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In diesem Buch skizziert Anthony Giddens eine radikal-kritische Politik jenseits aller eingefahrenen Denkmuster: Ausgehend von den Begriffen Globalisierung, Enttraditionalisierung und Ungewißheit beleuchtet er die sozialen Revolutionen unserer Zeit, zeigt die Widersprüche konservativer Politik, stellt zwei Theorien der Demokratisierung einander gegenüber und eintwirft ein Programm radikaler Demokratie

Produktbeschreibung
In diesem Buch skizziert Anthony Giddens eine radikal-kritische Politik jenseits aller eingefahrenen Denkmuster: Ausgehend von den Begriffen Globalisierung, Enttraditionalisierung und Ungewißheit beleuchtet er die sozialen Revolutionen unserer Zeit, zeigt die Widersprüche konservativer Politik, stellt zwei Theorien der Demokratisierung einander gegenüber und eintwirft ein Programm radikaler Demokratie
Autorenporträt
Giddens, AnthonyAnthony Giddens, geboren am 18 Januar 1938 in Edmonton, war bis 2003 Direktor der London School of Economics and Political Science und zuvor Professor der Soziologie an der University of Cambridge.

Schulte, JoachimJoachim Schulte ist Autor mehrerer Bücher über Ludwig Wittgenstein und Mitherausgeber der Kritischen Editionen von Wittgensteins Hauptwerken.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Kommt, Kinder, schlüpft aus eurer Haut!
Der Leser nickt beharrlich: Anthony Giddens präsentiert eine altvordere Theorie der Moderne / Von Christian Geyer

Wer ein gutes Buch schreiben will, darf bekanntlich nicht zu kurz, aber auch nicht zu lange über seinem Stoff brüten. In beiden Fällen leiden die Gedanken. Entweder weil sie vor der Reife gepflückt werden oder durch zu häufiges Drehen und Wenden irgendwann aufhören, sich selbst zu trauen. Das Seltsame bei Anthony Giddens' neuem Buch ist, daß man den Eindruck hat, er habe zu kurz und zu lange daran geschrieben. Fünfzehn Jahre seines Lebens sind über dem Werk verflossen. Daß das zu viel ist für ein gutes Buch, leuchtet unmittelbar ein. Daß es andererseits aber auch zu wenig sein könnte, erschließt sich erst bei näherer Lektüre.

Vor uns entfaltet sich eine Theorie der Moderne "jenseits von Links und Rechts". In sie hat Giddens alles mögliche eingebaut, was ihm im Laufe von fünfzehn langen Jahren von Presse, Funk und Fernsehen serviert wurde. Zwischen ins Weite wuchernden - von Dahrendorfscher Prägnanz Denkwelten entfernten - Überlegungen zu Demokratie, Gewalt, Arbeit, Konservativismus, Sozialismus und Wohlfahrtsstaat finden sich beinahe liebevoll gesammelte Splitter des Alltäglichen. Siebzehn Zeilen kreisen um das Problem der Magersucht, sechsundzwanzig Zeilen behandeln die Mississippi-Überschwemmung bei St. Louis im Juli 1993, einunddreißig Zeilen befassen sich mit Aids. Kaum ein Stichwort, das in der Luft liegt und nicht von Giddens durchgehechelt würde. Sein Buch ist insofern gnadenlos aktuell. Doch je länger man liest, desto häufiger sagt man leise "und und und" vor sich hin.

Das liegt daran, daß Giddens' Theorie der Moderne keine kritische und insofern noch nicht einmal eine moderne ist. Er beschreibt dies und das und analysiert nichts. Er registriert, was unübersehbar ist, fügt es aber nicht unter distanzierenden Gesichtspunkten zu Erkenntnissen zusammen. Giddens scheint eine Art demokratischen Vorbehalt gegen jede souveräne Aussage zu hegen. Es ist, als habe er erst überall abstimmen lassen, bevor er ein Kapitel in Satz gab. Der alerte Anspruch, jenseits von Links und Rechts zu denken, entpuppt sich als das dröge Verlangen, jenseits irgendeines Standpunktes zu denken. Es sei denn, man wollte den von Giddens propagierten "utopischen Realismus" als Standpunkt gelten lassen. Dann muß man aber auch - Augen zu und durch - zu der Definition stehen, die in seinem früheren Werk "Konsequenzen der Moderne" nachzulesen ist: Der utopische Realismus zehre, so heißt es da grell optimistisch, von "alternativen Zukunftsverläufen, deren bloße Propagierung zu ihrer Verwirklichung beitragen könnte".

