Eigentlich ist alles bestens. Jessica sieht gut aus, ist jung und intelligent, ein Muster der Generation Golf Zwei. Eigentlich sollte sie nur mit vielen one night stands experimentieren, die sie dann am nächsten Tag mit ihren Freundinnen bespricht. Doch dann erfährt sie die Politik am eigenen Leib und aus "Sex and the City" wird ein C-movie und der Neoliberalismus erotisiert auf Dauer auch nicht. Aber Jessica hat Gegenstrategien: Sie beschließt, ihren Körper zu privatisieren, und lässt die Täter nicht stillschweigend davonkommen.
Jessica Somner - 30 Jahre alt, Kulturwissenschaftlerin, Single - ist die hinreißende Heldin dieser Geschichte, die man sich zur Freundin wünscht. Ihr innerer Monolog ein irrwitzig literarisches Abenteuer von Marlene Streeruwitz.
Jessica Somner - 30 Jahre alt, Kulturwissenschaftlerin, Single - ist die hinreißende Heldin dieser Geschichte, die man sich zur Freundin wünscht. Ihr innerer Monolog ein irrwitzig literarisches Abenteuer von Marlene Streeruwitz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2004Die Rache des Schokobechers
Jetzt mach aber mal ein Komma: Marlene Streeruwitz kämpft weiter
Für Marlene Streeruwitz ist der "vollständige Satz eine Lüge". Also hat sie einen gewissen Ehrgeiz darin entwickelt, mit Hilfe des Punktes Halbsätze und einzelne Wörter aus dem Satzgefüge herauszutrennen, um die Sprache des Patriarchats in ein subversives "Stakkato" zu überführen: "Und. Überhaupt. Stop." Auch ihr neuer Roman trägt das Markenzeichen der österreichischen Autorin zwar wie gewohnt im Titel, kommt dann aber überraschenderweise über weite Strecken fast nur mit dem Komma aus. "Jessica, 30." besteht aus drei Kapiteln, und jedes Kapitel besteht nur aus einem einzigen, langen Satz.
Am Anfang ist diese atemlose Erzählweise schlicht der schweißtreibenden Ausgangssituation geschuldet. Die Journalistin Jessica Somner beginnt das neue Jahr mit einem Dauerlauf: "Alles wird gut, ich muss nur die Praterhauptallee hinauf- und hinunterrennen und dann ist wieder alles gut, dann kann ich das Schokoeis von heute Nacht und das Essen von Weihnachten vergessen", quält sie sich durch den kalten Januarmorgen, vor Augen die "absolute Grenze" der Konfektionsgröße 38. Gleichzeitig denkt sie über eine neue Serie zum Thema Sex nach, die sie der Chefredakteurin ihrer Frauenzeitschrift vorschlagen möchte. "Nicht in dem Ton wie Cosmopolitan, glamouröses Onanieren, das wissen wir jetzt alle", findet Jessica. Sie möchte sich statt dessen lieber wieder den Grundlagen des Beischlafs widmen und "einfach nur beschreiben wie in den Kochbüchern mit den Zeichnungen".
Jessica Somner, dreißig Jahre alt und promovierte Kulturwissenschaftlerin, ist sicherlich keine Feministin. Sie fühlt sich durchaus wohl in der "Tussenriege" ihrer Kolleginnen, und zur Not "würde sie sich auch einen größeren Busen kaufen". So porträtiert die dreiundfünfzigjährige Marlene Streeruwitz die Erzählerin in diesem ersten von drei langen Monologen ihres Romans zunächst einmal als leicht naive Vertreterin der "Post-Brigitte-Generation", für die die Wahl der richtigen Körperlotion genauso wichtig sein kann wie die Frage, ob man "in zwei Minuten kommen kann" oder nicht. Doch dann führt ein verhängnisvoller Flirt mit der Politik dazu, daß Jessica aus der Solidargemeinschaft der jungen, attraktiven und mehr oder weniger erfolgreichen Geschlechtsgenossinnen ausbricht. Schluß mit lustig.
