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Kip und Brice sind beste Freunde und beide Söhne von Männern, die in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe mitarbeiten. In den sechziger Jahren trennen sich die Wege der jungen Männer, doch ihr Schicksal bleibt aufs engste verwoben.

Produktbeschreibung
Kip und Brice sind beste Freunde und beide Söhne von Männern, die in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe mitarbeiten. In den sechziger Jahren trennen sich die Wege der jungen Männer, doch ihr Schicksal bleibt aufs engste verwoben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Liebe, Leid und Halbwertzeit
Große Worte aus dem Geigerzähler: Bradford Morrow ist gegen den Atomtod / Von Michael Allmaier

In vielen, vielleicht allen Ländern gibt es Ortsnamen, die für Niederlagen stehen - nicht nur militärische Niederlagen, sondern, schmerzlicher, Niederlagen der Zivilisation gegen die Barbarei. "Los Alamos. Manchmal, um mir selbst Angst einzujagen, flüstere ich diese Worte nachts in mein Kissen. Los Alamos." Nicht jeder deutsche Leser weiß gleich, worum es in Bradford Morrows Roman "Jenseits von Los Alamos" geht. Los Alamos, erbaut 1943 in der Wüste von New Mexico, ist eine Gemeinde mit einer kurzen und nicht einmal bewegten Geschichte. Hier wurde im "Manhattan Project" die Atom- und später auch die Wasserstoffbombe entwickelt.

Die kleine Gemeinde unterlag aller Geheimhaltung, zu der das amerikanische Militär in Kriegszeiten fähig war. Ihre Bürger waren Zivilisten, einige tausend Forscher und Ingenieure mit ihren Familien. Abgeriegelt vom Rest des Landes, gedieh ein dörfliches Idyll ohne Armut oder Kriminalität, behaftet nur mit einem Makel, den man so wenig sah wie die Verstrahlungen im Umland: Jeder, der dort lebte, trug auf irgendeine Weise Verantwortung für die Toten von Hiroshima und Nagasaki.

"Jenseits von Los Alamos" spielt zum größeren Teil diesseits von oder in Los Alamos. Der Sohn eines dort stationierten Physikers erinnert sich an seine Jugend. Damit wir ihm auch glauben, versieht der Verfasser seinen Ich-Erzähler mit einer erschöpfenden Detailkenntnis. Die Quellen dokumentiert eine vierseitige Danksagung am Schluß des Buches. Zeitweilig sieht man William Brice McCarthy, eigentlich Anwalt, gleichsam mit dem Mikrofon in der Hand vor einem Stacheldrahtzaun stehen: "Elche, Rehe, Bären durchstreiften unsere Vegas; Regenbogen-, Bach- und Steinforellen schwammen in unseren Flüssen und Teichen." Aha.

Dennoch handelt es sich hier nicht um einen zeitgeschichtlichen Roman. Der Amerikaner Bradford Morrow erprobt die Idee, daß der Einsatz der Bombe das politische Klima und die Befindlichkeit jedes einzelnen bis in die Gegenwart geprägt habe, wie es andere für das Kennedy-Attentat in Dallas behaupten. Er versucht die Chronik eines amerikanischer Albtraums. Der Albtraum ist allegorisch. Menschen gruppieren sich zueinander wie Atome. Vierzehnjährige spielen mit Murmeln, damit der aufgeweckte Leser an Kernreaktionen denkt.

"Wie Atomteilchen verfügen auch Gefühle über eine Halbwertzeit", heißt es dann. Man weiß, was gemeint ist; doch bezeugen diese schiefen Bilder vor allem das Halbwissen des Literaten, der die Physik nach schicken Theorien durchstöbert. Auch literarisch wird Morrow des Grauens nicht Herr. "Und die Wüste gebar eine feurige Glocke" - davon klingen nur die Ohren. Noch weniger möchte man eine Seite weiter den Atompilz mit einem Penis verglichen finden. Nur selten gelingen dem Verfasser so gute Beobachtungen wie die, daß die Namen der radioaktiven Isotope klingen wie Bücher aus dem Alten Testament.

"Trinity Fields" heißt das Buch im Original. "Trinity" war einer der vielen beschönigenden Codenamen des "Manhattan Project". Robert Oppenheimer hatte ihn für den ersten Atombombentest gewählt in Erinnerung an die dreieinige Gottheit des Hinduismus, die für Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung steht. Auch der Roman ist als Dreiecksgeschichte angelegt. Brice McCarthy schildert seine Jugend im Lichte einer Freundschaft, die 1944 in Los Alamos begann und bis in die Gegenwart reicht.

