Ein außergewöhnliches Leben zwischen Israel und Deutschland Seine Eltern lernten sich am Bauhaus in Dessau kennen und flohen 1935 nach Palästina, in der verzweifelten Hoffnung, einst in die Heimat zurückzukehren. Tom Segev, 1945 in Jerusalem geboren, verlor den Vater im ersten arabisch-israelischen Krieg. Er und seine Mutter blieben daraufhin in Israel, doch sein deutsches Erbe sollte Segev nicht mehr loslassen. Seit nunmehr über 50 Jahren gehört der Publizist und Historiker zu den aufmerksamsten und klügsten Beobachtern der deutsch-israelischen Geschichte, seine Bücher, allen voran "Die siebte Million", machten ihn international bekannt. Streitbar und leidenschaftlich, mit Ironie und Wärme erzählt Tom Segev sein Leben, vom Karrierebeginn in Jerusalem bis zum Ende der DDR, von seinen Begegnungen mit Markus Wolf und Nelson Mandela, Fidel Castro, Mutter Teresa und Hannah Arendt, Willy Brandt und Günter Grass. Bewegend beschreibt er, wie er sich auf der Suche nach dem Verständnis der deutschen Identität auch mit den historischen Lasten Israels konfrontiert sah, und wie er sein Glück schließlich in Äthiopien fand. Segev ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der dabei indes auch heiklen und umstrittenen Themen nicht ausweicht. Ein überragendes Zeitzeugnis voller Optimismus - und ein großes Lesevergnügen. Mit zahlreichen Abbildungen und einem neuen Nachwort des Autors. Ausstattung: Mit zahlreichen Abbildungen
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Jens Schneider empfiehlt die Erinnerungen des israelischen Historikers und Journalisten Tom Segev. Dass Segev mit seinen Bekanntschaften von Teddy Kollek bis Hannah Arendt nicht prahlt, sondern von ihnen ohne Eitelkeit berichtet, wenngleich eindringlich und farbig, findet Schneider bemerkenswert. Lehrreich scheint ihm der Umgang des Autors mit der eigenen Erinnerung, der gegenüber er stets Skepsis bewahrt, wie Schneider feststellt. Als "leidenschaftlicher Sucher und Erzähler" von Geschichten begegnet ihm Segev in diesem Buch und als mutiger Zweifler, der die Hoffnung nicht aufgibt, wenn er als junger Mann Deutschland bereist und unerschütterliche Nazis interviewt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2023Wenn Gedächtnis auf Realität trifft
Die Geschichte einer Familie seit dem frühen 20. Jahrhundert - in Deutschland und Israel
Man müsse entweder verrückt oder Zionist sein, um sich im Land Israel niederzulassen. So soll Großvater Emils Reaktion gelautet haben, als er zusammen mit seiner Frau in das damalige Palästina gereist war. Der Berliner Unternehmer spielte mit dem Gedanken, seine Damenhutfabrik in die Levante zu transferieren. Die Nationalsozialisten würden die deutsche Wirtschaft ruinieren, das war die Befürchtung Emil Schwerins, eines in Kattowitz geborenen jüdischen Deutschen. Vor Ort ließ er die Idee jedoch offenbar rasch wieder fallen und fuhr "mit dem erstbesten Schiff" zurück in die Heimat: in "Hitlers Berlin".
Seine Hoffnung, dort werde sich schon alles irgendwie regeln, die Nazis seien eine vorübergehende Erscheinung, ging aber nicht in Erfüllung. 1938 verkaufte Schwerin die Fabrik unter Druck, und kurz vor der Pogromnacht floh das Ehepaar nach Portugal. Schließlich landeten sie doch wieder in Palästina, wohin mittlerweile ihr Sohn Heinz mit seiner Frau ausgewandert war. Auch Heinz und Ricarda Schwerin fremdelten. Ricarda berichtete einer Freundin in ihrem ersten Brief, es gebe "viel geschrei, viel dreck und gestank und viele araber, die wirklich so angezogen sind wie auf den bildern in 1000 und eine nacht". Immerhin sei Tel Aviv "eine saubere, fast europäische stadt, nette moderne häuser, viele vergnügte junge menschen und gute geschäfte, in denen es alles zu ganz annehmbaren preisen zu kaufen gibt".