Um diesen radikalen Bewußtseinswandel zu beschreiben, hat Marlene Streeruwitz einen sehr konkreten zeitlichen Hintergrund für ihren Roman gewählt. Die Handlung setzt im Januar 2003 ein, als die ÖVP in Wien unter Vorsitz des amtierenden Kanzlers Wolfgang Schüssel nach den Neuwahlen gerade mit den österreichischen Grünen über eine Regierungsbildung verhandelt. Mit am Verhandlungstisch sitzt der (hoffentlich frei erfundene) Staatssekretär Gerhard Hollitzer, den Jessica beim "ersten Kanzlerheurigen vom Wolferl" kennengelernt hat - und der seitdem ihr Liebhaber ist. Nun werden die Nächte mit dem "stöhnenden Politiker" allerdings von Mal zu Mal weniger aufregend, und weil der Herr Staatssekretär natürlich nicht daran denkt, seine Frau zu verlassen, will Jessica ihn verlassen, "und das geht ja". Doch dann beginnt sie nach einem letzten, demütigenden blow job, bei dem Hollitzer routiniert einen Anruf seiner Frau auf dem Handy entgegennimmt, mit Recherchen.
Es ist gar nicht nett, was sie herausfindet. Die Mitglieder der Regierungskommission zum "Projekt Zukunft 2020", zu der eben auch Gerhard Hollitzer gehört, haben sich nämlich nach ihren aufreibenden Sitzungen nicht nur Champagner, sondern auch osteuropäische Prostituierte auf Staatskosten in eine Hotelsuite kommen lassen. Endlich versteht man auch die Bemerkung im ersten Kapitel, daß Jessicas eigentliches Thema die "Globalisierung im Sex" sein müßte: Ihr ehemaliger Geliebter erweist sich als Symbolfigur für die "neoliberale Verachtung", mit der die Männer im 21. Jahrhundert ihr Recht behaupten, in wen auch immer "den Schwanz hineinstecken zu können". Aus dem privatem Frust der jungen Frau wird deshalb ein geschlechterpolitischer Rachefeldzug.
Der Plot um Politiker, die sich auf ihre Art um die europäische "Ost-Erweiterung" bemühen, ist bitter, aber gelungen - und wenn man an den Fall Michel Friedman denkt, wohl leider auch nicht allzu weit hergeholt. Der Wandel der Erzählerin jedoch, die sich von einer ambitionierten Lifestylejournalistin mit einem Faible für mitternächtliche Eiscreme-Orgien zur radikalen Frauenbeauftragten der Generation Golf aufschwingt, ist schwer nachzuvollziehen. Er liegt wohl vor allem in den sicherlich ehrbaren Absichten der Autorin begründet, die hier eine Romanfigur verbissen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien will. Zumindest steigert sich Jessica in dem letzten ihrer drei Monologe in einen antipatriarchalischen Furor hinein, der nun, im April 2003, unter anderem auch George W. Bush und den gerade begonnenen Irak-Krieg zum Thema hat. Der amerikanische Feldzug, erfährt man zum Beispiel, sei nichts als eine Rache der Männer für das zeitgemäße System des "double dating, wo jeder gleich erfährt, wenn einer den Schwanz nicht hochkriegt". Das Bombardement Bagdads liefere somit vor allem eine "Entlastung vom nächtlichen Funktionierenmüssen im Bett". Auch da verleihen die aktuellen Enthüllungen aus dem Irak der Romanthese eine gewisse Plausibilität.
Wenn die Welt beziehungsweise die Männerwelt tatsächlich so einfachen Regeln folgte, bestünde wohl auch eine begründete Hoffnung darauf, die überkommenen Machtstrukturen doch noch mit den Mitteln einer radikalen Interpunktion aufbrechen zu können. Wirklich bewundern muß man Marlene Streeruwitz auf jeden Fall für die Konsequenz, mit der sie diesen wirklich anstrengenden und zuletzt recht verbiesterten Roman einfach abrupt enden läßt, und zwar mitten im Satz. Mit drei Punkten statt einem. Der Kampf geht weiter ...
