Nicht nur für andere leben. Sich trauen. Unverkrampft atmen, wie es im Yoga immer heißt ... Als Sunna Nönnudóttir an einem frostigen, finsteren Dezembermorgen in aller Früh aufsteht, ihren Laptop anwirft und die Nachrichten im Internet liest, ist sie wie gelähmt vor Schock. Dort steht eine Suchmeldung der Polizei von Reykjavík: Arndis Theodorsdóttir, Kunsthistorikerin und Galeriebesitzerin, wird seit drei Tagen vermisst. Es ist keine der üblichen Suchmeldungen, in denen nach dem Verbleib von Touristen geforscht wird, die sich irgendwo auf Island verirrt haben. Und die vermisste Person ist keine Unbekannte für Sunna. Arndis war früher einmal Sunnas beste Freundin. Vor zehn Jahren hatten die beiden jungen Frauen für ein paar Monate zusammen in Barcelona Spanisch studiert. Danach haben sie sich aus den Augen verloren und nie wieder etwas voneinander gehört. Ist Sunnas Freundin einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Ist sie tot? Sunna lässt der Gedanke nicht los, dass in ihrer gemeinsamen Vergangenheit eine Spur sein könnte, die zu ihrer verschwundenen Freundin führt. Sie nimmt die Suche nach ihr auf wodurch ihr Leben, das bislang gekennzeichnet war durch vielfache Ängste und Abhängigkeiten, eine ganz neue Wendung nimmt ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2011Niemand ist keine Insel
Audur Jónsdóttir erzählt vom Alltagsleben in Island
Es ist keine unbekannte, weit abgelegene Insel im nördlichen Atlantik, von der Audur Jónsdóttir in "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt" erzählt. Zwar spielt der Roman der 1973 geborenen Autorin in Island und vorwiegend in der Hauptstadt Reykjavík, aber es ist der heutige Alltag einer berufstätigen Ehefrau, den sie schildert, und der sich so mit seinen Routinen, Sorgen und Turbulenzen in jeder größeren westeuropäischen Stadt zutragen könnte: Der Ehemann ist auf Geschäftsreise, der Kühlschrank leer, das Konto überzogen. Und weil die Geschichte an einem 1. Dezember anfängt, ist der Stress noch höher als sonst, zumal die Hauptperson in einem Verlag arbeitet, der natürlich auf das Weihnachtsgeschäft angewiesen ist. Doch da der Gatte wegen des extremen Winterwetters in den Westfjorden festsitzt, muss sich Sunna allein durch den Schnee und andere, zum Teil völlig unerwartete Unbill kämpfen.
Audur Jónsdóttir schickt sie in einer Mischung aus Selbsterkenntnis-, Entwicklungs- und Kriminalroman in die isländische Kälte wie in die spanische Hitze, in die Vergangenheit wie in die Zukunft und mithin immer tiefer ins eigene Ich. Sunna, ziemlich unbestimmt in ihrem Dasein, wird durch die Umstände gezwungen, grundsätzlich über ihre Identität, ihre Wünsche und Ziele nachzudenken. "Was haben wir eigentlich die ganze Zeit gemacht?", fragt sie sich halbwegs fassungslos, als sie eine oft verschobene häusliche Tätigkeit nachholt, und meint damit mehr, als endlich verschmutzte Küchenschränke zu säubern. Ihre Jugend ist vorbei, doch zum Erwachsensein konnte sie sich bislang nicht durchringen. Alle Tage sind verplant, ohne dass wirklich etwas geschieht, das sie berührt und bewegt. Und nun?
Klar und schnörkellos hat der Deutsch-Isländer Kristof Magnusson diese komische wie beschwerliche Bestandsaufnahme ins Deutsche übertragen. Sie ist im Präsens geschrieben und drückt auch dadurch ihre aktuelle Dringlichkeit aus. Sunna rackert sich mit ihrer mühsam kaschierten Panik ab und will dabei nichts so sehr wie ihr Leben in den Griff kriegen. Die Gelegenheitsübersetzerin, die sich als Mädchen für alles sogar im Vertrieb ihres Verlages durchschlagen muss, wird kurzfristig von drei fremdländisch aussehenden Männern verfolgt, die ihrer besten Studienfreundin Arndís nachspüren, zu der sie allerdings schon seit Jahren keinen Kontakt hat. Ihre Mutter will, dass sie sich politisch engagiert, ihr Arbeitgeber, dass sie mehr Bücher verkauft. Und der Sohn ihres Mannes aus erster Ehe, um den sie sich mitunter kümmern muss, will, dass sie ihn vegetarisch verköstigt, nachdem ihm von den regionaltypischen gebratenen Tiereingeweiden, die sie gern isst, schlecht geworden ist.