Dieser Brief, der ihm während der Recherchen zu seiner Familiengeschichte in die Hände gefallen sei, habe ihn überrascht, schreibt Tom Segev. Denn er selbst - der Enkel des Hutunternehmers Emil und Sohn von Heinz und Ricarda Schwerin - sei mit anderen Geschichten aufgewachsen. In einem späteren Brief schrieb sie, wer hier Geschäfte machen wolle, solle "auf jeden fall wegbleiben. die griechen betrügen die araber, die araber die juden und die sich selber. das ist nicht etwa ein antisemitischer witz, sondern tatsache."
Tom Segev hat ein sehr persönliches Buch vorgelegt, das auf verschiedenen Ebenen interessant ist. Der linksliberale israelische Journalist und Historiker ist auch in Deutschland bekannt, vor allem als Autor umfangreicher Bücher zur Geschichte Israels und Palästinas im 20. Jahrhundert. Darin zeichnet er beeindruckende Zeitpanoramen. Segev arbeitet viel mit autobiographischen Quellen: Briefen, Tagebüchern, Aufzeichnungen. In "Jerusalem Ecke Berlin" tut er das ebenfalls - da es um die eigene Lebensgeschichte geht, kommen jedoch die eigenen Erinnerungen hinzu. Und auf einmal beginnt manches zu verschwimmen. Schon die erste Anekdote des Buchs erweist sich als zweifelhaft: Hatte der acht Jahre alte Thomas tatsächlich Anfang der 1950er Jahre im Niemandsland zwischen Ost- und Westjerusalem versehentlich die Teilungslinie überquert und war auf die jordanische Seite gelangt, weil er und ein Freund einem Esel nachliefen? Sein Gedächtnis sagt es ihm so - in einem damaligen Zeitungsbericht steht es aber etwas anders - und sein Freund Avremale hat den Vorfall Jahre später nochmals anders in Erinnerung.
Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung zieht sich als roter Faden durch die "Erinnerungen". Immer wieder stellt Segev vermeintlich selbst Erlebtes infrage, aber auch Berichte etwa seiner Mutter werden kritisch durchleuchtet. So entfaltet er die Geschichte seiner Familie seit dem frühen 20. Jahrhundert. Deutsch-jüdische Biographien zwischen Weimarer Republik, NS-Herrschaft und dem zionistischen Aufbauwerk in Palästina sind oft per se eine interessante Lektüre. Im Fall Segevs ist vor allem die Mutter Ricarda eine faszinierende Figur. Die Eltern, beide kommunistisch gesinnt, hatten sich am Bauhaus kennengelernt. Sie war eine talentierte Fotografin - ein bekanntes Porträt Hannah Arendts stammt von ihr. In Jerusalem fühlte Ricarda, die keine Jüdin war, sich lange Zeit fremd. Segev gelingt es gut, die Perspektive vieler aus Deutschland geflohener Einwanderer einzufangen, die mit dem Zionismus nicht viel am Hut hatten oder sich aus anderen Gründen als Außenseiter sahen. Auch sein Vater Heinz: Nach dem Kriegsende schrieb er an einen Freund in Berlin, sie wollten zurückkehren.
Wie so viele blieben sie aber im jungen Israel. Heinz starb bald - auch das ein Vorfall, dessen Details sich in der Rückschau als unklar erweisen. Das zwiespältige Verhältnis zum jüdischen Staat setzte sich im Leben des Sohns Thomas fort. Zu Hause, mit der Mutter, sprach er Deutsch, auf der Straße meist Hebräisch. Wie nicht wenige hebräisierte er später seinen Nachnamen, um israelischer zu werden: Aus Thomas Schwerin wurde Tom Segev. Früh entwickelte er Interesse am Journalismus, an Zeitgeschichte - und, während des Eichmann-Prozesses, an den Einstellungen führender Nationalsozialisten. Darüber sollte er später in Deutschland forschen und promoviert werden.
