Frei nach Lou Reed - "When I'm rushing on my run, and I feel just like Jesus' son" - muß dieses Buch gelesen werden. Denis Johnsons Storysammlung "Jesus' Son", 1992 in den USA erschienen, berichtet von Verwirrung, Leiden und Heilung des jungen Drifters "Fuckhead" und hat den Autor zur lebenden Legende gemacht. Seine Erzählungen aus der amerikanischen Vorhölle sind so ungewöhnlich wie seine Sicht der Dinge, die das Elend der Welt "durch eine Art Schallmauer trägt, und jenseits davon feiert man Freudenfeste" (Padgett Powell). Dies ist eines der herausragenden Bücher der jüngeren amerikanischen Literatur, und es schuf einen Ton, der in zuvor nie gehörter Weise Grauen und Komik, Schrecken und Zärtlichkeit einschließt
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2006Jesus hatte einen Sohn
Verlorene Seelen: Denis Johnsons Erzählungen
Der Erzähler hat keinen Namen, abgesehen von "Saukopp", wie ihn manche nennen, aber wer will so schon heißen. Er hat auch sonst nicht viel, einen nassen Schlafsack, manchmal eine Freundin, fast nie Arbeit und in der Regel wenig Glück. Er ist immer unterwegs, vornehmlich im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Einmal stößt der Wagen der Leute, die ihn am Straßenrand einsammeln, mit einem anderen zusammen, es gibt Tote, wie der Erzähler es geahnt hatte: "Als ich drinnen die süßen Stimmen der Familie hörte, wußte ich, daß wir in dem Unwetter einen Unfall haben würden. Es war mir egal." Ein anderes Mal überfährt ein Freund, den er begleitet, einen Hasen, der den Bauch voller Junger hat, die unser Mann retten will, doch dann in seiner Jackentasche vergißt und irgendwann unbemerkt zerquetscht. Auf die eine oder andere Weise kommt er immer wieder an Pillen, Schnaps, synthetisches Opium, er schluckt, schnupft, raucht, spritzt und trinkt alles, was sich bietet. Wahrscheinlich riecht er schlecht.
Doch das braucht einen Leser nicht zu stören. Er hat den Gewinn davon, daß all die Drogen und jeder vorübergehende Entzug den Grat zwischen Wirklichkeit und Rausch verschoben haben, der jetzt grenzverachtend quer durch beider Gelände verläuft und damit jede Bedeutung verliert. So driftet der Erzähler durch eine Welt von merkwürdiger Schönheit, großem Grauen und ab und zu kleinen Erlösungen, eine Welt, von der wir alles erfahren wollen - wie sie daliegt "unter Wolken wie großen grauen Gehirnen" und dann verschwindet, "alles wegradiert, zusammengerollt wie ein Stück Papier und beiseite gelegt". Nach einem Hagelsturm läuft der Erzähler mit seiner ersten Frau "durch Straßen, in denen fußhoch weiße, leuchtende Steine schwammen", beim Anblick der verlorenen Geliebten eines Freundes singen "alle Gräser Iowas einen, immer nur einen Ton", und er mag es, vorn in der Schnellbahn zu sitzen, die an den Häusern vorbeifegt und ihm Szenen aus Küchen und Wohnzimmern zeigt, die sich gegenseitig auslöschen. Wir sind immer nah dran an Leben und Tod, aber es hört sich verdammt poetisch an.
Denis Johnson, der Autor dieser Erzählungen, die er nach einer Liedzeile aus "Heroin" von Lou Reed "Jesus' Sohn" genannt hat und die sich wie ein Roman in Fragmenten lesen, ist in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland immer bekannter geworden; seine Romane und Erzählungen, teilweise bereits in den achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten erschienen, wurden erst mit einiger Verspätung ins Deutsche übersetzt. Dabei wanderten die Bücher Denis Johnsons durch einige Verlage, Limes war dabei, Suhrkamp, der Alexander Fest Verlag. Inzwischen haben fünf der sechs auf deutsch vorliegenden Bücher Johnsons - die Ausnahme ist die "Wiederbelebung eines Gehängten" - eine Heimat im Rowohlt Verlag gefunden, zumeist im Taschenbuch. Und "Jesus' Sohn", zunächst 1995 bei Suhrkamp erschienen und 2001 aus Anlaß von Alison MacLeans Verfilmung dort im Taschenbuch erneut herausgekommen, ist für eine neue Hardcover-Ausgabe von Rowohlt-Chef Alexander Fest jetzt neu übersetzt worden.