Konsequent im Sinne einer Utopia der Moderne kriegt der Leser die neue alte Welt ab ovo erklärt. Zum Beispiel das Umweltproblem der Moderne: Es ist, so erfährt man in "Jenseits von Links und Rechts", eine Gefahr, "die potentiell jeden betrifft, unabhängig davon, wie oder wo er lebt. Sie resultiert aus Chemikalien, die in der Landwirtschaft und in anderen Bereichen eingesetzt werden oder aus Mülldeponien, Abwässersielen und durch andere Kanäle indirekt in die Umwelt gelangen". Unanstößiger hätte es auch der Brockhaus nicht sagen können.

Solcherlei aufzuspießen entspringt nicht etwa einem bösen Blick auf vereinzelte mißglückte Stellen. Das Buch ist vielmehr gepflastert mit nichtssagenden Richtigkeiten. Man müßte beide Augen zudrücken, um sie zu übersehen. Was sie so unerträglich macht, ist der gewichtige Patriarchenton, mit dem sie uns als Überraschungseier verkauft werden. Der Leser nickt: "Die Bewältigung oder Begrenzung der Gewalt gehört zu den schwierigsten und anspruchsvollsten Problemen unter den menschlichen Dingen." Und nickt: "Geopolitische Rivalitäten werden wahrscheinlich auch weiterhin erhebliches Gewicht haben, und Zerstörungskriege bleiben in vielen Teilen der Welt möglich." Und nickt: "Es mag einige Männer geben, die das Kriegshandwerk genießen, aber für die große Mehrheit gilt das nicht." Am Ende ist er eingenickt.

Die Methode ab ovo ist ihrerseits nur der Reflex von Giddens' essentialistischem Mißverständnis der Moderne. Was für Schopenhauer der Wille ist, für Hegel der Geist, für Freud die Libido, für Dante die Liebe - das ist für Giddens die Moderne: nicht das Gefäß einer Epoche, sondern das Ding an sich, in dem das Menschsein auf neue Beine gestellt wird. Der moderne Mensch macht sich und alles neu. In diesem Credo schwingt die große Verheißung mit, der Mensch könne noch einmal ganz von vorne beginnen, er dürfe aus der eigenen Haut herausschlüpfen und zu neuem Leben erwachen.

Was Giddens übersieht, ist, daß der Mensch der Moderne auch nur ein Mensch ist. Er mag in einer "durch und durch posttraditionalen Gesellschaft" leben. Aber das heißt nicht, daß er in einem traditionsfreien Raum agiert. Er ist möglicherweile bloß anderen Traditionen verhaftet als jenen, die Giddens als die früher üblichen unterstellt. Beinahe trivial ist denn auch die Feststellung: "In einer Zeit einschneidender Enttraditionalisierung müssen sich diejenigen, die an Traditionen festhalten, nach dem Warum fragen." Der Satz sagt: Der moderne Mensch sollte denken, bevor er handelt. Das ist geschenkt. Aber mit welchem Recht spricht er unseren vormodernen Vorfahren das Denken ab? Es ist doch eine ganz unhistorische Vorstellung, daß "die" Menschen der Vormoderne im wesentlichen von Traditionen gelenkte Marionetten gewesen seien, die das, was sie taten, nur deshalb taten, weil man es damals eben so tat - während man heute der kognitive und affektive Herr seiner Lage sei. Unabhängig davon stellt sich die Frage, nach welcher Logik gerade derjenige die Begründungspflicht tragen soll, der an einer Tradition festhält. Wer sie abstreift, steht nicht minder vor der Frage nach dem Warum.

Hinter argumentativen Skurrilitäten wie diesen tritt regelmäßig derselbe methodologische Fehler hervor: die Verwechslung von gesellschaftlicher Struktur und subjektiver Perspektive. Aus der Tatsache, daß die gesellschaftlichen Strukturen beweglicher geworden sind, daß also immer mehr Handlungsalternativen gesellschaftsfähig werden, wird in einem grandiosen Kurzschluß gefolgert, daß die Menschen heute freier als früher seien. Kinder der Moderne sind aber nicht "Kinder der Freiheit", wie der neueste Buchtitel von Ulrich Beck süffig behauptet, sondern allenfalls Kinder des Spielraums. Weil dieser Unterschied verwischt oder gar nicht gesehen wird, sind Theorien der Moderne von Giddens bis Beck heuristisch so unergiebig.