Alle zerren an ihr, und es scheint, als wäre es nun höchste Zeit, dass sie tatsächlich und gründlich an sich selbst denkt. Schicht um Schicht konfrontiert Audur Jónsdóttir die junge Frau mit aktuellen Themen von den hohen Lebenshaltungskosten bis zur isländischen Angst vor einer Ausländerschwemme, aber auch mit wesentlichen Stationen ihrer Biographie, der Beziehung zu ihrer alleinerziehenden Mutter, ihrer Flucht vor zu viel mütterlichem Einfluss ins Ausland und dem früher starken Einfluss ihrer Freundin Arndís. Die ermunterte sie zu einem offeneren und freieren Verhalten, das jedoch in ziemlich rücksichtslosem Egoismus mündete.
Als der Roman beginnt, ist Arndís gerade spurlos verschwunden, und die Vermisstenanzeige der Polizei, die Sunna im Internet entdeckt, bringt die Handlung in Gang. Denn nun begibt sie sich mit leicht melancholischer Neugier auf die Suche nach der einstmals Vertrauten und nach ihrer gemeinsamen Jugendzeit. Die nicht überraschende Erfahrung des Verlustes dabei wird sie vielleicht bestärken, als Mensch zu reifen und eigene Entscheidungen zu treffen.
Die verschiedenen Ebenen und Handlungsstränge in "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt" sind klug und unangestrengt verzahnt und ergänzen einander mit gekonnter Nonchalance. Die Geschichte ist geschickt aufgebaut, ohne überkonstruiert zu sein, und so humorvoll wie spannend erzählt. Island liefert hierzu den schön gezeichneten Spielraum, der weder zu exotisch noch zu kontinentaleuropäisch eingemeindet wirkt und in dem sich die Heldin auf dem dünnen Boden dieser geologisch jungen Insel und den wackeligen Konstruktionen ihrer Existenz zu Recht fragt: "Was ist der Unterschied zwischen einem Moment und der Ewigkeit?"
IRENE BAZINGER
Audur Jónsdóttir: "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt". Roman.
Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson. btb-Verlag, Berlin 2011. 283 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Audur Jónsdóttir erzählt vom Alltagsleben in Island
Es ist keine unbekannte, weit abgelegene Insel im nördlichen Atlantik, von der Audur Jónsdóttir in "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt" erzählt. Zwar spielt der Roman der 1973 geborenen Autorin in Island und vorwiegend in der Hauptstadt Reykjavík, aber es ist der heutige Alltag einer berufstätigen Ehefrau, den sie schildert, und der sich so mit seinen Routinen, Sorgen und Turbulenzen in jeder größeren westeuropäischen Stadt zutragen könnte: Der Ehemann ist auf Geschäftsreise, der Kühlschrank leer, das Konto überzogen. Und weil die Geschichte an einem 1. Dezember anfängt, ist der Stress noch höher als sonst, zumal die Hauptperson in einem Verlag arbeitet, der natürlich auf das Weihnachtsgeschäft angewiesen ist. Doch da der Gatte wegen des extremen Winterwetters in den Westfjorden festsitzt, muss sich Sunna allein durch den Schnee und andere, zum Teil völlig unerwartete Unbill kämpfen.
Audur Jónsdóttir schickt sie in einer Mischung aus Selbsterkenntnis-, Entwicklungs- und Kriminalroman in die isländische Kälte wie in die spanische Hitze, in die Vergangenheit wie in die Zukunft und mithin immer tiefer ins eigene Ich. Sunna, ziemlich unbestimmt in ihrem Dasein, wird durch die Umstände gezwungen, grundsätzlich über ihre Identität, ihre Wünsche und Ziele nachzudenken. "Was haben wir eigentlich die ganze Zeit gemacht?", fragt sie sich halbwegs fassungslos, als sie eine oft verschobene häusliche Tätigkeit nachholt, und meint damit mehr, als endlich verschmutzte Küchenschränke zu säubern. Ihre Jugend ist vorbei, doch zum Erwachsensein konnte sie sich bislang nicht durchringen. Alle Tage sind verplant, ohne dass wirklich etwas geschieht, das sie berührt und bewegt. Und nun?
