende ist Jacy verschwunden und taucht nie wieder auf. 44 Jahre später treffen sich die drei Freunde wieder in jenem Haus, und Jacy, die immer weiter in ihren Köpfen herumgespukt hat, gewinnt dort eine fast unheimliche Präsenz. Was ist damals passiert? Hat sie die Insel vielleicht gar nicht verlassen, ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, etwa dem Nachbarn Mason, einem ordinären Unsympathen (er hat das Trump-Plakat im Vorgarten)? Oder gar Mickey, der seine Aggressionen nicht im Griff hat? Das vermutet Lincoln, auf diese Spur gebracht von einem verbitterten Polizisten, der den Fall damals bearbeitet hatte; und er schämt sich bald seines Verdachts gegen den Freund. Aber was weiß man schon von einem Menschen, wie nah er einem auch steht?
An jenem Wochenende der Erinnerung, der gepflegten Nostalgie und der tiefen Verunsicherung präsentiert Mickey schließlich die Lösung des „Falles“, und sie ist für Russos Verhältnisse geradezu spektakulär, am Rande der Kolportage. Flucht und ein neues Leben, Missbrauch im Elternhaus und eine heimtückische Krankheit spielen mit. Das liest man atemlos und ist fast geneigt, darüber zu vergessen, worum es dem Autor eigentlich geht.
Da sind drei „verdammt alte Männer“ (sie sind 66), die der Zufall zusammen- und das Leben wieder auseinandergebracht hat. Die ihre Jugend und ihre Freundschaft so intensiv erlebt haben, dass alles Weitere fast wie ein Epilog wirkt. Die zurückschauen wie durchs falsche Ende eines Fernrohrs, falsch, „weil aus dieser Warte das ganze Durcheinander des Lebens aufgeräumt war; man erhielt nicht nur ein schärferes Bild, sondern auch den Eindruck der Unvermeidbarkeit.“
Wie ist man der geworden, der man ist? Welche Entscheidungen hat man wirklich getroffen – oder ist man vielmehr in eine Passform hineingewachsen, die das Leben für einen bereithielt? Und welche Rolle spielt der Zufall des Geburtsjahrs, ja sogar des Geburtstags? Das eigentlich entscheidende Erlebnis der drei verdammt alten Männer prägte eine ganze Generation: der Vietnamkrieg. Wer daran teilnehmen musste, entschied eine Lotterie. Richard Russo hat den Roman denen gewidmet, „deren Namen an der Mauer stehen“ – auf der Memorial Wall in Washington.
Im Prolog des Buches sitzen die drei Freunde 1969 vor dem Fernseher, wo die erste „Lotterie“ übertragen wurde: Die Losnummern der Geburtstage entschieden darüber, wer wann eingezogen wurde. Es war der Zufall, der schon vor dem Schlachtfeld über Leben und Tod entschied. Mickey bekam die Nummer 9, seine Freunde sehr viel höhere, sie waren auf der sicheren Seite.
Nach Kanada fliehen war eine Option. Lincolns Vater hatte ihn gewarnt: Dann bist du nicht mehr mein Sohn. Mickeys Vater hatte anders argumentiert: Dann muss jemand anderes an deiner Stelle gehen. Willst du dafür die Verantwortung tragen? Väter, die ihre Söhne durch moralischen Druck in den Krieg schicken. Söhne, die, alt geworden, erkennen, wie sehr sie ihren Vätern ähneln. Eine Losnummer, die sich über ein ganzes Leben legt. Und auch Jacys Weg ist mit dieser Lotterie verbunden.
Richard Russo, eine Generation jünger als John Updike, ist sein legitimer Nachfolger als glänzender Analytiker der weißen amerikanischen Mittelschicht. Sein Personal ist weniger wohlhabend, skeptischer, desillusionierter, aber nicht weniger lebensklug – und seine Klugheit ist vor allem Enttäuschungen abgewonnen. Russos Prosa ist weniger opulent als die Updikes, sie trumpft weniger auf, ist formal konventioneller, sexuell zurückhaltender. Updikes Romane fielen in eine Zeit des Aufbruchs, die Russos fallen in eine, die den Glauben an das eigene Land und dessen Zukunft verloren hat.