Sie historisieren, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, was als Geschichtliches vom Ungeschichtlichen geschieden werden soll. Ihr Begriff von Moderne ist insofern ohne Trennschärfe. Er monopolisiert Elemente der allgemeinen Handlungstheorie für eine spezielle Epoche. Ein Kennzeichen der Moderne sei, so Giddens, "daß wir wählen müssen, wie und was wir essen wollen". Galt das nicht wahrhaftig auch schon für den Bürger im antiken Rom? Auch wenn er noch nicht vor den Segnungen einer Diätbar gestanden haben mag, konnte er sich doch, wie Uderzo nachwies, nach Herzenslust an der kulinarischen Palette zwischen Hähnchenkeulen und in Auerochsenfett gebratenen Kaldaunen laben.

"In einer sich enttraditionalisierenden Gesellschaft wirkt die Forderung, das Ich als ständigen Prozeß zu entfalten, dringlicher und nötiger als je zuvor." Aus Giddens' Modernebegriff spricht eine vulgärexistentialistische Ich-Mythologie. Der Mensch ist, was er aus sich macht. Sein Sein ist im Kern kein gegebenes, sondern ein zu leistendes. Es steht immer auf dem Spiel. In einem ständigen Sich-selbst-Entwerfen vollzieht es seine creatio continua. Das ist sehr anstrengend und ästhetisch nicht gerade ein Klangerlebnis. Giddens geht es sage und schreibe um "ein reflexives Projekt der Ichwerdung". Da macht es "schepper" im Ohr. Ohne ein Fünkchen Ironie (das ganze Buch ist eine aufreizend humorfreie Zone) denkt er die Moderne als eine "Gesellschaft der gescheiten Leute". In ihr muß nicht nur die Seele, sondern auch "der Leib reflexiv gestaltet werden". Wenn das wenigstens hieße, den Leib baumeln lassen zu dürfen. Vermutlich handelt es sich aber bloß wieder um einen jener Leistungsappelle im Sinne der modernen Askeseformel fit for fun.

Giddens' "utopischer Realismus" entfaltet seine gedankliche Schubkraft in mehreren Schichten: in der Ferne der weiten Welt wie in der Nähe der zwischenmenschlichen Beziehung. Zur Förderung des globalen Wohls plaziert der Soziologe in seine Theorie ein paar locker gefügte Goodwill-Postulate. Nötig sei ein "Pakt zwischen den Geschlechtern", ein "Austausch von Diasporakulturen", ein "Lebensstilabkommen zur Förderung der generativen Gleichheit" sowie eine "Politik der Lebensführung" zur "Schaffung eines radikal-kritischen Nukleus" und zur "Vermehrung des menschlichen Glücks". Das alles mag angehen, weil es wie aus UN-Prospekten abgeschrieben wirkt und einem nicht auf den Leib rückt. So richtig ungemütlich wird es erst, wenn Giddens reflexiv in die Gestaltung der modernen Partnerschaften eingreift. Seine diesbezüglichen Ratschläge wollen dem "neuen Menschen" gerecht werden, stammen aber in Wirklichkeit aus der Kiste der Beziehungsbücher, die seit den siebziger Jahren mit Blumen und Schmetterlingen verziert in allen Preisklassen zu haben sind. Kurz gesagt: Giddens glaubt an den Dialog.

Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit wirbt er für sein Rezept moderner Zweisamkeit: Wollt ihr lieben, lernt zu reden. In diesem Sinne spricht Giddens auch von einer "Demokratisierung der Gefühle" in einem face to face beziehungsstrukturell ausgebauten Diskursraum. Zumindest zum Erhalt des zivilisatorischen Minimums scheint der Dialog Wunder zu wirken: "Im Fall der Männergewalt gegen Frauen steht fest, daß es durch Dialog gelingen kann, dem Clausewitzschen Lehrsatz ein Schnippchen zu schlagen." Besser als auf Clausewitz ist Giddens auf Gadamer zu sprechen. Der gelungene Dialog ist denn auch so etwas wie eine "Horizontverschmelzung im Sinne Gadamers, die sich in der Formel eines Circulus virtuosus formulieren läßt". Ein Circulus im übrigen, der sich in der Moderne "sogar auf die Situation des neugeborenen Säuglings" übertragen läßt. Denn auch der kann mit seinen dialogbereiten Eltern in einer Art "kontrafaktischen Demokratie" zusammenleben. Grundlage der Eltern-Säugling-Beziehung wäre demnach eine dialogisch "ausgehandelte Autorität", ohne daß natürlich der Säugling "imstande wäre, sich in solcher Weise mit seinen Eltern zu verständigen" (deshalb kontrafaktisch!).

Der Vorschlag, in einer Zeit wie der unsrigen gründlicher miteinander zu reden, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Aber Hand aufs Herz: Wer Giddens gelesen hat, findet auch das Schweigen wieder klasse.

Anthony Giddens: "Jenseits von Links und Rechts". Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 340 S., br., 30,- DM.

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