Klar und schnörkellos hat der Deutsch-Isländer Kristof Magnusson diese komische wie beschwerliche Bestandsaufnahme ins Deutsche übertragen. Sie ist im Präsens geschrieben und drückt auch dadurch ihre aktuelle Dringlichkeit aus. Sunna rackert sich mit ihrer mühsam kaschierten Panik ab und will dabei nichts so sehr wie ihr Leben in den Griff kriegen. Die Gelegenheitsübersetzerin, die sich als Mädchen für alles sogar im Vertrieb ihres Verlages durchschlagen muss, wird kurzfristig von drei fremdländisch aussehenden Männern verfolgt, die ihrer besten Studienfreundin Arndís nachspüren, zu der sie allerdings schon seit Jahren keinen Kontakt hat. Ihre Mutter will, dass sie sich politisch engagiert, ihr Arbeitgeber, dass sie mehr Bücher verkauft. Und der Sohn ihres Mannes aus erster Ehe, um den sie sich mitunter kümmern muss, will, dass sie ihn vegetarisch verköstigt, nachdem ihm von den regionaltypischen gebratenen Tiereingeweiden, die sie gern isst, schlecht geworden ist.
Alle zerren an ihr, und es scheint, als wäre es nun höchste Zeit, dass sie tatsächlich und gründlich an sich selbst denkt. Schicht um Schicht konfrontiert Audur Jónsdóttir die junge Frau mit aktuellen Themen von den hohen Lebenshaltungskosten bis zur isländischen Angst vor einer Ausländerschwemme, aber auch mit wesentlichen Stationen ihrer Biographie, der Beziehung zu ihrer alleinerziehenden Mutter, ihrer Flucht vor zu viel mütterlichem Einfluss ins Ausland und dem früher starken Einfluss ihrer Freundin Arndís. Die ermunterte sie zu einem offeneren und freieren Verhalten, das jedoch in ziemlich rücksichtslosem Egoismus mündete.
Als der Roman beginnt, ist Arndís gerade spurlos verschwunden, und die Vermisstenanzeige der Polizei, die Sunna im Internet entdeckt, bringt die Handlung in Gang. Denn nun begibt sie sich mit leicht melancholischer Neugier auf die Suche nach der einstmals Vertrauten und nach ihrer gemeinsamen Jugendzeit. Die nicht überraschende Erfahrung des Verlustes dabei wird sie vielleicht bestärken, als Mensch zu reifen und eigene Entscheidungen zu treffen.
Die verschiedenen Ebenen und Handlungsstränge in "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt" sind klug und unangestrengt verzahnt und ergänzen einander mit gekonnter Nonchalance. Die Geschichte ist geschickt aufgebaut, ohne überkonstruiert zu sein, und so humorvoll wie spannend erzählt. Island liefert hierzu den schön gezeichneten Spielraum, der weder zu exotisch noch zu kontinentaleuropäisch eingemeindet wirkt und in dem sich die Heldin auf dem dünnen Boden dieser geologisch jungen Insel und den wackeligen Konstruktionen ihrer Existenz zu Recht fragt: "Was ist der Unterschied zwischen einem Moment und der Ewigkeit?"
IRENE BAZINGER
Audur Jónsdóttir: "Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt". Roman.
Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson. btb-Verlag, Berlin 2011. 283 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Irene Bazinger hat dieses Buch, das sie für eine Synthese aus "Selbsterkenntnis-, Entwicklungs- und Kriminalroman" hält, gut gefallen. Die Protagonistin, eine in Reykjavik lebende Verlagsangestellte und Ehefrau im Dauerstress, hinterfragt darin mehr und mehr den Sinn ihrer Existenz, wie Bazinger berichtet. Neben den Ansprüchen, die ihr Arbeitgeber, ihre Mutter, ihr Stiefsohn und der Haushalt an sie stellen, werde sie auch noch mit dem Verschwinden einer ehemals guten Freundin und drei mysteriösen Verfolgern konfrontiert. Das Präsens der Erzählform unterstreicht laut Rezensentin die Aktualität dieser "ebenso komischen wie beschwerlichen Bestandsaufnahme". Des Weiteren lobt Bazinger die aus mehreren Ebenen und Erzählsträngen bestehende Architektur der Geschichte, während sie die isländische Kulisse als gelungene Mischung aus Exotik und kontinentaleuropäischer Vertrautheit beschreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH