Mit »Jenseits« wagt sich der Autor und Filmemacher Werner Fritsch tief in die Seelenlandschaft eines Mannes, den die Unterwelt zeitlebens in Bann gezogen hat und jenseits von Gut und Böse, jenseits von Wirklichkeit und Halluzination, vielleicht schon jenseits seines eigenen Körpers befindet sich Wolfram Sexmachine Kühn, der verdächtigt wird, seine Ehefrau Cora, Mutter seines Sohnes Felix, umgebracht zu haben. Bevor ihn die Polizei stellt, wird er von jemandem, der sich hinter einer Karnevals-Hitlermaske verbirgt und ihm einen Revolver an den Kopf hält, bedroht. Wer aber ist der Mann hinter der Maske? Ist es Klostermeyer, der ehemalige Zuhälter Coras, in dessen Bett ihr toter Körper gefunden wurde? Oder einer von Klostermeyers Killern? Oder der Maler Johannes, der Cora kurz vor ihrem Tod gemalt hat? In Wolframs Kopf jedenfalls läuft wie im Zeitraffer sein Leben ab - der vielleicht 'letzte Film'.
»Jenseits« ist: eine radikale Prosa, in der ein Mann in Sekunden des Entstetzens reflektiert, was ihm bleibend erinnerlich ist, und es dominieren: Bilder von Sex und Gewalt. »Jenseits« ist: eine rauhe Prosa mit einem ''metaphysischen Glutkern''.
»Jenseits« ist: eine radikale Prosa, in der ein Mann in Sekunden des Entstetzens reflektiert, was ihm bleibend erinnerlich ist, und es dominieren: Bilder von Sex und Gewalt. »Jenseits« ist: eine rauhe Prosa mit einem ''metaphysischen Glutkern''.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2000Die Pistole an der Schläfe
Wie man einen Helden baut: Werner Fritsch hält sich an das Teilchen-Programm · Von Martin Ebel
Die Szene ist nicht mehr zu steigern, deshalb wird sie bis zum Schluß auch nicht mehr verändert. Der Ich-Erzähler, Wolfram "Sexmaschine" Kühn, befindet sich im Schlafzimmer des Zuhälters Klostermeyer, der über ein elektrisch wippendes Bett verfügt. Auf diesem liegt Kühns Ex-Frau Cora, eine Prostituierte, ermordet, mit abgeschnittenen Brüsten. Ebenfalls im Raum: eine Person, die ihr Gesicht hinter einer Hitler-Maske verbirgt und Kühn mit einer Pistole bedroht. Kurz davor, erschossen zu werden, läßt der Ich-Erzähler sein Leben Revue passieren, wie man das halt vor dem Tode zu tun pflegt. Und aus diesem "Film" - auch das Bild ist bei dergleichen Situationen obligatorisch - kann sich der Leser die Schlußszene zusammensetzen, jene, die wir eingangs zusammengefaßt haben.
Dieses Revue-Leben ist natürlich ein einziges Elend. Der Vater in Stalingrad fast verhungert ("garantiert Kameradenfleisch gefressen") und nie darüber hinweggekommen, die Mutter Alkoholikerin, die am Grab des Mannes diesen anfleht, sie zu holen; im Oberpfälzer Heimatort ein Pfarrer, der den Kindern "die Auferstehung unter unseren schwarzen Chorröcken" zeigt: Daraus kann nichts Gutes wachsen. Dem jungen Wolfram werden die Flausen und philosophischen Kinderfragen ("Bin ich jetzt überhaupt ist das alles rings um mich überhaupt Wirklichkeit") ausgetrieben. Maler will er werden, Metzger wird er und verbringt seine Tage zwischen Blut und Fleisch, Gedärmen und Ekel.
Irgendwie gerät er ins Bordellmilieu und im NATIONAL an die Cora mit den Wunderbrüsten ("der Cora ihre Paradiesfrücht für die nehm ich eiskalt die Hölle in Kauf"). Er macht sie ihrem Zuhälter abspenstig, zur Ehefrau und Mutter eines Sohnes. Ersatz für die verlorene Einkommensquelle besorgt er dem Klostermeyer aus Thailand: Das ist die Marylin. Mit der fängt er was an. Bei ihren Brüsten wurde zwar künstlich nachgeholfen, dafür weiß sie ihre Kunden damit auf eine besondere Weise zu bedienen.