Das Verhältnis zwischen Deutschen, Israel, Nationalsozialismus und Judentum bildet den zweiten Schwerpunkt, um den das Buch kreist. Während seiner Zeit als Deutschlandkorrespondent der Zeitung "Maariv" in den 1970er Jahren habe er gefunden, dass das Leben der Deutschen mit ihrer Vergangenheit "auch viele Jahre nach Kriegsende immer noch die wesentliche Geschichte war", schreibt Segev. "Die Vergangenheit stand im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte bei ihnen, bildete den Kern ihrer Identität." Später begann er sich auch für die Bedeutung der Schoah in Israel zu interessieren. Zu einer Reise von Schülern zu den Vernichtungslagern in Polen, die er begleitete, notiert Segev, das Erziehungsministerium "wollte die Schüler zu einer national-religiösen Katharsis bringen, verbunden mit dem wiederholten Schwur, den Staat Israel und seine Streitkräfte stets zu verteidigen, da die Seelen der Toten dies befahlen". Dies habe die veränderte Einstellung der Israelis zum Holocaust und zu sich selbst gezeigt: "Der Traum vom 'neuen Juden', den der Zionismus im Land Israel einst schaffen wollte, war mit der Zeit verblasst; die Israelis entdeckten sich als Juden."
Gegenüber diesen Ausführungen fällt der damit verschränkte journalistische Werdegang Segevs etwas ab. Ungeachtet unterhaltsamer Schilderungen etwa von Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, David Ben-Gurion oder Helmut Schmidt fehlt es bisweilen an Stringenz. So kommt auch die zutiefst persönliche Wendung, die das Buch im letzten Fünftel nimmt, recht überraschend - aber das war sie auch für Segev selbst. Der distanzierte Chronist, den ein ehemaliger Mitschüler schon als Kind als "verletzend bissig und zynisch" in Erinnerung hatte, wird auf ungewöhnliche Weise Vater. Als Segev Jahre später seinen Sohn einmal fragt, ob er nicht im Ausland leben wolle, erwidert dieser, er wolle "nie mehr ein Immigrant sein. 'Deine Eltern waren Immigranten. Das hat dein ganzes Leben beeinflusst und ist dir noch heute anzumerken.'" Segev stimmt zu, kommt aber zu dem Schluss, auch seine "begrenzte Zugehörigkeit" sei einer der Gründe dafür, dass er an Israel mehr liebt als ihm missfällt. CHRISTIAN MEIER
Tom Segev: "Jerusalem Ecke Berlin". Erinnerungen.
Siedler Verlag, München 2022. 416 S., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Geschichte einer Familie seit dem frühen 20. Jahrhundert - in Deutschland und Israel
Man müsse entweder verrückt oder Zionist sein, um sich im Land Israel niederzulassen. So soll Großvater Emils Reaktion gelautet haben, als er zusammen mit seiner Frau in das damalige Palästina gereist war. Der Berliner Unternehmer spielte mit dem Gedanken, seine Damenhutfabrik in die Levante zu transferieren. Die Nationalsozialisten würden die deutsche Wirtschaft ruinieren, das war die Befürchtung Emil Schwerins, eines in Kattowitz geborenen jüdischen Deutschen. Vor Ort ließ er die Idee jedoch offenbar rasch wieder fallen und fuhr "mit dem erstbesten Schiff" zurück in die Heimat: in "Hitlers Berlin".
Seine Hoffnung, dort werde sich schon alles irgendwie regeln, die Nazis seien eine vorübergehende Erscheinung, ging aber nicht in Erfüllung. 1938 verkaufte Schwerin die Fabrik unter Druck, und kurz vor der Pogromnacht floh das Ehepaar nach Portugal. Schließlich landeten sie doch wieder in Palästina, wohin mittlerweile ihr Sohn Heinz mit seiner Frau ausgewandert war. Auch Heinz und Ricarda Schwerin fremdelten. Ricarda berichtete einer Freundin in ihrem ersten Brief, es gebe "viel geschrei, viel dreck und gestank und viele araber, die wirklich so angezogen sind wie auf den bildern in 1000 und eine nacht". Immerhin sei Tel Aviv "eine saubere, fast europäische stadt, nette moderne häuser, viele vergnügte junge menschen und gute geschäfte, in denen es alles zu ganz annehmbaren preisen zu kaufen gibt".
Dieser Brief, der ihm während der Recherchen zu seiner Familiengeschichte in die Hände gefallen sei, habe ihn überrascht, schreibt Tom Segev. Denn er selbst - der Enkel des Hutunternehmers Emil und Sohn von Heinz und Ricarda Schwerin - sei mit anderen Geschichten aufgewachsen. In einem späteren Brief schrieb sie, wer hier Geschäfte machen wolle, solle "auf jeden fall wegbleiben. die griechen betrügen die araber, die araber die juden und die sich selber. das ist nicht etwa ein antisemitischer witz, sondern tatsache."