„Jenseits der Erwartungen“ springt zwischen Alter und Jugend, zwischen zwei Wochenenden, 1971 und 2015, hin und her. Richard Russo lässt uns diesen Sprung über viereinhalb Jahrzehnte durch die Gedanken Lincolns und Teddys vollziehen, erst zum Schluss, zur Auflösung, tritt Mickey dazu. Russo hat den Roman voller Lücken gelassen, die er im Verlauf füllt, nach und nach, bis das ganze Bild in unserem Kopf da ist. Vieles wickelt er über Dialoge ab, die schon immer seine besondere Stärke waren: Darin mischen sich Kumpelhaftigkeit und Ironie, Insider-Jokes und Renommiererei zu einem Ton, der zuweilen nackte Verzweiflung durchscheinen lässt. Große Literatur.
Richard Russo: Jenseits der Erwartungen. Roman. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont, München 2020. 428 Seiten, 22 Euro.
Ein Wochenende der Erinnerung,
der gepflegten Nostalgie
und der tiefen Verunsicherung
Russos Personal ist skeptischer
als Updikes, weniger wohlhabend,
aber nicht weniger klug
Ähnlich wie John Updike untersucht Richard Russo das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft in den Bildwelten der weißen Mittelschicht: Segelboote vor Martha’s Vineyard.
Foto: Mark Lennihan/AP
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Wie geht es eigentlich dem amerikanischen Traum? In „Jenseits der Erwartungen“ erzählt
der amerikanische Schriftsteller Richard Russo vom Zustand des weißen Amerikas im Jahr 2015 – dem letzten Jahr vor Trump
VON MARTIN EBEL
Wer an Literatur den Anspruch stellt, die Menschen in ihrer farblichen Vielfalt abzubilden – also „diversity“ zu praktizieren –, der wird den neuen Roman von Richard Russo enttäuscht beiseite legen. „Jenseits der Erwartungen” hat ein ausnahmslos weißes Personal, die aktuelle Rassenproblematik spielt keine Rolle. Aber das Land, das uns der große US-amerikanische Autor zeigt, ist auch in seiner weißen Mehrheit ein zutiefst zerrissenes, entlang verschiedener Frontlinien verfeindetes, geradezu in sich verbissenes Land.
Der Roman spielt hauptsächlich in der Vorwahlphase 2015, noch ist Donald Trump bloß ein Wahlkampfplakat in einem Vorgarten. Noch regiert ein schwarzer Präsident, aber diese Tatsache täuscht über die wahren Verhältnisse hinweg. Obama, meint Lincoln, einer der drei Helden des Romans, „glaubte tatsächlich, die Welt sei ein rationaler Ort, und die meisten Menschen seien vernunftbegabt und guten Willens“. Lincoln, gemäßigter Republikaner, ein Immobilienmakler, dem die Beinahe-Pleite seiner Firma in der Finanzkrise noch in den Knochen steckt, weiß es besser. Vor allem sein Autor Russo weiß es besser, und wir Leser wissen es spätestens nach der Lektüre auch. Der Hass, mit dem die verschiedenen Teile der USA einander begegnen, schwelt schon vor Trumps Präsidentschaft, jederzeit bereit, hell aufzulodern.
Das erlebt Teddy, der zweite Held, Verleger spiritueller Werke an einer Provinzuniversität. Er trifft bei einem Ausflug auf eine Touristengruppe aus den Südstaaten, die aus ihrem Ressentiment gegen den Norden, den sie für arrogant und snobistisch halten, keinen Hehl machen. Der Trump-Wähler unter ihnen wirkt noch wie ein Exot, aber sein Spruch „Sperrt sie ein!“ ( gemeint ist Hillary Clinton) bleibt unwidersprochen.