Das paßt der Cora nicht, und sie setzt durch anonyme Briefe ein Abschiebungsverfahren für Marylin in Gang. Nun ist der Motivknoten geschürzt, müßten die Kommissare Leitmayer und Batic in Aktion treten, aber wir sind nicht im "Tatort", sondern in einem Prosa-Stück von Werner Fritsch. Der pflegt mit Fleiß die Sprachtechniken der Avantgarde, auch wenn die Rost angesetzt haben (oder Patina).
Wolfram "Sexmaschine" Kühn liefert uns zwar ein zusammenhängendes Persönlichkeitsbild, aber nur Teilchen für Teilchen und versehen mit dem Hinweis, das Puzzle nicht zu komplettieren: "bin ja zusammengesetzt aus sovielen Menschen wie ein Fernseher wo alle Programme gleichzeitig laufen". Warum nicht gleich eine multiple Persönlichkeit? Ach nein - allzu gut paßt hier alles zusammen, fein säuberlich ausgedacht und montiert: die dörfliche Enge, der unüberwundene Faschismus, katholische Bildungsfetzen und jene Sentimentalitäten, die das Gegenstück zur vertrauten Hurenromantik darstellen ("meine erste große Liebe war platonisch").
Eine Pistole an der Schläfe, die große Liebe tot und verstümmelt zu Füßen: Darauf kann die Antwort nur "Filmriß" lauten. Den kündigt Fritsch wortstark an, läßt Kühns Lebensfilm aber wacker durch den Projektor rattern, zwar syntaktisch etwas stakkatohaft und mit dann und wann gesetzten Da-capo-Signalen ("Druck ab Druck ab Druck ab"), leider auch ein paar Kalauern (Sauzeug-Saugzeug). Im Grunde ist Fritsch hier ein spätes Opfer des Inneren Monologes geworden, jener Form, die vor 73 Jahren die Aporien dieser Erzählhaltung analysiert und die unbeholfenen Versuche seiner Zeitgenossen verulkt: Was die trieben, hieße "den abgeschossenen Pfeil vom Boden aufheben und ihn seine Laufbahn mit erhobenen Händen noch einmal entlang tragen. Seht, so ist er geflogen. Aber er ist eben geflogen, und dies hier ist eine Karikatur".
Bei Werner Fritsch räsoniert der Held, als habe ihm der Killer aufgetragen, in aller Ruhe seine Lebensbilanz zu ziehen. Er tut es, mit den Accessoires moderner Prosa verfremdet, aber hübsch der Reihe nach und mit einer Dramaturgie, die jedem Krimi-Drehbuch zur Ehre gereichte. Sogar einen veritablen Coup de théâtre bekommt der Zuschauer zu guter Letzt geboten. So ist schließlich alles in Ordnung.
Werner Fritsch: "Jenseits". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 72 S., br., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man einen Helden baut: Werner Fritsch hält sich an das Teilchen-Programm · Von Martin Ebel
Die Szene ist nicht mehr zu steigern, deshalb wird sie bis zum Schluß auch nicht mehr verändert. Der Ich-Erzähler, Wolfram "Sexmaschine" Kühn, befindet sich im Schlafzimmer des Zuhälters Klostermeyer, der über ein elektrisch wippendes Bett verfügt. Auf diesem liegt Kühns Ex-Frau Cora, eine Prostituierte, ermordet, mit abgeschnittenen Brüsten. Ebenfalls im Raum: eine Person, die ihr Gesicht hinter einer Hitler-Maske verbirgt und Kühn mit einer Pistole bedroht. Kurz davor, erschossen zu werden, läßt der Ich-Erzähler sein Leben Revue passieren, wie man das halt vor dem Tode zu tun pflegt. Und aus diesem "Film" - auch das Bild ist bei dergleichen Situationen obligatorisch - kann sich der Leser die Schlußszene zusammensetzen, jene, die wir eingangs zusammengefaßt haben.
Dieses Revue-Leben ist natürlich ein einziges Elend. Der Vater in Stalingrad fast verhungert ("garantiert Kameradenfleisch gefressen") und nie darüber hinweggekommen, die Mutter Alkoholikerin, die am Grab des Mannes diesen anfleht, sie zu holen; im Oberpfälzer Heimatort ein Pfarrer, der den Kindern "die Auferstehung unter unseren schwarzen Chorröcken" zeigt: Daraus kann nichts Gutes wachsen. Dem jungen Wolfram werden die Flausen und philosophischen Kinderfragen ("Bin ich jetzt überhaupt ist das alles rings um mich überhaupt Wirklichkeit") ausgetrieben. Maler will er werden, Metzger wird er und verbringt seine Tage zwischen Blut und Fleisch, Gedärmen und Ekel.