Sein Freund Kip, der eigentlich auch William heißt, ist die Sorte Freund, die man nicht mit nach Hause bringt - ein unsteter und undurchschaubarer Geist, der mit aller Kraft der falschen Gemütlichkeit der Bombenbauerkolonie zu entfliehen sucht. Beide gelten als schwer erziehbar, weil sie ihre Zeit mit seltsamen, zunehmend gewalttätigen Spielen verbringen, die der Leser als Flagellations- und Reinigungsrituale erkennt. Auch ihrer Freundschaft liegt ein Atommodell zugrunde: Brice das Proton, der positive ruhende Punkt, als Elektron Kip, der als Flieger und ewiger Reisender seinem Drang nach Bewegung folgen wird.

Die Freunde verlieben sich in dieselbe Frau, die man sich wohl als Neutron denken muß. Von Eifersucht entzweit, versuchen sie auf scheinbar gegensätzliche Art, sich für die Sünden ihrer Väter zu opfern. Brice tritt in den militanten Teil der Friedensbewegung ein. Kip meldet sich freiwillig für den Einsatz in Vietnam und später für ein Kommandounternehmen in Laos, wild entschlossen, sein Leben für den Frieden anderer zu riskieren. Beide erkennen schließlich, daß sie nichts anderes tun, als Los Alamos, dessen friedlicher Militanz sie entflohen sind, für sich selbst neu zu erschaffen. Erst im Alter versöhnen sie sich.

Auf der politischen, technischen und privaten Bühne zugleich die Fäden ziehen zu müssen bereitet dem Autor sichtlich Mühe. Wenn es zu schwierig wird, macht er eine Pause, und Brice erklärt, wie alles zusammengehört: "Schuld verhöhnte die Angst, Angst unterhöhlte die Sehnsucht, Sehnsucht bedauerte mein offensichtliches Verlangen, all diese Quälereien zu unterbinden. Wie eine Ladung Schrot stob meine Phantasie in diesen schwindelerregenden Augenblicken . . ."

Bradford Morrow, der auch Schauergeschichten schreibt, scheitert an der verbreiteten Maxime, wonach zum großen Thema auch der große Ton gehört. Die Freunde liefern sich so benannte "Wortgefechte", die leider mit dem Cocktailspieß ausgetragen werden: ",Brice', sagte er. ,Ich liebe dich wie einen Bruder. Und ich liebe auch Jess . . .' Was? dachte ich. ,Aber ich muß gehen.'" Unversehens blickt man in die angespannten, aber leeren Gesichter einer amerikanischen Seifenoper, bekommt es mit Charakteren zu tun, die, wie man in solchen Kreisen sagt, ihr Leben in die Hand nehmen wollen. Immer geht es um Liebe oder Haß, Himmel oder Hölle, Erlösung oder Verdammnis. Darunter tun sie es nicht; und man fragt sich besorgt, was Morrow erst auffahren würde, um die wirklichen Opfer der Bombe zu beklagen.

"Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden." Ein kluger Gedanke, nur stammt er nicht von Bradford Morrow. Friedrich Dürrenmatt hat ihn dreißig Jahre früher einem seiner "Physiker" in den Mund gelegt, nachdem dessen Vision von der Narrenfreiheit des Forschers im Irrenhaus zerbrach. "Jenseits von Los Alamos" begnügt sich mit dem Befund, daß die Erbauer der Atombombe "unschuldige Schuldige" sind.

Morrow beschreitet einen Pfad, der dem deutschen Leser vertraut ist. Er zeigt den letztlich erfolgreichen Versuch, politisches Unrecht psychologisch zu bewältigen. Doch wo man sich hierzulande am liebsten mit den Opfern identifiziert, mag dieser Roman wie viele Vietnam-Aufarbeitungen nur Täterseelen sehen. Amerika, verlangt er, müsse seinen Frieden mit sich selbst machen. Das macht diesen Moralismus selbstgerecht in seiner Selbstbezichtigung: Los Alamos und Long Tien als Parabel von Schuld und Sühne.

Bradford Morrow: "Jenseits von Los Alamos". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Lüdemann. Berlin Verlag, Berlin 1996. 483 S., geb., 48,- DM.

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