Die größte Kluft trennt Reich und Arm, diejenigen, denen die Großchancen schon in die Wiege gelegt wurden, und die sie sich als Beweis eigener Auserwähltheit oder gar eigenen Verdienstes zuschreiben, von denen, die sich abstrampeln, um wenigstens ein kleines Stück vom Kuchen abzukriegen. In seinen vorangehenden Romanen wie „Diese gottverdammten Träume“ (Original: „Empire Falls“, Pulitzer-Preis 2002) oder „Ein Mann der Tat“ hat Russo immer wieder abgehängte Städte porträtiert und ihre sich durchwurstelnden Bewohner; potenzielle Trump-Wähler lange vor Trump.
Um Chancen, solche, die man hat, und solche, die einem verwehrt werden, um den freien Willen, die Gene und das Schicksal geht es in diesem Roman, der seinen Originaltitel „Chances are ...“ einem sentimentalen Song von Johnny Mathis entnommen hat. Also letztlich um das uramerikanische Selbstbild einer Nation, in der jeder alles erreichen kann, wenn er nur will. Es wird, einmal mehr, in unseren Tagen als Lebenslüge entlarvt, durch die unterschiedliche Verteilung der Corona-Toten, der Gefängnisinsassen, durch Polizeigewalt und vieles mehr. Russos neuer Roman bildet einen mal bittersüßen, mal sarkastischen Kommentar dazu.
Lincoln, Teddy und Mickey, der dritte im Bunde, Arbeitersohn italienisch-irischer Herkunft, haben sich auf einem mittelmäßigen College kennengelernt, dort ein Zimmer geteilt und gemeinsam im Theta House, wo die Mädchen aus gutem Hause studierten, gekellnert. Alle waren sie in Jacy verliebt, eine wilde, unberechenbare Schönheit, die zwar mit einem reichen Schnösel verlobt ist, aber vor dem Leben, das dieser ihr bietet, eine Kopie seiner konventionellen Eltern, zurückschreckt.
Am Memorial Day 1971 – das ist die zweite Zeitebene des Romans – haben die „drei Musketiere“ mit Jacy ein Wochenende auf St. Martha’s Vineyard verbracht, im Ferienhaus von Lincolns Mutter. Für einen amerikanischen Kritiker erklärt der Roman, warum Trump die Stimmen derer erhalten hat, „die nicht solche Häuser haben“, aber das ist doch etwas zu viel der Politisierung. Bei Russo geht es immer etwas subtiler, subkutaner zu.
Nach dem Wochenende ist Jacy verschwunden und taucht nie wieder auf. 44 Jahre später treffen sich die drei Freunde wieder in jenem Haus, und Jacy, die immer weiter in ihren Köpfen herumgespukt hat, gewinnt dort eine fast unheimliche Präsenz. Was ist damals passiert? Hat sie die Insel vielleicht gar nicht verlassen, ist sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen, etwa dem Nachbarn Mason, einem ordinären Unsympathen (er hat das Trump-Plakat im Vorgarten)? Oder gar Mickey, der seine Aggressionen nicht im Griff hat? Das vermutet Lincoln, auf diese Spur gebracht von einem verbitterten Polizisten, der den Fall damals bearbeitet hatte; und er schämt sich bald seines Verdachts gegen den Freund. Aber was weiß man schon von einem Menschen, wie nah er einem auch steht?
An jenem Wochenende der Erinnerung, der gepflegten Nostalgie und der tiefen Verunsicherung präsentiert Mickey schließlich die Lösung des „Falles“, und sie ist für Russos Verhältnisse geradezu spektakulär, am Rande der Kolportage. Flucht und ein neues Leben, Missbrauch im Elternhaus und eine heimtückische Krankheit spielen mit. Das liest man atemlos und ist fast geneigt, darüber zu vergessen, worum es dem Autor eigentlich geht.
