Die Brügger Jerusalemkapelle ist nicht nur ein ausgezeichnet erhaltenes, sondern auch ungewöhnlich gut dokumentiertes Beispiel spätmittelalterlicher Pilgerfrömmigkeit. Anselm und Jan Adornes, zwei wohlhabende Brügger Patrizier absolvierten im Jahr 1471 eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, von der sie
nicht nur (Berührungs)reliquien mitbrachten, sondern auch eine klare Vorstellung der Heiligen Stätten,…mehrDie Brügger Jerusalemkapelle ist nicht nur ein ausgezeichnet erhaltenes, sondern auch ungewöhnlich gut dokumentiertes Beispiel spätmittelalterlicher Pilgerfrömmigkeit. Anselm und Jan Adornes, zwei wohlhabende Brügger Patrizier absolvierten im Jahr 1471 eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, von der sie nicht nur (Berührungs)reliquien mitbrachten, sondern auch eine klare Vorstellung der Heiligen Stätten, deren Andenken und „Heiligkeit“ sie durch den Umbau der bereits vorher existierenden Jerusalemkapelle in ihr privates Umfeld holten. Ab 1483 sind umfangreiche Quellen zur Baugeschichte erhalten, die es ermöglichen, Bauabschnitte genau zu datieren und den weitgehend unveränderten Zustand belegen.
„Jerusalem-Transformationen“ betrachtet das außergewöhnliche Bauwerk vor dem Hintergrund der damaligen Rezeption und Intention und bringt es in Verbindung mit anderen Beispielen nachgebauter und nachempfundener Kopien der Heiligen Stätten der Zeit um 1500. Es werden zum einen direkte materielle Vergleiche mit den Originalstätten gezogen, angefangen bei der Raumgeometrie und -gestaltung, bis hin zu den verwendeten Baumaterialien, die nicht selten selber eine Referenz darstellen. Die Übertragung (oder Transformation) der Aura des Ortes, verstärkt durch die Präsenz des Heiligen mithilfe von kostbar inszenierten Jerusalem-Reliquien, ermöglichte dem Gläubigen eine physische Begegnung, ohne selber auf Pilgerreise gehen zu müssen. Die Autorin hat auch noch weitere Beispiele gefunden, wie z. B. die Heilig-Grab-Anlage in Görlitz, deren Positionen der nachgebauten Andachtsstätten tatsächlich genau den Abständen in der Grabeskirche in Jerusalem entsprechen („Ähnlichkeitsreliquien“). Auch in Brügge gibt es viele maßstabsgetreue „Kopien“, bis hin zur Lichtführung von Fensteröffnungen oder abgesenkten Türstöcken, die an das Heilige Grab in der Grabeskirche erinnern. Auch das große Kalvarienberg-Relief enthält zahlreiche Zitate und Referenzen, die die Autorin entschlüsselt.
Der zweite Abschnitt behandelt die Rezeption und Nutzung der Kapelle in der Zeit um 1500. Von der Selbstinszenierung der Stifter bis hin zur Gestaltung der Liturgie und der Einbindung des angeschlossenen Witwenstifts gibt es Aspekte, die für die unterschiedlichen Besucher und Nutzer von Bedeutung waren. Nadine Mai beschreibt dies als „soziale Metapher Jerusalem“, die sich ebenfalls in der Architektur reflektiert.
Der letzte Hauptabschnitt untersucht die Jerusalemrezeption zwischen der abstrakten Gemeinschaft Gottes und der Stadt (Brügge) und ihrer Stadtgemeinschaft als überformtes Abbild Jerusalems. Auch hier gibt es Referenzen in der Jerusalemkapelle selbst zu entdecken, von denen einige jedoch nur noch in historischen Zeichnungen des Innenraums erhalten sind. Nadine Mai bezeichnet die Stadt als „Ereignisraum Jerusalem“, indem sie sakrale und profane Architektur in Beziehung zu den heiligen Orten setzt. Insofern löst sie die bisher von der Forschung als Privatkapelle betrachtete Jerusalemkapelle aus ihrer isolierten Position und verortet sie in einem gesamtstädtischen Kontext, dessen übergeordnete Klammer die eigene städtische Vergangenheit und die Jerusalemtradition sein soll.
Quellenarbeit und ausgewählte Illustrationen sind ausführlich und geben einen umfassenden Eindruck, selbst wenn man die beschriebenen Orte nicht aus eigener Anschauung kennt. Nadine Mai neigt allerdings sehr zu ausufernd repetitiven Passagen, die das Gesamtbild eher verschleiern als erhellen und sie nutzt jede Gelegenheit, einen einfachen Sachverhalt in komplizierte Worte zu fassen. Aus meiner Erfahrung ist das ein Zeichen, dass man entweder darüber hinwegtäuschen möchte, dass die eigene Theorie sehr gewagt ist, oder man ist selbst nicht ganz überzeugt von ihr. Einige von Mais Ansätzen waren für mich anschaulich nachvollziehbar, gut belegt, aber nicht neu (der Kapellenraum als erlebbare Transformation der heiligen Städten), die Übertragung auf die ganze Stadt Brügge und ihre städtische Gesellschaft