Tom Segev hat ein sehr persönliches Buch vorgelegt, das auf verschiedenen Ebenen interessant ist. Der linksliberale israelische Journalist und Historiker ist auch in Deutschland bekannt, vor allem als Autor umfangreicher Bücher zur Geschichte Israels und Palästinas im 20. Jahrhundert. Darin zeichnet er beeindruckende Zeitpanoramen. Segev arbeitet viel mit autobiographischen Quellen: Briefen, Tagebüchern, Aufzeichnungen. In "Jerusalem Ecke Berlin" tut er das ebenfalls - da es um die eigene Lebensgeschichte geht, kommen jedoch die eigenen Erinnerungen hinzu. Und auf einmal beginnt manches zu verschwimmen. Schon die erste Anekdote des Buchs erweist sich als zweifelhaft: Hatte der acht Jahre alte Thomas tatsächlich Anfang der 1950er Jahre im Niemandsland zwischen Ost- und Westjerusalem versehentlich die Teilungslinie überquert und war auf die jordanische Seite gelangt, weil er und ein Freund einem Esel nachliefen? Sein Gedächtnis sagt es ihm so - in einem damaligen Zeitungsbericht steht es aber etwas anders - und sein Freund Avremale hat den Vorfall Jahre später nochmals anders in Erinnerung.
Die Unzuverlässigkeit der Erinnerung zieht sich als roter Faden durch die "Erinnerungen". Immer wieder stellt Segev vermeintlich selbst Erlebtes infrage, aber auch Berichte etwa seiner Mutter werden kritisch durchleuchtet. So entfaltet er die Geschichte seiner Familie seit dem frühen 20. Jahrhundert. Deutsch-jüdische Biographien zwischen Weimarer Republik, NS-Herrschaft und dem zionistischen Aufbauwerk in Palästina sind oft per se eine interessante Lektüre. Im Fall Segevs ist vor allem die Mutter Ricarda eine faszinierende Figur. Die Eltern, beide kommunistisch gesinnt, hatten sich am Bauhaus kennengelernt. Sie war eine talentierte Fotografin - ein bekanntes Porträt Hannah Arendts stammt von ihr. In Jerusalem fühlte Ricarda, die keine Jüdin war, sich lange Zeit fremd. Segev gelingt es gut, die Perspektive vieler aus Deutschland geflohener Einwanderer einzufangen, die mit dem Zionismus nicht viel am Hut hatten oder sich aus anderen Gründen als Außenseiter sahen. Auch sein Vater Heinz: Nach dem Kriegsende schrieb er an einen Freund in Berlin, sie wollten zurückkehren.
Wie so viele blieben sie aber im jungen Israel. Heinz starb bald - auch das ein Vorfall, dessen Details sich in der Rückschau als unklar erweisen. Das zwiespältige Verhältnis zum jüdischen Staat setzte sich im Leben des Sohns Thomas fort. Zu Hause, mit der Mutter, sprach er Deutsch, auf der Straße meist Hebräisch. Wie nicht wenige hebräisierte er später seinen Nachnamen, um israelischer zu werden: Aus Thomas Schwerin wurde Tom Segev. Früh entwickelte er Interesse am Journalismus, an Zeitgeschichte - und, während des Eichmann-Prozesses, an den Einstellungen führender Nationalsozialisten. Darüber sollte er später in Deutschland forschen und promoviert werden.
Das Verhältnis zwischen Deutschen, Israel, Nationalsozialismus und Judentum bildet den zweiten Schwerpunkt, um den das Buch kreist. Während seiner Zeit als Deutschlandkorrespondent der Zeitung "Maariv" in den 1970er Jahren habe er gefunden, dass das Leben der Deutschen mit ihrer Vergangenheit "auch viele Jahre nach Kriegsende immer noch die wesentliche Geschichte war", schreibt Segev. "Die Vergangenheit stand im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte bei ihnen, bildete den Kern ihrer Identität." Später begann er sich auch für die Bedeutung der Schoah in Israel zu interessieren. Zu einer Reise von Schülern zu den Vernichtungslagern in Polen, die er begleitete, notiert Segev, das Erziehungsministerium "wollte die Schüler zu einer national-religiösen Katharsis bringen, verbunden mit dem wiederholten Schwur, den Staat Israel und seine Streitkräfte stets zu verteidigen, da die Seelen der Toten dies befahlen". Dies habe die veränderte Einstellung der Israelis zum Holocaust und zu sich selbst gezeigt: "Der Traum vom 'neuen Juden', den der Zionismus im Land Israel einst schaffen wollte, war mit der Zeit verblasst; die Israelis entdeckten sich als Juden."