Da sind drei „verdammt alte Männer“ (sie sind 66), die der Zufall zusammen- und das Leben wieder auseinandergebracht hat. Die ihre Jugend und ihre Freundschaft so intensiv erlebt haben, dass alles Weitere fast wie ein Epilog wirkt. Die zurückschauen wie durchs falsche Ende eines Fernrohrs, falsch, „weil aus dieser Warte das ganze Durcheinander des Lebens aufgeräumt war; man erhielt nicht nur ein schärferes Bild, sondern auch den Eindruck der Unvermeidbarkeit.“
Wie ist man der geworden, der man ist? Welche Entscheidungen hat man wirklich getroffen – oder ist man vielmehr in eine Passform hineingewachsen, die das Leben für einen bereithielt? Und welche Rolle spielt der Zufall des Geburtsjahrs, ja sogar des Geburtstags? Das eigentlich entscheidende Erlebnis der drei verdammt alten Männer prägte eine ganze Generation: der Vietnamkrieg. Wer daran teilnehmen musste, entschied eine Lotterie. Richard Russo hat den Roman denen gewidmet, „deren Namen an der Mauer stehen“ – auf der Memorial Wall in Washington.
Im Prolog des Buches sitzen die drei Freunde 1969 vor dem Fernseher, wo die erste „Lotterie“ übertragen wurde: Die Losnummern der Geburtstage entschieden darüber, wer wann eingezogen wurde. Es war der Zufall, der schon vor dem Schlachtfeld über Leben und Tod entschied. Mickey bekam die Nummer 9, seine Freunde sehr viel höhere, sie waren auf der sicheren Seite.
Nach Kanada fliehen war eine Option. Lincolns Vater hatte ihn gewarnt: Dann bist du nicht mehr mein Sohn. Mickeys Vater hatte anders argumentiert: Dann muss jemand anderes an deiner Stelle gehen. Willst du dafür die Verantwortung tragen? Väter, die ihre Söhne durch moralischen Druck in den Krieg schicken. Söhne, die, alt geworden, erkennen, wie sehr sie ihren Vätern ähneln. Eine Losnummer, die sich über ein ganzes Leben legt. Und auch Jacys Weg ist mit dieser Lotterie verbunden.
Richard Russo, eine Generation jünger als John Updike, ist sein legitimer Nachfolger als glänzender Analytiker der weißen amerikanischen Mittelschicht. Sein Personal ist weniger wohlhabend, skeptischer, desillusionierter, aber nicht weniger lebensklug – und seine Klugheit ist vor allem Enttäuschungen abgewonnen. Russos Prosa ist weniger opulent als die Updikes, sie trumpft weniger auf, ist formal konventioneller, sexuell zurückhaltender. Updikes Romane fielen in eine Zeit des Aufbruchs, die Russos fallen in eine, die den Glauben an das eigene Land und dessen Zukunft verloren hat.
„Jenseits der Erwartungen“ springt zwischen Alter und Jugend, zwischen zwei Wochenenden, 1971 und 2015, hin und her. Richard Russo lässt uns diesen Sprung über viereinhalb Jahrzehnte durch die Gedanken Lincolns und Teddys vollziehen, erst zum Schluss, zur Auflösung, tritt Mickey dazu. Russo hat den Roman voller Lücken gelassen, die er im Verlauf füllt, nach und nach, bis das ganze Bild in unserem Kopf da ist. Vieles wickelt er über Dialoge ab, die schon immer seine besondere Stärke waren: Darin mischen sich Kumpelhaftigkeit und Ironie, Insider-Jokes und Renommiererei zu einem Ton, der zuweilen nackte Verzweiflung durchscheinen lässt. Große Literatur.
Richard Russo: Jenseits der Erwartungen. Roman. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont, München 2020. 428 Seiten, 22 Euro.
Ein Wochenende der Erinnerung,
der gepflegten Nostalgie
und der tiefen Verunsicherung
Russos Personal ist skeptischer
als Updikes, weniger wohlhabend,
aber nicht weniger klug
Ähnlich wie John Updike untersucht Richard Russo das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft in den Bildwelten der weißen Mittelschicht: Segelboote vor Martha’s Vineyard.
Foto: Mark Lennihan/AP
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