KOLJA MENSING
Marlene Streeruwitz: "Jessica, 30.". Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2004. 254 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jetzt mach aber mal ein Komma: Marlene Streeruwitz kämpft weiter
Für Marlene Streeruwitz ist der "vollständige Satz eine Lüge". Also hat sie einen gewissen Ehrgeiz darin entwickelt, mit Hilfe des Punktes Halbsätze und einzelne Wörter aus dem Satzgefüge herauszutrennen, um die Sprache des Patriarchats in ein subversives "Stakkato" zu überführen: "Und. Überhaupt. Stop." Auch ihr neuer Roman trägt das Markenzeichen der österreichischen Autorin zwar wie gewohnt im Titel, kommt dann aber überraschenderweise über weite Strecken fast nur mit dem Komma aus. "Jessica, 30." besteht aus drei Kapiteln, und jedes Kapitel besteht nur aus einem einzigen, langen Satz.
Am Anfang ist diese atemlose Erzählweise schlicht der schweißtreibenden Ausgangssituation geschuldet. Die Journalistin Jessica Somner beginnt das neue Jahr mit einem Dauerlauf: "Alles wird gut, ich muss nur die Praterhauptallee hinauf- und hinunterrennen und dann ist wieder alles gut, dann kann ich das Schokoeis von heute Nacht und das Essen von Weihnachten vergessen", quält sie sich durch den kalten Januarmorgen, vor Augen die "absolute Grenze" der Konfektionsgröße 38. Gleichzeitig denkt sie über eine neue Serie zum Thema Sex nach, die sie der Chefredakteurin ihrer Frauenzeitschrift vorschlagen möchte. "Nicht in dem Ton wie Cosmopolitan, glamouröses Onanieren, das wissen wir jetzt alle", findet Jessica. Sie möchte sich statt dessen lieber wieder den Grundlagen des Beischlafs widmen und "einfach nur beschreiben wie in den Kochbüchern mit den Zeichnungen".
Jessica Somner, dreißig Jahre alt und promovierte Kulturwissenschaftlerin, ist sicherlich keine Feministin. Sie fühlt sich durchaus wohl in der "Tussenriege" ihrer Kolleginnen, und zur Not "würde sie sich auch einen größeren Busen kaufen". So porträtiert die dreiundfünfzigjährige Marlene Streeruwitz die Erzählerin in diesem ersten von drei langen Monologen ihres Romans zunächst einmal als leicht naive Vertreterin der "Post-Brigitte-Generation", für die die Wahl der richtigen Körperlotion genauso wichtig sein kann wie die Frage, ob man "in zwei Minuten kommen kann" oder nicht. Doch dann führt ein verhängnisvoller Flirt mit der Politik dazu, daß Jessica aus der Solidargemeinschaft der jungen, attraktiven und mehr oder weniger erfolgreichen Geschlechtsgenossinnen ausbricht. Schluß mit lustig.
Um diesen radikalen Bewußtseinswandel zu beschreiben, hat Marlene Streeruwitz einen sehr konkreten zeitlichen Hintergrund für ihren Roman gewählt. Die Handlung setzt im Januar 2003 ein, als die ÖVP in Wien unter Vorsitz des amtierenden Kanzlers Wolfgang Schüssel nach den Neuwahlen gerade mit den österreichischen Grünen über eine Regierungsbildung verhandelt. Mit am Verhandlungstisch sitzt der (hoffentlich frei erfundene) Staatssekretär Gerhard Hollitzer, den Jessica beim "ersten Kanzlerheurigen vom Wolferl" kennengelernt hat - und der seitdem ihr Liebhaber ist. Nun werden die Nächte mit dem "stöhnenden Politiker" allerdings von Mal zu Mal weniger aufregend, und weil der Herr Staatssekretär natürlich nicht daran denkt, seine Frau zu verlassen, will Jessica ihn verlassen, "und das geht ja". Doch dann beginnt sie nach einem letzten, demütigenden blow job, bei dem Hollitzer routiniert einen Anruf seiner Frau auf dem Handy entgegennimmt, mit Recherchen.