Gegenüber diesen Ausführungen fällt der damit verschränkte journalistische Werdegang Segevs etwas ab. Ungeachtet unterhaltsamer Schilderungen etwa von Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, David Ben-Gurion oder Helmut Schmidt fehlt es bisweilen an Stringenz. So kommt auch die zutiefst persönliche Wendung, die das Buch im letzten Fünftel nimmt, recht überraschend - aber das war sie auch für Segev selbst. Der distanzierte Chronist, den ein ehemaliger Mitschüler schon als Kind als "verletzend bissig und zynisch" in Erinnerung hatte, wird auf ungewöhnliche Weise Vater. Als Segev Jahre später seinen Sohn einmal fragt, ob er nicht im Ausland leben wolle, erwidert dieser, er wolle "nie mehr ein Immigrant sein. 'Deine Eltern waren Immigranten. Das hat dein ganzes Leben beeinflusst und ist dir noch heute anzumerken.'" Segev stimmt zu, kommt aber zu dem Schluss, auch seine "begrenzte Zugehörigkeit" sei einer der Gründe dafür, dass er an Israel mehr liebt als ihm missfällt. CHRISTIAN MEIER
Tom Segev: "Jerusalem Ecke Berlin". Erinnerungen.
Siedler Verlag, München 2022. 416 S., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2023Ein ewig Fragender
Der israelische Historiker Tom Segev hat seine Memoiren geschrieben, die auch ein lebenskluges Buch über die Untiefen des Erinnerns geworden sind
Es gibt Momente, da kann ein einziger Satz wie die Antwort auf eine tausendfach gestellte traurige Frage wirken. Der Historiker und Journalist Tom Segev ist im Jahr 1945 in Jerusalem als Kind junger Deutscher zur Welt gekommen, die vor dem nationalsozialistischen Terror nach Palästina flohen. Die Eltern seines jüdischen Vaters verließen Deutschland erst spät. Sein Großvater Emil konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass die Nazis lange an der Macht bleiben und ihre mörderischen Ideen durchsetzen könnten. In seinen Erinnerungen lernt der Leser den Autor Tom Segev als einen ewig Fragenden kennen, dessen Neugier dazu dient, die schwierige, rätselhafte Welt ein wenig besser zu verstehen. Er sucht die Antworten bei den Menschen und ihren Geschichten.
„Ich konnte niemals verstehen, warum meine Großeltern so lange blieben“, schreibt er. Das sei kein überhebliches Befremden gewesen; wer weiß, wie er an ihr an ihrer Stelle gehandelt hätte. Aber trotzdem: Wie konnten sie dort ausharren? Segev berichtet, wie er als junger Mensch genau das Josef Burg fragte, auch er war fast bis zum letzten Moment in Deutschland geblieben, später 30 Jahre lang Minister in israelischen Regierungen. Warum ging er nicht früher? Anstelle einer Antwort diktierte Burg dem Journalisten die Nummer des Telefonanschlusses in seinem Elternhaus in Dresden. Er vergewisserte sich, dass Segev jede Ziffer richtig notiert hatte, als könnte man dort noch anrufen und fragen, ob er zu Hause sei.
Es ist eine der Notizen aus den Erinnerungen von Tom Segev, die sich dem Leser einprägt, gerade weil er sie ohne weiteren Kommentar erzählt. Sie wirkt für sich, wie so viele Episoden in diesem so famosen wie lehrreichen Buch, das gerade deshalb so lehrreich ist, weil der Autor nicht belehren oder große Momente seines Lebens zur Schau stellen will. Segev zählt zu den renommiertesten israelischen Journalisten und hat einige viel beachtete historische Bücher verfasst, Werke wie „Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“ aus dem Jahr 1995. Dazu zählte auch eine Biografie von Ben Gurion.