An der alten Übersetzung von Herbert Genzmer war eigentlich nichts auszusetzen, außer daß sie einige überflüssige Anglizismen bemühte - "Zusammenstoß beim Hitchhiken" war dort die erste Erzählung überschrieben, und an einigen Stellen hörte man durch Partizipialkonstruktionen das Englische durch. Neben der Liebe des alten und neuen Johnson-Verlegers Fest zum Autor mag den Ausschlag für die Neuübersetzung gegeben haben, daß der umgangssprachliche Ton, den Genzmer 1995 durchaus textgetreu gefunden hatte, inzwischen an einigen Stellen ein wenig überholt klingt.
In Fests Übersetzung wird also aus "Fuckhead" - Genzmer hatte den Spitznamen des Erzählers aus dem Englischen übernommen - der "Saukopp", was für den Angesprochenen kaum angenehmer sein dürfte. Der Unfall in der ersten Erzählung geschieht beim Trampen, nicht mehr beim Hitchhiken, während unser Erzähler in der vorletzten Geschichte früher im "Städtischen Krankenhaus von Seattle" aufwachte, heute aber im "General Hospital". Manchmal bewegt sich Fest weiter vom Original fort, als Genzmer das tat, und bleibt so näher am Rhythmus der Sätze, manchmal korrigiert er auch kleine Ungenauigkeiten ("wir kurvten stundenlang herum, sprichwörtlich", heißt es in der alten Übertragung, wo es natürlich "buchstäblich" heißen muß, wie Fest schreibt), manchmal aber ist er auch umständlicher oder ein wenig ungenau. So hat jeder seine Vorlieben, ohne daß eine Übersetzung die andere wirklich überragte. Die neue gebundene aber sorgt hoffentlich dafür, daß ein paar mehr Menschen diese Geschichten lesen, und sei es, um zu erfahren, daß sich am Ende für all die verlorenen Seelen, mit denen wir unterwegs waren, sehr zur Verblüffung des Erzählers doch noch ein Platz in dieser Welt gefunden hat.
Denis Johnson: "Jesus' Sohn". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alexander Fest. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 144 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verlorene Seelen: Denis Johnsons Erzählungen
Der Erzähler hat keinen Namen, abgesehen von "Saukopp", wie ihn manche nennen, aber wer will so schon heißen. Er hat auch sonst nicht viel, einen nassen Schlafsack, manchmal eine Freundin, fast nie Arbeit und in der Regel wenig Glück. Er ist immer unterwegs, vornehmlich im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Einmal stößt der Wagen der Leute, die ihn am Straßenrand einsammeln, mit einem anderen zusammen, es gibt Tote, wie der Erzähler es geahnt hatte: "Als ich drinnen die süßen Stimmen der Familie hörte, wußte ich, daß wir in dem Unwetter einen Unfall haben würden. Es war mir egal." Ein anderes Mal überfährt ein Freund, den er begleitet, einen Hasen, der den Bauch voller Junger hat, die unser Mann retten will, doch dann in seiner Jackentasche vergißt und irgendwann unbemerkt zerquetscht. Auf die eine oder andere Weise kommt er immer wieder an Pillen, Schnaps, synthetisches Opium, er schluckt, schnupft, raucht, spritzt und trinkt alles, was sich bietet. Wahrscheinlich riecht er schlecht.
Doch das braucht einen Leser nicht zu stören. Er hat den Gewinn davon, daß all die Drogen und jeder vorübergehende Entzug den Grat zwischen Wirklichkeit und Rausch verschoben haben, der jetzt grenzverachtend quer durch beider Gelände verläuft und damit jede Bedeutung verliert. So driftet der Erzähler durch eine Welt von merkwürdiger Schönheit, großem Grauen und ab und zu kleinen Erlösungen, eine Welt, von der wir alles erfahren wollen - wie sie daliegt "unter Wolken wie großen grauen Gehirnen" und dann verschwindet, "alles wegradiert, zusammengerollt wie ein Stück Papier und beiseite gelegt". Nach einem Hagelsturm läuft der Erzähler mit seiner ersten Frau "durch Straßen, in denen fußhoch weiße, leuchtende Steine schwammen", beim Anblick der verlorenen Geliebten eines Freundes singen "alle Gräser Iowas einen, immer nur einen Ton", und er mag es, vorn in der Schnellbahn zu sitzen, die an den Häusern vorbeifegt und ihm Szenen aus Küchen und Wohnzimmern zeigt, die sich gegenseitig auslöschen. Wir sind immer nah dran an Leben und Tod, aber es hört sich verdammt poetisch an.
