Klassische Musik gilt gemeinhin als die bürgerlichste aller Künste. Dass sie um 1900 auch im Arbeitermilieu viel gespielt wurde, ist weniger bekannt. Doch Schumann, Brahms und Haydn waren auch in Brauereisälen, Gewerkschaftshäusern und im öffentlichen Raum regelmäßig zu hören. Arbeiterturnvereine boten sie ihren Mitgliedern zur Sonntagsvergnügung, Wahlvereine spielten sie bei Parteitagen, Abendschulen zur Volksbildung und große Orchester, um ihren Kulturvermittlungsauftrag einzulösen. Rechtskonservative wie arbeiterbewegt-linke, religiöse wie politische Kräfte waren sich erstaunlich einig, dass die Verbreitung von klassischer Musik in weniger privilegierten Schichten ein sinnvolles Unterfangen sei. Wiebke Rademacher beleuchtet am Beispiel von Berlin sowohl die konkreten Aufführungskontexte als auch die darunter liegenden Diskurse: Braucht man Mozart für ein gesundes und glückliches Leben? Ist das Bürgertum oder die Arbeiterschaft rechtmäßiger Erbe Beethovens? Muss man Noten lesenkönnen, um Bach zu genießen? Anhand von zahlreichen Originalquellen zeichnet sie nach, wie vielfältig und lebendig das klassische Musikleben jenseits bürgerlicher Konzertsäle im Berlin des Fin de Siècle war.
"Wiebke Rademachers Buch beleuchtet ein spannendes und bisher noch völlig unterbelichtetes Feld von Musikrezeption. Vor allem macht sie klar, welchen hohen Stellenwert klassische Musik im frühen zwanzigsten Jahrhundert auch über die damaligen Standesgrenzen hinweg gehabt haben muss. Dazu ähneln die damaligen Debatten über die Vermittlung von Musik verblüffend denen von heute. Das alles erfährt man als Leserin oder Leser in einer flüssigen und gut nachvollziehbaren Sprache." Jan Ritterstaedt SWR2 Treffpunkt Klassik, 24.8.2023 20230824