Segev hat ihn getroffen, wie auch Hannah Arendt, die er über seine Mutter näher kennenlernte. Von den Begegnungen erzählt er eindrücklich, aber das macht dieses Buch nicht aus. Wo andere ihre Autobiografie auch mit Hilfe der Prominenz anderer zum Spiegel ihrer Eitelkeit machen, beginnt der feine Unterschied bei Segev damit, dass er bewusst keine Autobiografie verfasst hat. Ausdrücklich spricht er von Erinnerungen. Was bedeutet, dass er keine Botschaften verkünden will und weiß, wie wenig Gewissheit es gibt, gerade wenn es ums Erinnern und Erzählen geht. Am Anfang bekennt er sich zu der grundsätzlichen Erfahrung, dass Erinnerungen, seine oder die für ihn wichtiger Menschen, ungenau oder falsch sein können.
Zu spüren ist ein lebenskluges Misstrauen gegen sich selbst und andere, das den Ton des Buchs prägt mit so wunderbaren Sätzen wie: „Es hätte so gewesen sein können, war es aber nicht“, ob es nun um eine Erinnerung seines Großvaters geht, oder um eine eigene.
Segev ist ein leidenschaftlicher Sucher und Erzähler von Geschichten, hat aber eine heikle Neigung bei sich im Umgang mit Geschichten entdeckt: Je tiefer sie in sein Gedächtnis dringen, desto farbiger werden sie, einfach immer besser. Schöner, interessanter, abenteuerlicher. Das kann auf Kosten der Wahrhaftigkeit gehen; viele Geschichtenerzähler dürften sich darin wiedererkennen. Segev zieht aus diesem Wissen den Schluss, dass es immer eine gute Idee ist, an Erinnerungen zu zweifeln. Manche gute Story sei an seiner destruktiven Skepsis gescheitert, schreibt er.
Die Skepsis ist auch in seiner Familiengeschichte angelegt. Sein Vater starb in Jerusalem als Soldat, als Segev ein kleiner Junge war. Er lernte ihn nie kennen und wuchs damit auf, ihn als Helden zu betrachten, wie er schreibt. Über den Tod des Vaters wurde eine Geschichte erzählt, einem Mythos gleich. Fälschlich wurde behauptet, der Vater sei durch eine Kugel getötet worden. Erst durch die Memoiren seiner Schwester erfuhr Segev mit fast 17 Jahren, dass er mit einer Lüge aufgewachsen war. Er hatte das Gefühl, ein Leben lang eigentlich jemand anders gewesen zu sein.
Er führt den Leser anschaulich in die Welt europäischer Einwanderer im jungen Staat Israel. Als junger Erwachsener reist er nach Deutschland, arbeitet als Zeitungskorrespondent und recherchiert für seine Doktorarbeit im Berlin Document Center in Personalakten von SS-Männern. Bald entschließt er sich, frühere Kommandanten von Konzentrationslagern zu suchen. Er promoviert mit einer Arbeit über ehemalige KZ-Kommandanten. Zu seinen Erinnerungen gehört auch der Besuch bei der Witwe des letzten Kommandanten von Auschwitz-Birkenau und Bergen Belsen, der nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Treu und unerschüttert hatte sie sich ein herzensgutes Bild ihres Mannes bewahrt. Machen solche Interviews Sinn? Segev fragte sich das bei jedem dieser Gespräche, die oft unter bizarren Umständen stattfanden. Sie seien, schreibt er, die schwerste Aufgabe, die er je auf sich genommen hat.
Insbesondere seine Begegnungen mit Prominenten schildert Segev wohltuend aus einer von Zweifeln geprägten Halbdistanz, etwa die Zeit mit Teddy Kollek, dem längst legendären Bürgermeister von Jerusalem, für den er eine Zeit lang arbeitete. Imponierend wirkt seine Neugier auf Menschen, die Offenheit für Zufallsbekanntschaften, die er dann journalistisch und bald als Gefährte begleitet. Als etwa ein junger Araber bei ihm Zuflucht und Hilfe sucht, den viele andere wohl fortgeschickt hätten, unterstützt er ihn – und lernt dabei viel über das schwierige Leben des jungen Mannes im aktuellen Israel.