Denis Johnson, der Autor dieser Erzählungen, die er nach einer Liedzeile aus "Heroin" von Lou Reed "Jesus' Sohn" genannt hat und die sich wie ein Roman in Fragmenten lesen, ist in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland immer bekannter geworden; seine Romane und Erzählungen, teilweise bereits in den achtziger Jahren in den Vereinigten Staaten erschienen, wurden erst mit einiger Verspätung ins Deutsche übersetzt. Dabei wanderten die Bücher Denis Johnsons durch einige Verlage, Limes war dabei, Suhrkamp, der Alexander Fest Verlag. Inzwischen haben fünf der sechs auf deutsch vorliegenden Bücher Johnsons - die Ausnahme ist die "Wiederbelebung eines Gehängten" - eine Heimat im Rowohlt Verlag gefunden, zumeist im Taschenbuch. Und "Jesus' Sohn", zunächst 1995 bei Suhrkamp erschienen und 2001 aus Anlaß von Alison MacLeans Verfilmung dort im Taschenbuch erneut herausgekommen, ist für eine neue Hardcover-Ausgabe von Rowohlt-Chef Alexander Fest jetzt neu übersetzt worden.
An der alten Übersetzung von Herbert Genzmer war eigentlich nichts auszusetzen, außer daß sie einige überflüssige Anglizismen bemühte - "Zusammenstoß beim Hitchhiken" war dort die erste Erzählung überschrieben, und an einigen Stellen hörte man durch Partizipialkonstruktionen das Englische durch. Neben der Liebe des alten und neuen Johnson-Verlegers Fest zum Autor mag den Ausschlag für die Neuübersetzung gegeben haben, daß der umgangssprachliche Ton, den Genzmer 1995 durchaus textgetreu gefunden hatte, inzwischen an einigen Stellen ein wenig überholt klingt.
In Fests Übersetzung wird also aus "Fuckhead" - Genzmer hatte den Spitznamen des Erzählers aus dem Englischen übernommen - der "Saukopp", was für den Angesprochenen kaum angenehmer sein dürfte. Der Unfall in der ersten Erzählung geschieht beim Trampen, nicht mehr beim Hitchhiken, während unser Erzähler in der vorletzten Geschichte früher im "Städtischen Krankenhaus von Seattle" aufwachte, heute aber im "General Hospital". Manchmal bewegt sich Fest weiter vom Original fort, als Genzmer das tat, und bleibt so näher am Rhythmus der Sätze, manchmal korrigiert er auch kleine Ungenauigkeiten ("wir kurvten stundenlang herum, sprichwörtlich", heißt es in der alten Übertragung, wo es natürlich "buchstäblich" heißen muß, wie Fest schreibt), manchmal aber ist er auch umständlicher oder ein wenig ungenau. So hat jeder seine Vorlieben, ohne daß eine Übersetzung die andere wirklich überragte. Die neue gebundene aber sorgt hoffentlich dafür, daß ein paar mehr Menschen diese Geschichten lesen, und sei es, um zu erfahren, daß sich am Ende für all die verlorenen Seelen, mit denen wir unterwegs waren, sehr zur Verblüffung des Erzählers doch noch ein Platz in dieser Welt gefunden hat.
Denis Johnson: "Jesus' Sohn". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alexander Fest. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 144 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Gewinn hat Rezensentin Verena Lueken diese Erzählungen gelesen, die ihren Informationen zufolge zuerst 1995 auf Deutsch erschienen und nun von Alexander Fest neu übersetzt und ediert worden sind. Als Hintergrund der Neuedition vermutet die Rezensentin nicht nur Verlegerliebe, sondern auch die Tatsache, dass der umgangssprachliche Ton der alten Übersetzung an manchen Stellen schon "ein wenig überholt" geklungen habe. Allerdings findet sie Fests Bemühungen nicht in jedem Fall der alten Übersetzung überlegen. Nur dort, wo er sich freier mit dem Original auseinandersetzt, treffe er den Ton des Originals genauer. Dennoch hofft sie, dass jetzt "ein paar mehr Menschen diese Geschichten lesen". Denn die hier geschilderte Welt sei von "merkwürdiger Schönheit", der Grat zwischen Wirklichkeit und Rausch verschoben. Für den Titel dieser Geschichten sei eine Liedzeile aus Lou Reeds Song "Heroin" verantwortlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Eine Prosa von erstaunlicher Kraft und Schönheit. Philip Roth