Joseph Ratzinger entscheidet sich bei seinem Jesusbuch für den Glauben an die menschliche und göttliche Natur Jesu und gegen wichtige Erkenntnisse der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments. Sein oberstes Ziel ist es, Jesus von dessen "Gemeinschaft mit dem Vater her" darzustellen,
ohne die man "nichts verstehen" könne und von der her "er uns auch heute gegenwärtig" werde (S. 12).…mehrJoseph Ratzinger entscheidet sich bei seinem Jesusbuch für den Glauben an die menschliche und göttliche Natur Jesu und gegen wichtige Erkenntnisse der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments. Sein oberstes Ziel ist es, Jesus von dessen "Gemeinschaft mit dem Vater her" darzustellen, ohne die man "nichts verstehen" könne und von der her "er uns auch heute gegenwärtig" werde (S. 12). Ratzinger lehnt die moderne historisch-kritische Bibelauslegung in ihrer extremen Ausdifferenziertheit ab und schließt sich dem katholischen Exegeten Rudolf Schnackenburg an, der schon vor Jahrzehnten resigniert festgestellt hat, dass sich eine abgesicherte Darstellung der historischen Jesusfigur auf dem Weg der historisch-kritischen Exegese "kaum oder nur unzulänglich" erreichen lasse (S. 12). Dennoch legt Ratzinger ein Bekenntnis zur historisch-kritischen Methode ab (sie sei "unverzichtbar", S. 15) und er greift in seinem Werk immer wieder auf Ergebnisse dieser theologischen Disziplin zurück (vgl. zu den Problemen, die hierbei auftreten: Gerd Lüdemann: „Das Jesusbild des Papstes. Über Joseph Ratzingers kühnen Umgang mit den Quellen“, Springe 2007). Die Lücken, welche die extrem ausdifferenzierte Forschung lässt, füllt Ratzinger mit Bruchstücken der katholischen Glaubenstradition auf, was das Endprodukt recht glatt und widerspruchsfrei erscheinen lässt. Dennoch ist Ratzingers "Jesus von Nazareth", kein reines Glaubenswerk. Vielmehr handelt es sich um ein dogmatisch inspiriertes Jesusbuch, dessen Autor die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese eklektisch rezipiert hat.
Gerade angesichts der aktuellen Debatte um die ambivalenten Haltung Ratzingers gegenüber der Pius-Bruderschaft, deren Vertreter teilweise antisemitisch eingestellt sind, lohnt sich eine Betrachtung seines Umgang mit dem „Alten Testament“, bzw. den Schriften der jüdischen Bibel. Ratzinger betrachtet verschiedene alttestamentliche Stellen als Christuszeugnis. So schreibt er über das Buch Deuteronomium, dass sich darin „eine Verheißung [finde], die von der messianischen Hoffnung anderer Bücher des Alten Testaments durchaus verschieden, aber für das Verständnis der Gestalt Jesu von entscheidender Bedeutung“ sei (S. 26). Es liegt der Schluss nahe, dass es sich beim Judentum um eine defizitäre Religion handeln müsse, da die Anhänger dieses „alten“ Glaubens noch nicht erkannt haben, dass der erwartete Messias mit Jesus Christus erschienen sei.
Ratzingers Werk mag konservativen katholischen Christen Trost spenden, weil Ratzinger es gelungen zu sein scheint, ein Jesus-Buch zu schreiben, das Glaube mit Vernunft versöhnt. Bei näherer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass neben der wissenschaftlichen Vernunft auch die Toleranz leidet, wenn dem Glauben ein Primat eingeräumt wird.