Ganz am Ende gibt es eine wunderbare Geschichte der Hoffnung, die ihm seinen Sohn Itayu bringt (und später auch noch Enkel, eine wunderbare Erzählung für sich in diesem Buch). Eine Hoffnung, die von immer größerer Sorge überschattet ist angesichts der Situation im Nahost-Konflikt, den er zunehmend hilflos und voller Pessimismus wahrnimmt. Er tröstet sich mit der Skepsis gegen sich selbst. Schon seit einigen Jahren wisse er überhaupt nicht mehr, wie diese Auseinandersetzung gelöst werden könne. Als Trost bleibe ihm bloß, dass seine Vorhersagen sich noch nie bewahrheitet haben.
JENS SCHNEIDER
Auch bei sich selbst beobachtete Tom Segev eine heikle Neigung: Je tiefer Geschichten in sein Gedächtnis dringen, desto farbiger werden sie.
Foto: Stephan Rumpf
Tom Segev: Jerusalem Ecke Berlin – Erinnerungen. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Siedler Verlag, München 2022.
410 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der israelische Historiker Tom Segev hat seine Memoiren geschrieben, die auch ein lebenskluges Buch über die Untiefen des Erinnerns geworden sind
Es gibt Momente, da kann ein einziger Satz wie die Antwort auf eine tausendfach gestellte traurige Frage wirken. Der Historiker und Journalist Tom Segev ist im Jahr 1945 in Jerusalem als Kind junger Deutscher zur Welt gekommen, die vor dem nationalsozialistischen Terror nach Palästina flohen. Die Eltern seines jüdischen Vaters verließen Deutschland erst spät. Sein Großvater Emil konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass die Nazis lange an der Macht bleiben und ihre mörderischen Ideen durchsetzen könnten. In seinen Erinnerungen lernt der Leser den Autor Tom Segev als einen ewig Fragenden kennen, dessen Neugier dazu dient, die schwierige, rätselhafte Welt ein wenig besser zu verstehen. Er sucht die Antworten bei den Menschen und ihren Geschichten.
„Ich konnte niemals verstehen, warum meine Großeltern so lange blieben“, schreibt er. Das sei kein überhebliches Befremden gewesen; wer weiß, wie er an ihr an ihrer Stelle gehandelt hätte. Aber trotzdem: Wie konnten sie dort ausharren? Segev berichtet, wie er als junger Mensch genau das Josef Burg fragte, auch er war fast bis zum letzten Moment in Deutschland geblieben, später 30 Jahre lang Minister in israelischen Regierungen. Warum ging er nicht früher? Anstelle einer Antwort diktierte Burg dem Journalisten die Nummer des Telefonanschlusses in seinem Elternhaus in Dresden. Er vergewisserte sich, dass Segev jede Ziffer richtig notiert hatte, als könnte man dort noch anrufen und fragen, ob er zu Hause sei.
Es ist eine der Notizen aus den Erinnerungen von Tom Segev, die sich dem Leser einprägt, gerade weil er sie ohne weiteren Kommentar erzählt. Sie wirkt für sich, wie so viele Episoden in diesem so famosen wie lehrreichen Buch, das gerade deshalb so lehrreich ist, weil der Autor nicht belehren oder große Momente seines Lebens zur Schau stellen will. Segev zählt zu den renommiertesten israelischen Journalisten und hat einige viel beachtete historische Bücher verfasst, Werke wie „Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung“ aus dem Jahr 1995. Dazu zählte auch eine Biografie von Ben Gurion.
Segev hat ihn getroffen, wie auch Hannah Arendt, die er über seine Mutter näher kennenlernte. Von den Begegnungen erzählt er eindrücklich, aber das macht dieses Buch nicht aus. Wo andere ihre Autobiografie auch mit Hilfe der Prominenz anderer zum Spiegel ihrer Eitelkeit machen, beginnt der feine Unterschied bei Segev damit, dass er bewusst keine Autobiografie verfasst hat. Ausdrücklich spricht er von Erinnerungen. Was bedeutet, dass er keine Botschaften verkünden will und weiß, wie wenig Gewissheit es gibt, gerade wenn es ums Erinnern und Erzählen geht. Am Anfang bekennt er sich zu der grundsätzlichen Erfahrung, dass Erinnerungen, seine oder die für ihn wichtiger Menschen, ungenau oder falsch sein können.
Zu spüren ist ein lebenskluges Misstrauen gegen sich selbst und andere, das den Ton des Buchs prägt mit so wunderbaren Sätzen wie: „Es hätte so gewesen sein können, war es aber nicht“, ob es nun um eine Erinnerung seines Großvaters geht, oder um eine eigene.