Irgendwie gerät er ins Bordellmilieu und im NATIONAL an die Cora mit den Wunderbrüsten ("der Cora ihre Paradiesfrücht für die nehm ich eiskalt die Hölle in Kauf"). Er macht sie ihrem Zuhälter abspenstig, zur Ehefrau und Mutter eines Sohnes. Ersatz für die verlorene Einkommensquelle besorgt er dem Klostermeyer aus Thailand: Das ist die Marylin. Mit der fängt er was an. Bei ihren Brüsten wurde zwar künstlich nachgeholfen, dafür weiß sie ihre Kunden damit auf eine besondere Weise zu bedienen.
Das paßt der Cora nicht, und sie setzt durch anonyme Briefe ein Abschiebungsverfahren für Marylin in Gang. Nun ist der Motivknoten geschürzt, müßten die Kommissare Leitmayer und Batic in Aktion treten, aber wir sind nicht im "Tatort", sondern in einem Prosa-Stück von Werner Fritsch. Der pflegt mit Fleiß die Sprachtechniken der Avantgarde, auch wenn die Rost angesetzt haben (oder Patina).
Wolfram "Sexmaschine" Kühn liefert uns zwar ein zusammenhängendes Persönlichkeitsbild, aber nur Teilchen für Teilchen und versehen mit dem Hinweis, das Puzzle nicht zu komplettieren: "bin ja zusammengesetzt aus sovielen Menschen wie ein Fernseher wo alle Programme gleichzeitig laufen". Warum nicht gleich eine multiple Persönlichkeit? Ach nein - allzu gut paßt hier alles zusammen, fein säuberlich ausgedacht und montiert: die dörfliche Enge, der unüberwundene Faschismus, katholische Bildungsfetzen und jene Sentimentalitäten, die das Gegenstück zur vertrauten Hurenromantik darstellen ("meine erste große Liebe war platonisch").
Eine Pistole an der Schläfe, die große Liebe tot und verstümmelt zu Füßen: Darauf kann die Antwort nur "Filmriß" lauten. Den kündigt Fritsch wortstark an, läßt Kühns Lebensfilm aber wacker durch den Projektor rattern, zwar syntaktisch etwas stakkatohaft und mit dann und wann gesetzten Da-capo-Signalen ("Druck ab Druck ab Druck ab"), leider auch ein paar Kalauern (Sauzeug-Saugzeug). Im Grunde ist Fritsch hier ein spätes Opfer des Inneren Monologes geworden, jener Form, die vor 73 Jahren die Aporien dieser Erzählhaltung analysiert und die unbeholfenen Versuche seiner Zeitgenossen verulkt: Was die trieben, hieße "den abgeschossenen Pfeil vom Boden aufheben und ihn seine Laufbahn mit erhobenen Händen noch einmal entlang tragen. Seht, so ist er geflogen. Aber er ist eben geflogen, und dies hier ist eine Karikatur".
Bei Werner Fritsch räsoniert der Held, als habe ihm der Killer aufgetragen, in aller Ruhe seine Lebensbilanz zu ziehen. Er tut es, mit den Accessoires moderner Prosa verfremdet, aber hübsch der Reihe nach und mit einer Dramaturgie, die jedem Krimi-Drehbuch zur Ehre gereichte. Sogar einen veritablen Coup de théâtre bekommt der Zuschauer zu guter Letzt geboten. So ist schließlich alles in Ordnung.
Werner Fritsch: "Jenseits". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 72 S., br., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Martin Ebel sieht in der Erzählung Mittel der Avantgarde bemüht, die aber schon etwas angegraut seien. Der Plot sei dramaturgisch so in Szene gesetzt, dass er jedem Krimi-Drehbuch zur Ehre gereichen würde. Doch für ein literarisches Werk sei alles zu wohlgefügt, "allzu gut passt hier alles zusammen". Den Rezensenten stören absehbare Erklärungen und das ordentliche Abwickeln der Geschehnisse. Zudem bemängelt er die Form des inneren Monologs, die zur Karikatur gerate. Und wenn der Autor auch mit Macht die Zutaten der modernen Prosa bemühe, sei seine Geschichte einfach zu ordentlich, um wirklich zu überraschen, so der Rezensent kritisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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