Es ist gar nicht nett, was sie herausfindet. Die Mitglieder der Regierungskommission zum "Projekt Zukunft 2020", zu der eben auch Gerhard Hollitzer gehört, haben sich nämlich nach ihren aufreibenden Sitzungen nicht nur Champagner, sondern auch osteuropäische Prostituierte auf Staatskosten in eine Hotelsuite kommen lassen. Endlich versteht man auch die Bemerkung im ersten Kapitel, daß Jessicas eigentliches Thema die "Globalisierung im Sex" sein müßte: Ihr ehemaliger Geliebter erweist sich als Symbolfigur für die "neoliberale Verachtung", mit der die Männer im 21. Jahrhundert ihr Recht behaupten, in wen auch immer "den Schwanz hineinstecken zu können". Aus dem privatem Frust der jungen Frau wird deshalb ein geschlechterpolitischer Rachefeldzug.
Der Plot um Politiker, die sich auf ihre Art um die europäische "Ost-Erweiterung" bemühen, ist bitter, aber gelungen - und wenn man an den Fall Michel Friedman denkt, wohl leider auch nicht allzu weit hergeholt. Der Wandel der Erzählerin jedoch, die sich von einer ambitionierten Lifestylejournalistin mit einem Faible für mitternächtliche Eiscreme-Orgien zur radikalen Frauenbeauftragten der Generation Golf aufschwingt, ist schwer nachzuvollziehen. Er liegt wohl vor allem in den sicherlich ehrbaren Absichten der Autorin begründet, die hier eine Romanfigur verbissen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien will. Zumindest steigert sich Jessica in dem letzten ihrer drei Monologe in einen antipatriarchalischen Furor hinein, der nun, im April 2003, unter anderem auch George W. Bush und den gerade begonnenen Irak-Krieg zum Thema hat. Der amerikanische Feldzug, erfährt man zum Beispiel, sei nichts als eine Rache der Männer für das zeitgemäße System des "double dating, wo jeder gleich erfährt, wenn einer den Schwanz nicht hochkriegt". Das Bombardement Bagdads liefere somit vor allem eine "Entlastung vom nächtlichen Funktionierenmüssen im Bett". Auch da verleihen die aktuellen Enthüllungen aus dem Irak der Romanthese eine gewisse Plausibilität.
Wenn die Welt beziehungsweise die Männerwelt tatsächlich so einfachen Regeln folgte, bestünde wohl auch eine begründete Hoffnung darauf, die überkommenen Machtstrukturen doch noch mit den Mitteln einer radikalen Interpunktion aufbrechen zu können. Wirklich bewundern muß man Marlene Streeruwitz auf jeden Fall für die Konsequenz, mit der sie diesen wirklich anstrengenden und zuletzt recht verbiesterten Roman einfach abrupt enden läßt, und zwar mitten im Satz. Mit drei Punkten statt einem. Der Kampf geht weiter ...
KOLJA MENSING
Marlene Streeruwitz: "Jessica, 30.". Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2004. 254 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Leopold Federmair bezeichnet Marlene Streeruwitz etwas abfällig als "fünfzigjährige Feministin, die zahllose Themen und Personen der österreichischen Tagespolitik durchhechelt", und lässt auch sonst kaum ein gutes Haar an ihrem Roman. Das Satzstakkato der früheren Bücher ist zwar verschwunden, nicht aber das "Gestammel und Gerede". mit dem Streeruwitz, so Federmair, die "Wirkungen trivialer Muster der Literatur... transparent zu machen beansprucht". Lesen möchte der Rezensent das allerdings nicht. Dabei sei der Text gar nicht sonderlich anstrengend, dafür aber ärgerlich mit seinen "nebulosen Figuren-Schemen" und der ungefähren Sprache, die "nullassoziativ" alles mit allem verbinde. Und hinter der Erzählerin sei immer - siehe oben - die Autorin zu hören; gemeinsam, schreibt Federmair, bilden sie ein frustriertes "Double der Denunziation" ihrer österreichischen Wirklichkeit. Und was die Technik des inneren Monologs angeht: Schnitzler und Joyce haben's vorgemacht, doch Streeruwitz, urteilt der Rezensent, "verdünnt" es "zum inneren Tratsch über Familie, Freunde, Politik".
© Perlentaucher Medien GmbH
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