Segev ist ein leidenschaftlicher Sucher und Erzähler von Geschichten, hat aber eine heikle Neigung bei sich im Umgang mit Geschichten entdeckt: Je tiefer sie in sein Gedächtnis dringen, desto farbiger werden sie, einfach immer besser. Schöner, interessanter, abenteuerlicher. Das kann auf Kosten der Wahrhaftigkeit gehen; viele Geschichtenerzähler dürften sich darin wiedererkennen. Segev zieht aus diesem Wissen den Schluss, dass es immer eine gute Idee ist, an Erinnerungen zu zweifeln. Manche gute Story sei an seiner destruktiven Skepsis gescheitert, schreibt er.
Die Skepsis ist auch in seiner Familiengeschichte angelegt. Sein Vater starb in Jerusalem als Soldat, als Segev ein kleiner Junge war. Er lernte ihn nie kennen und wuchs damit auf, ihn als Helden zu betrachten, wie er schreibt. Über den Tod des Vaters wurde eine Geschichte erzählt, einem Mythos gleich. Fälschlich wurde behauptet, der Vater sei durch eine Kugel getötet worden. Erst durch die Memoiren seiner Schwester erfuhr Segev mit fast 17 Jahren, dass er mit einer Lüge aufgewachsen war. Er hatte das Gefühl, ein Leben lang eigentlich jemand anders gewesen zu sein.
Er führt den Leser anschaulich in die Welt europäischer Einwanderer im jungen Staat Israel. Als junger Erwachsener reist er nach Deutschland, arbeitet als Zeitungskorrespondent und recherchiert für seine Doktorarbeit im Berlin Document Center in Personalakten von SS-Männern. Bald entschließt er sich, frühere Kommandanten von Konzentrationslagern zu suchen. Er promoviert mit einer Arbeit über ehemalige KZ-Kommandanten. Zu seinen Erinnerungen gehört auch der Besuch bei der Witwe des letzten Kommandanten von Auschwitz-Birkenau und Bergen Belsen, der nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Treu und unerschüttert hatte sie sich ein herzensgutes Bild ihres Mannes bewahrt. Machen solche Interviews Sinn? Segev fragte sich das bei jedem dieser Gespräche, die oft unter bizarren Umständen stattfanden. Sie seien, schreibt er, die schwerste Aufgabe, die er je auf sich genommen hat.
Insbesondere seine Begegnungen mit Prominenten schildert Segev wohltuend aus einer von Zweifeln geprägten Halbdistanz, etwa die Zeit mit Teddy Kollek, dem längst legendären Bürgermeister von Jerusalem, für den er eine Zeit lang arbeitete. Imponierend wirkt seine Neugier auf Menschen, die Offenheit für Zufallsbekanntschaften, die er dann journalistisch und bald als Gefährte begleitet. Als etwa ein junger Araber bei ihm Zuflucht und Hilfe sucht, den viele andere wohl fortgeschickt hätten, unterstützt er ihn – und lernt dabei viel über das schwierige Leben des jungen Mannes im aktuellen Israel.
Ganz am Ende gibt es eine wunderbare Geschichte der Hoffnung, die ihm seinen Sohn Itayu bringt (und später auch noch Enkel, eine wunderbare Erzählung für sich in diesem Buch). Eine Hoffnung, die von immer größerer Sorge überschattet ist angesichts der Situation im Nahost-Konflikt, den er zunehmend hilflos und voller Pessimismus wahrnimmt. Er tröstet sich mit der Skepsis gegen sich selbst. Schon seit einigen Jahren wisse er überhaupt nicht mehr, wie diese Auseinandersetzung gelöst werden könne. Als Trost bleibe ihm bloß, dass seine Vorhersagen sich noch nie bewahrheitet haben.
JENS SCHNEIDER
Auch bei sich selbst beobachtete Tom Segev eine heikle Neigung: Je tiefer Geschichten in sein Gedächtnis dringen, desto farbiger werden sie.
Foto: Stephan Rumpf
Tom Segev: Jerusalem Ecke Berlin – Erinnerungen. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Siedler Verlag, München 2022.
410 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Ein Buch voller Schmerz und Dankbarkeit, geschrieben mit Weisheit und Witz.« Deutschlandfunk Kultur